Ronald Willmann: Modellversuch Chemnitz/Leseprobe

Vernichtung

I

Oh, Scheiße, ich kann nicht mehr! Hilfe, verdammt! Ist denn niemand hier?“

Er wollte seinen ganzen Zorn in die einsame Stille des Abends hinausschreien. Zorn, gepaart mit Angst und Schmerzen, die einzigen Empfindungen, die in ihm tobten. Doch es blieb bei einem lauten Stöhnen, welches über seine Lippen kam und allmählich verebbte.

Hoffnung?

Stirbt bekanntlich zuletzt.

Wer weiß, vielleicht war er also schon tot. Es fiel ihm immer schwerer, den Strohhalm auszumachen, an den man sich bis zuletzt klammern konnte. Zu lange wartete er vergeblich, dass ihm jemand half.

War er tatsächlich schon so weit, den eigenen Tod als Alternative zu dem anzusehen, was er durchmachte? Sicher nicht, wenn bereits die Rettung nahte, er sich noch einigen unangenehmen Behandlungen unterziehen müsste und anschließend das Ganze ausgestanden wäre. Er hatte noch so viel vor, da müsste man ein schmerzhaftes Intermezzo, auch wenn es sich eine Weile hinzog, nicht gleich gegen den Tod als finale Erlösung eintauschen. Wenn, ja, wenn tatsächlich Rettung kam! Irgendwann, Zeit war relativ und momentan gerade nicht sehr schön, aber Hauptsache, sie tauchte rechtzeitig auf. Doch woher? Wer sollte sie schicken, von wem sollten professionelle Retter wissen, dass er sie dringend benötigte und dass er ausgerechnet in diesem gottverlassenen Winkel lag?

Wenn also ohnehin niemand kam, ihm zu helfen, warum also nicht gleich …

Bullshit! Realistisch betrachten konnte er in seiner Lage gar nichts und außerdem brauchte er sich nicht einzubilden, dass seine Meinung gefragt wäre und er zwischen verschiedenen Alternativen wählen könnte.

Der Nachhall seiner Verzweiflung wirbelte an dem langsam tropfenden Blut vorbei und er wusste, dass niemand ihn hören konnte. Erst recht niemand, der sich seiner Wünsche annahm. Ja, in diesem Moment, kurzsichtig gedacht, hätte er vermutlich nichts dagegen gehabt, wenn sich das Leben – der Rest, der übrig geblieben war – aus seinem geschundenen Körper verabschieden würde. Als notgedrungen zu zahlender Preis für die Gegenleistung, keine Schmerzen mehr erdulden zu müssen. Wenig vorausschauend und nicht sehr ausgereift, aber es würde für ihn bedeuten, dass die Pein ein Ende hätte.

Nein, er wollte leben. Es konnte nicht zu Ende sein. Nicht so abrupt, so wenig vorhersehbar. Das durfte nicht sein! Wie viel Zeit war vergangen, seit er um sein Leben gefleht hatte, weil ihm keine andere Möglichkeit blieb, es aus eigener Kraft festzuhalten? Als die Selbstsicherheit und sein Überlegenheitsgefühl zuerst Wut und Angriffslust, später aber, unter den fortwährenden Tritten und Schlägen, purer Angst gewichen waren.

Nein, nicht, verdammt noch mal hört auf, hört endlich auf! Warum lasst ihr mich nicht in Ruhe?“

Weinerliche Verzweiflung, frei von jedweder Selbstachtung. Doch auch die Selbsterniedrigung half ihm nichts. Keine Reaktion außer einem höhnischen Grinsen.

Ich habe euch doch nichts getan!“

Für ihr Opfer hatten sie kein Wort übrig. Nur Schläge, Hiebe, Tritte, immer und immer wieder.

Wimmern, Schreien, Flehen und Fluchen als Antwort. Er wollte nicht sterben und er wollte nicht länger Schmerzen zugefügt bekommen. Der Überlebenswille ließ ihn seinen ganzen Stolz vergessen. Er wandte und krümmte sich, gefangen ohne Ausweg in einem übermächtigen Kreis gewissenhafter Knochenbrecher und Gesundheitsvernichter. Immer wieder stießen sie ihn in ihre Mitte zurück, damit keiner der Umstehenden von der Aktion ausgeschlossen wurde. Keine Chance zu fliehen, keine Möglichkeit zur Gegenwehr. Die Zeit der Chancen und Auswege war vorbei, unumkehrbar abgelöst von der Ära der Vernichtung. Für ihn hatte nur noch das nackte Leben gezählt. Würde, Macht und Gerechtigkeitsgefühl wurden unter den brutalen Tritten im Dreck des aufgewühlten Bodens begraben.

Jetzt, nachdem seine Peiniger längst fort waren, hatte selbst das Leben etwas von seiner hohen Bedeutung verloren. Es sollte einfach vorbei sein, die Schmerzen, die Hilflosigkeit, die Verzweiflung.

Wie viele Schmerzen ein Mensch wohl ertragen kann?

Die Antwort ist so banal wie grausam: So viele, bis er tot ist. Das konnte noch ein ganzes Weilchen dauern. Dies schien ihm ein unbarmherziges Schicksal zuzuraunen, während er sich wiederholt diese Frage stellte. Aber wann ist denn das Maß des Leidens endlich voll? Es musste doch irgendwann einmal vorbei sein! Und was kommt danach, wenn die Schmerzen tatsächlich ausgestanden sind?

Seine Lebensuhr lief weiter. Das Schicksal spielte mit ihr, sah zu, wie ihr Sand verrann, um sie schließlich für einen Augenblick anzuhalten. Aber nicht, um Rettung zu bringen, sondern nur, damit es die Leiden ein weiteres Mal vergrößern konnte. Erbarmen war ihm fremd, persönliches Leid bedeutete dem Schicksal nichts.

Gott? Manche Leute nannten es wohl so und sie meinten, wenn dieser sich abwandte und allerlei erdenkliche Grausamkeiten zuließ, dass das eine auferlegte Prüfung sei. Ein Scheiß war es, verdammt!

Er hatte seinen Glauben verloren, während er hier lag. Sein Alltag kannte keine wirkliche religiöse Bindung. Lediglich in Notsituationen erinnerte er sich mitunter daran, dass ein Gebet vielleicht helfen oder zumindest nicht schaden könnte, dass es womöglich doch einen Gott gab, der für so etwas zuständig ist. In aller Stille und diskret wandte er sich dann an ihn, so, als ob es ihm ein wenig peinlich sei. Musste keiner mitkriegen, dass er, der Intellektuelle und Aufgeklärte, auf einmal einen solchen Hokus-pokus pflegte! War die Sache erledigt, ob nun dank oder trotz seines Anflehens höherer Mächte, verschwand Gott sang- und klanglos aus seinem Bewusstsein. Er vergaß ihn schlichtweg, denn in guten Zeiten kam er auch ohne ihn ganz gut zurecht. Wozu sollte man an die unbewiesene Macht eines vermeintlich höheren Wesens appellieren, wenn man es nicht brauchte?

Gott hatte ihm nicht geholfen. Obwohl er sich auch diesmal an ihn und ihr eher lockeres Verhältnis erinnert hatte. ´Hey, du da oben, Gott, jetzt könnte ich echt deine Hilfe brauchen! Ich weiß, ich bin nicht einer deiner treuesten Gefolgsleute und ich will auch nicht allzu oft was von dir. Aber nun haben wir einen dieser seltenen Fälle, da könntest du ausnahmsweise was für mich tun! Das, was mir widerfahren ist, kannst du doch nicht zulassen, das kann nicht in deinem Sinne sein, oder? Wie gesagt, ich nehme dich und deine kostbare Aufmerksamkeit sonst bestimmt nicht oft in Anspruch. Und ich verspreche, ich denke künftig nicht nur an dich, wenn es mir schlecht geht. Ja, ich würde sogar regelmäßig beten, ehrlich, es ist mir Ernst!´ (Todernst sogar). So ungefähr würden seine stummen Hilferufe wohl klingen. Er hätte alles getan. Doch auch von dort, was er als oben ansah und für ihn eigentlich nicht mehr als der berühmt-berüchtigte Strohhalm war, kam keine Hilfe. Zwecklos, darauf zu warten. Warum auch immer.

Hätte er Gott nicht nur als Notnagel betrachten sollen? Kurz dachte er daran, als es für diese Art der Reue offensichtlich zu spät war. Verdammt, jetzt betrachtete er diese ominöse Über-Figur schon als real existent! Der da oben, rein hypothetisch betrachtet, kannte ihn entweder nicht, oder er fand, es geschähe ihm ganz recht. Gottes Wille geschehe, und er ist unergründlich, so sagte man. Oder aber es gab ihn nicht. Hatte er sich schon immer gedacht. Scheiße, gottverdammte! Trost oder Hilfe brachte ihm das keineswegs. Nicht mal das Lebenslicht konnte der ihm ausblasen, wenn er selbst schon fast soweit war, diesen letzten Akt der Erlösung anzunehmen. Und das sollte Allmacht sein?

Ein Tunnel voller Licht, durch den man sanft hindurchgleitet, in dem man nichts weiter spürt als Frieden und Geborgenheit – wurde nicht so ähnlich der Tod beschrieben? Er hatte davon gehört, mag es nun in Science-Fiction-Filmen oder in pseudowissenschaftlichen Reportagen über Grenzerlebnisse gewesen sein. Jetzt fielen ihm diese Schilderungen wieder ein. Ob nun gefaked oder echt, das klang jedenfalls gar nicht so übel für jemanden in seiner Situation. Doch es lag eben nicht in seiner Macht, in dieses vermeintliche Paradies zu kommen. Selbst wenn er tatsächlich bereit gewesen wäre, den letzten Schritt selbst zu vollziehen – er hätte es nicht gekonnt.

Die Tränen in den kastanienbraunen Augen, die so eindringlich schauen konnten, dazu das verkrustete Blut im Gesicht und in seinen dunkelbraunen, stylisch gegelten Haaren, ließen ihn nicht den kleinsten Lichtschimmer erblicken. Wahrscheinlich gab es auch keinen, hier in der verlassenen Einöde einer stillgelegten Fabrik am Waldrand. Ein ehemaliges Beton-Recyclingwerk, umgeben von Buschwerk, Bäumen und einem Feldrain, umrahmt von zerbröckelten Säulen, an denen nur stückweise ein verrosteter Drahtzaun hing. Betreten verboten – Lebensgefahr stand auf halb verblichenen Schildern. Herrliche Ironie, sonst ganz nach seinem Geschmack. Zerfallene Betonelemente lagen verstreut, Reste von Gebäuden standen zwischen der wiedererstarkten Natur, die sich anschickte, ihr Terrain zurückzuerobern. Schwarze, rechteckige Höhlen an den Wänden der Ruinen kennzeichneten die Stellen, wo einst Fenster hingen. Sie schienen sich Mühe zu geben, dem leeren Verfall eine irgendwie geheimnisvolle Aura zu verleihen, obwohl es im Inneren nichts gab, was eines Blickes wert gewesen wäre. Seit einigen Jahren wurde das Betonwerk nicht mehr gebraucht, die Fabrik war zu klein für den Bauboom und eine Erweiterung wegen des benachbarten Landschaftsschutzgebietes nicht möglich. So wurde es stillgelegt und an verkehrsgünstigerer Stelle in vergrößerten Dimensionen neu errichtet. Das alte Werk verkam zu einem morbiden Wrack des Fortschritts, der sich selbst überholte, ein Stück sterbende Zweckarchitektur, in dessen Innerem jetzt ein Mensch im Sterben lag. Man hatte das Werk seinerzeit weitab von der nächsten Siedlung gebaut, damit die Leute nicht das ohrenbetäubende Stampfen der Bohrhämmer, Mahlwerke und Walzen hörten.

Es hörte auch niemand seine Schreie, die er – wie lange wohl schon? – ausstieß, bis er immer wieder kraftlos aufgab und nach Luft röchelte. Irrige Hoffnung, dass hier irgendjemand etwas von ihm mitkriegte. Aber die einzige, die ihm blieb. Irgendwann musste doch jemand hier vorbeikommen, er befand sich schließlich nicht im menschenleeren Dschungel oder am Nordpol! Handy hatten sie ihm natürlich abgenommen und aufstehen, selbst kriechen, ging nicht. Verzweifelt schob er seine Hand aus dem Ärmel der dunkelgrünen Fleecejacke und krallte sie in ein dürres Grasbüschel zu seiner rechten Seite, als ob ihn das weiterbringen könnte. Doch sobald er den Arm auch nur ein wenig bewegte, bohrte sich ein Stechen wie von einem Messer den Weg durch seinen Körper bis ins Hirn. Die Nervenbahnen, die den Schmerz von seinem Ausgangsort ans Gehirn übertrugen, waren intakt, auch wenn es ansonsten kaum heile Stellen an ihm gab. Er wälzte sich ächzend zwischen dürrem Gras, kleinen Ästen und Nadeln auf dem Boden; unfähig, seiner Notlage zu entkommen oder sie auch nur etwas zu lindern.

Sie hatten ganze Arbeit geleistet. Systematisch, emotionslos, zielstrebig – nicht auf seine Schreie, sein Flehen achtend. Sie mussten ihren Job erledigen. Ob es ihnen Spaß machte, einen Wehrlosen zusammenzuschlagen und zu treten, hätte man kaum sagen können. Still, leidenschaftslos, sich einander abwechselnd, denn das ständige Zutreten kostete Kraft, so hatten sie ihn zerstört. Seinen Körper, seinen Willen, seinen Stolz, alles an und in ihm. Ganz an den Anfang der Evolution hatten sie ihn zurückgetreten, auf die Stufe, als das Daseinsbewusstsein der Kreaturen aus nichts anderem bestand als instinktivem Überlebenswillen.

Könnte ihn nicht wenigstens eine erlösende Ohnmacht umfangen! Nie konnte er verstehen, warum im Film Schwerverletzte auf keinen Fall ohnmächtig werden durften. Stets kniete jemand an ihrer Seite, ohrfeigte oder schüttelte sie und schrie: „Nein, du darfst nicht einschlafen, bleib wach, schlaf nicht ein, hörst du, du musst unbedingt wach bleiben!!“

Und die Filmprotagonisten versuchten mit gebrochenem Blick und zusammengekniffenen Lippen, dem Befehl folge zu leisten. In der Regel gelang ihnen das, zumindest im Privatfernsehen. Bei Arte oder 3Sat schafften sie es trotz aller Bemühungen nicht immer. Das war dann meist das Letzte in ihrem Leben, was sie nicht auf die Reihe kriegten.

Warum zum Teufel mussten sie ihr Leiden unbedingt im Wachzustand miterleben? Was konnte ihnen in dem Moment, der ihnen die Schmerzen ins Gesicht meißelte, besseres passieren als eine Ohnmacht? Diese Fragen befielen ihn, gemütlich entspannt auf der Couch hockend, und er versuchte sich vorzustellen, wie er – in einer realen Situation – wohl reagieren würde. Dabei musste er sich eingestehen, dass er möglicherweise nicht diesen unbändigen Willen hätte aufbringen können, um ungeachtet aller Schmerzen bewusst an seinem Wachzustand festzuhalten. Den Schauspielern, die das gemäß der Regieanweisung schafften, wäre das im wahren Leben vielleicht ebenso wenig gelungen, wer weiß.

Ihn selbst betreffend hatte er richtig gelegen mit seiner Vermutung, das wusste er nun. Aber die Ohnmacht wollte nicht über ihn kommen. „Hier, nimm mich, ich bin bereit, ich werde mich bestimmt nicht dagegen wehren!“ Fehlanzeige mit dieser Form der Erlösung.

In einem gottverfluchten Film passierte vielleicht so ein Wunder. Er würde gefunden und gerettet werden, zu Bewusstsein kommend in den weißen, sauberen Laken eines Krankenhauses, den Duft von Desinfektionsmitteln als erste Wahrnehmung spürend und die Schmerzen durch Medikamente ausgeblendet. Er versuchte, daran zu glauben. Dummerweise war er kein Schauspieler in einem Film, den er sich nie anschauen würde, weil er viel zu unrealistisch war. Das Drehbuch seines momentanen Lebens zielte nicht auf Breitenwirkung beim Publikum ab.

Wenn es schon mit der kitschigen, filmreifen Rettung nichts wird, dann eben von der erträumten Ohnmacht in den ewigen Schlaf hinüber gleiten. Daraus würde es kein Zurück in den Schmerz mehr geben, er wäre erlöst von allem Leiden. Er wollte diesen Gedanken nicht denken, doch er überkam ihn von ganz allein. Sein Überlebenswille wehrte sich dagegen. Die Trostlosigkeit seiner Lage brachte ihn immer wieder ins Spiel. Welch ein Zynismus! Moment mal, Zynismus. War der ihm nicht stets zu eigen gewesen? Viele Leute schätzten ihn als geistreich, andere verschreckte er damit. Womöglich waren dieser Zynismus und seine darauf basierende Lebenseinstellung nicht ganz schuldlos an der jetzigen Situation. Nichts konnte deren Ausweglosigkeit unmittelbarer widerspiegeln als so viel ehrliche Selbstkritik. Nieman-dem konnte er etwas vormachen, nicht einmal mehr sich selbst.

Bestimmt war er in den vergangenen Stunden schon einige Male ohnmächtig geworden, doch die Schmerzen zerrten ihn stets ins Bewusstsein zurück. Mit Sicherheit waren beide Arme gebrochen, sein Leib litt nach wie vor unter den vielen Tritten mit den Stahlkappen-Schnürstiefeln, ein Knöchel schien ebenfalls gebrochen zu sein. Eine mächtige Faust drückte wie ein Sandsack auf seine Lungen – sehr wahrscheinlich waren einige Rippen zersplittert. Das Atmen fiel ihm schwer. Mit der kleinsten Bewegung kamen neue Schmerzen hinzu, doch auch, wenn er ganz ruhig lag, seltsam verkrampft und zusammengekrümmt, war es kaum auszuhalten. Er versuchte, die besonders schmerzenden Körperteile zu entlasten, doch es gelang ihm kaum. Wie lange das wohl schon so ging? Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Viele Stunden, eine kleine Ewigkeit oder doch kaum eine halbe Stunde? Ihm kam es vor, als läge er bereits sein halbes Leben hier, in dieser Pfütze aus Matsch, Blut und Urin. Nicht nur seinem eigenen, als sich die Blase im panischen Angstzustand unkontrollierbar entleerte. Seine Peiniger hatten zu guter Letzt auf ihn gepisst. Natürlich erst nach den Schlägen und Tritten, denn sie wollten sich nicht die Hände oder ihre liebevoll gewienerten Springerstiefel mit ihrer eigenen Pisse ruinieren.

Das halbe Leben – welch makabrer Gedanke! Wenn nicht bald etwas passierte, könnte sein Leben schon nach der Zeit, die laut statistischer Lebenserwartung bei Weitem nicht als die Hälfte angesehen werden musste, zu Ende gehen. Zu Ende gebracht von den Leuten, die er belächelt hatte in seiner Überlegenheit; eine dumpfe Masse, die nicht ernst zu nehmen war, wie er glaubte. Von der er durchaus wusste, dass sie gewalttätig sein konnte. Aber doch nicht ihm, der ihr so haushoch überlegen schien! Feiglinge, die sich nur in der Masse stark fühlten. Er wollte sie einzeln auseinandernehmen, mit seinen Waffen und auf seinem Schlachtfeld. Er wollte sie studieren, diese Masse, im Glauben, sie sich auf dem intellektuellen Seziertisch zurechtlegen zu können. Er konnte oder wollte es nicht wahrhaben, dass er selbst zurechtgelegt wurde, dass er das Studienobjekt war, dessen Absichten sie längst kannten. In was für einen Alptraum war er nur geraten!

II

Deutschland den Deutschen.

Nationalsozialistischer Untergrund.

Kriminelle Ausländer raus; das vorangestellte Adjektiv betont klein geschrieben, es war ohnehin nur juristische Kosmetik, für die tatsächliche Botschaft nicht wichtig. Hämmernde Schritte in Springerstiefeln über das Pflaster gutbürgerlicher Märkte und beschaulicher Innenstädte. Passanten schauten sich mehr verwundert als empört nach der bulligen Demonstration nationalistischer Großmannssucht um.

Angst, Erschrecken.

Verwirrung im biederen Alltag.

Immerhin, sie benehmen sich einigermaßen ordentlich, sie tun uns ja nichts.“

Langsames Umdenken, als in den dicht geschlossenen Reihen erste Übergriffe auf Geschäfte und Mitbürger ihren Ausgang nahmen. Scheiben klirrten, Autos brannten oder bekamen die Reifen zerstochen, Hassparolen warfen einen dunklen Schatten über die heile Schaufensterwelt. Flüchtlinge ebenso wie bekennende Juden, der vietnamesische Gemüsehändler wie auch der kurdische Imbissbetreiber, sogar der freundliche aus Kuba stammende Orthopäde, dem man kaum noch seinen hispanischen Dialekt anhörte. Sie alle passten nicht ins Schema der nationalchauvinistischen Horden. Es spielte keine Rolle, ob sie sich seit Jahren nach den Vorstellungen der saturierten deutschen Gesellschaft integriert hatten oder an der Sozialtitte des Staates schmarotzten. Ob sie mit ihren Gewerbesteuern die Stütze für die Springerstiefelträger mitfinanzierten oder Drogen an minderjährige Junkies vertickten. Das Feindbild richtete sich nach Äußerlichkeiten, auch wenn es die dahinter stehende Propaganda anders glauben machen wollte. Doch es betraf ja die Außenseiter in der kleinbürgerlichen Gesellschaft. Leute, die man achtete und freundlich grüßte, man wusste, was sich gehörte, aber die man nicht sonntags in der Kirche, nicht am Stammtisch und auch nicht im Geflügelzüchterverein oder Kegelklub traf. Es waren die Anderen, die, die nicht dazugehörten, selbst wenn sie längst hierher gehörten.

Die können doch froh sein, dass sie hier sein dürfen, was wollen sie denn mehr? Keiner hat was gegen die, solange sie sich ordentlich benehmen.“

Wenn jemand etwas gegen sie hatte, dann hatten sie sich wahrscheinlich nicht ordentlich benommen, so die einfache Logik. Still zufrieden nickte man hinterm Vorhang dem großspurigen braunen Mob zu. Manchmal sogar direkt vom Straßenrand. Endlich jemand, der unsere Sorgen ausspricht, dafür braucht man sich nicht zu schämen! Die Politiker tun ja nichts.

Dann die Morde. Es blieb nicht bei Pflastersteinen und Hassparolen. Die Fratze der Gewalt bekam ein immer hässlicheres Antlitz. Nun geriet ein ganzes Land in Aufregung, wie bürgerliche Politiker in medienwirksamer Betroffenheit feststellten, ohne dass sie tatsächlich das ganze Land kannten.

Der Aufstand der Anständigen. Wer nun sitzen blieb, war unanständig. Der Rechtsextremismus greift um sich, frohlockten die Medien voller Sensationsgier. Neonazis mit bürgerlicher Fassade hielten Einzug in die Parlamente, während ihre Handlanger die schmutzige Arbeit verrichteten. Die Neuzeit-Arier benutzten die Demokratie, um ihrer angestrebten Diktatur des reinen treudeutschen Volksglaubens näher zu rücken. Hatten sie es erst geschafft, dann scheiß auf die Demokratie! Die hat uns das ganze Übel mit den Ausländern schließlich eingebrockt!

Er verfolgte diese Entwicklung als Reporter einer regionalen Tageszeitung hautnah. Verächtliches Lächeln brachte er dafür auf, nicht mehr. Was war das für ein Haufen, der die Ideen eines an seiner eigenen Grausamkeit und Machtgier gescheiterten tausendjährigen Reiches, welches sich keine 15 Jahre halten konnte, übernehmen und in die moderne Politik einbringen wollte!

Denn sie wissen nicht, was sie tun. Und sie sind zu dumm, um das zu kapieren.“ So hatte er im Kollegenkreis das befremdliche Treiben umschrieben. Er, Arne Heller, der aufgehende Stern am lokalen Medienhimmel, ein gut aussehender junger Mann Ende 20, dem alles gelang, was er anpackte, konnte diese Demagogen nicht ernst nehmen. Ihre platten Attitüden, wenn sie von der ´geistigen und wirtschaftlichen Befreiung des deutschen Volkes´ sprachen, das inhaltsleere Herunterrasseln der Phrasen, mit dem die Kampfhunde der Bewegung die politischen Ergüsse ihrer geistigen Führer wiedergaben, das erlebte er als Lokaljournalist und es führte ihm die ganze Unfähigkeit dieser Leute vor Augen. Sie sorgten sich bei den paar Dunkelbunten, die es hierzulande gab, um eine Islami-sierung des Abendlandes, gingen aber selbst nie in eine Kirche, sondern grölten bestenfalls Wotan hinterher. Merkel muss weg! Aber wer soll kommen? Null Ideen. So etwas sollte eine ernst zu nehmende Kraft oder Gefahr sein? Abartige Idee! Einfach unvorstellbar, unvorstellbar und lächerlich, nichts weiter.

Wie lächerlich kommt uns heute Hitler vor, wenn wir seine Auftritte in alten Aufzeichnungen sehen! Eine Witzfigur, und doch sind ihm die Leute zu Millionen gefolgt, bis in die eigene Vernichtung. Sie haben ihn die Demokratie abschaffen, Konzen-trationslager bauen und einen Krieg vom Zaun brechen lassen. All das von einer Lachnummer der Politik, einem sich selbst karikierenden Psychopathen. Diese Leute, die sich so verblenden und gleichzeitig einschüchtern ließen, die waren nicht dümmer als die Menschen unserer Zeit. Im Gegenteil, damals hatten sie keine so weit reichende Fernsehverblödung wie wir. Das solltest du bedenken!“, riet ihm sein Redakteur.

In der Redaktion nannten sie ihn den Bleistift. Sowohl sein richtiger Name Rolf Bleiser als auch seine hagere, große Gestalt – er überragte Arne Heller um einen halben Kopf – verführten dazu. Der erfahrene Journalist hatte als Kind noch die letzten Kriegsmonate durchgemacht, ohne sie bewusst zu erleben. Von ihm forderte der Führer damals gottlob keine heroische Selbstaufopferung. Er selbst verlangte als kleiner nuckelnder Hosenscheißer genauso wenig von diesem Größenwahnsinnigen, dessen verhängnisvolle Existenz ihm erst viele Jahre später bewusst wurde. Das war zu einer Zeit, als seine Mutter ihm nicht mehr erzählte, sein Papa sei auf einer ganz, ganz langen Reise.

Er fährt mit dem Schiff übers Meer und bereist die Welt“, so erklärte sie ihrem Filius beharrlich die Abwesenheit des Vaters und berichtete von fernen, exotischen Ländern und fremdartigen Menschen, die er dort traf und unter denen er lebte. Ihr Gesicht strahlte dabei. Tapfer überspielte sie mit ihren spannenden, lebendigen Schilderungen von allerlei Abenteuern, die allein ihrer Vorstellungskraft und ihrer Belesenheit entsprangen, die eigenen Ängste.

Mit glänzenden Augen hörte der Junge zu. In seiner Fantasie sah er einen Mann, der sein Vater war, groß gewachsen, mit wildem Bart und entschlossenem Blick, irgendwo in der Welt Heldentaten vollbringen, Kämpfe und Abenteuer bestehen. Dabei dachte dieser Held, der sein Vater sein sollte, immer an seinen kleinen Jungen, der daheim auf ihn wartete.

Irgendwann hatte sie dem kleinen Rolf die Wahrheit erzählt, nachdem sie selber lange Zeit daran glaubte, dass der Vater in einem Kriegsgefangenenlager festsitze. Doch eines Tages, der Krieg war längst vorbei, klingelte ein Mann von der Polizei an ihrem Siedlungshäuschen. Er trug keine Uniform, stellte sich aber mit einem Dienstausweis vor und fragte sie, ob ein gewisser Karl Herbert Bleiser ihr Ehemann gewesen sei.

Wieso gewesen?“, rief die Mutter erschrocken. „Mein Karli ist in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager, es kann nicht mehr lange dauern, dann kommt auch er zurück. Er kommt doch zurück? Sagen Sie es mir, dass er zurückkommt, wenn Sie von der Behörde sind!“, flehte sie ihn an.

Diesen Gefallen konnte ihr der fremde Mann, der sehr höflich und behutsam mit ihr sprach, nicht tun. „Es tut mir leid, gnädige Frau, aber ich habe eine schmerzliche Nachricht für Sie. Ihr Mann lebt nicht mehr. Er starb bereits während des Krieges.“

Die Mutter konnte es nicht fassen. Sie hatte doch nach Kriegsende Briefe von ihm bekommen! Darin schrieb er, dass er nun nicht mehr diesen sinnlosen Kampf kämpfen müsse und hoffe, sie bald wieder zu sehen. Viel mehr stand nicht drin, aber es war unzweifelhaft seine Schrift, mit der er am Schluss stets mit Karli unterschrieben hatte, dem Kosenamen, mit dem sie ihn immer rief. Außerdem wiesen ein Stempel und ein Verschlussstreifen die Briefe als von der amerikanischen Militärverwaltung genehmigte Post aus. Opened by U.S. Army Examiner. Kein Zweifel also, was aus ihrem Mann nach Kriegsende geworden war!

Ihr Mann ist gar nicht in Gefangenschaft geraten. Er ist zu den alliierten Truppen übergelaufen, als sie den Rhein überschritten. Er hat sich für seine Kameraden eingesetzt, wollte sinnloses Blutvergießen verhindern“, erfuhr die Mutter von dem Polizeibeamten in Zivil.

Die kurz gefassten Briefe ohne Jahreszahl im Datum konnten natürlich nicht zugestellt werden, solange der Krieg und die Nazi-Diktatur Deutschland beherrschten. Sie waren, wie sich herausstellte, über Irrwege mit deutlicher Verspätung von der amerika-nischen Kommandantur auf den Postweg gebracht und schließlich bei Karli Bleisers Familie angekommen. Irgendjemandem in der Registratur mussten sie eines Tages in die Hände gefallen sein und, ohne nachzuforschen, wie lange sie schon umherirrten und was aus dem Absender geworden ist, muss dieser Jemand sie wohl auf den Postweg gebracht und damit ein kleines verwaltungstechnisches Problem in seinem Dienstbereich zu seiner Zufriedenheit gelöst haben. Es war nicht die Zeit, um allen Details pedantisch auf den Grund zu gehen. Für die Siegermächte standen nach Kriegsende und der Besetzung Deutschlands ganz andere Dinge im Vordergrund, meist solche, die mit dem nackten Überleben eines ganzen Volkes sowie ihrer eigenen Sicherheit zu tun hatten.

Nun aber erfuhr die Witwe, dass ihr verstorbener Gatte nach seinem Überlaufen für die Westmächte gearbeitet hatte. Mit Flugblättern und Aufrufen wagte er sich hinter die Front, um die deutschen Soldaten, Volkssturm und Hitlerjungen, das buchstäblich letzte Aufgebot, welches in den sicheren Tod geschickt wurde, zum Niederlegen der Waffen zu bewegen. Dabei fiel er, höchstwahrscheinlich durch Verrat derer, die in ihm nicht den Friedensboten, sondern einen Feind sahen, SS-Schergen in die Hände. Sie machten kurzen Prozess mit ihm, hängten ihn in dem Dorf, wo sie ihn fassten, am Giebel einer Scheune auf. „Als Abschreckung für alle, die ebenfalls zum Verräter an der Sache des Führers und der ruhmreichen deutschen Nation werden wollen“, wie sie den verbliebenen Dorfbewohnern, Frauen, Greisen und Kindern, mit drohender Miene klar machten.

Das geschah zu einem Zeitpunkt, als sich der Führer schon nicht mehr selbst um seine ruhmreiche Sache kümmern konnte, weil er eine Giftkapsel der Verantwortung für seine Verbrechen vorgezogen hatte.

Ihr Mann kannte nur ein Ziel: Diesen sinnlosen Krieg zu beenden. Er war sehr tapfer und wusste genau, in welche Gefahr er sich begab“, sagte der Zivilbeamte, während er Rolfs Mutter sanft an den Schultern hielt, ohne ihr damit wirklich Trost spenden zu können.

Sie behielt die Worte in ihrem Gedächtnis und dachte später viel darüber nach.

Irgendwann, nach langem Zögern, erzählte sie es dem Sohn, weil sie meinte, dieser müsse wissen, wofür sein Vater eingetreten und schließlich gestorben war.

Gibt es diese bösen Menschen noch, die meinen Papa tot gemacht haben?“, wollte der damals sechsjährige Rolf wissen.

Nein, die gibt es nicht mehr“, beruhigte ihn die Mutter. „Und wir müssen aufpassen, dass es solche Leute nie, nie wieder gibt.“

Das tat der Sohn dann auch. In seinem Beruf als Journalist wurde er nicht müde, auf die Gefahren durch einen wieder erstarkenden Rechtsextremismus hinzuweisen. Wenn die geistigen Erben der Mörder seines Vaters sich anschickten, ihre Ideen schleichend in der Gesellschaft auszubreiten, wurde er sofort hellhörig.

Wäre das nicht was für dich, über die Hintergründe dieser feinen Gesellschaft zu berichten, nicht nur über die in ihren Pressekonferenzen verlesenen Statements, sondern über ihre eigentlichen Ziele, ihre Verbindungen zu Schlägertrupps, zu Skinheads und verbotenen Organisationen! Ich gebe dir etwas Material dazu, weiter recherchieren kannst du selber. Wenn du irgendetwas brauchst, frag mich. Ich helfe dir dabei.“ Mit diesen Worten konnte Rolf Bleiser seinen jungen Kollegen für das Thema begeistern.

Wenn es einmal nicht nur um belanglose Ortschaftsratssitzungen, Grundsteinlegungen und Taubenzüchter-Vereinssitzungen ging, sondern es etwas Brisantes aufzudecken gab, dann fühlte der sich in seinem Element. Er suchte Herausforderungen, das wusste Rolf Bleiser, der spürte, dass sich sein Schützling offenbar zu höherer Kunst des Journalismus berufen fühlte. So wie jeder, der einmal einen Tennisschläger in die Hand nimmt, insgeheim von Wimbledon träumt, träumte Arne Heller vielleicht seinen eigenen Traum vom Pulitzer Preis. Wenn er ihn als redaktioneller Mitarbeiter für Lokales bei einer regional angesehenen sächsischen Großstadtzeitung auch nie bekommen würde, als Ansporn und Motivation konnte ein solcher Traum durchaus seinen Zweck erfüllen. An eine reale Gefahr für Leib und Leben mochte der alte Medien-Hase nicht glauben. So kam Arne Heller, der junge, souveräne, über den Dingen stehende Reporter, zu einem Recherchethema, welches sein Leben komplett verändern sollte. Und in letzter Konsequenz – nicht nur verändern.