Stefan Tschök: Zwei Reisen in die Provence/Leseprobe

Zwei Reisen in die Provence

 

Die Geschichte, die erzählt werden soll, ist so alltäglich wie ein Regenschauer im April. Ja, mehr noch, beim flüchtigen Hinschauen scheint es, ist sie an Beschaulichkeit und Banalität kaum zu übertreffen. Ist es solch eine banale Geschichte überhaupt wert, zu Papier gebracht zu werden? Und ist sie die Mühen der Suche nach einem Verlag wert? Ist sie es wert, dass sich mehrere Lektoren, die – sollte wirklich ein Verlag gefunden sein – am Ende nicht oder nur wenig zufrieden gestellt werden, mit ihr stunden- und tagelang befassen? Von den wertvollen Ressourcen, die am Ende noch in einer Druckerei verbraucht werden, soll ganz geschwiegen werden.

Die Antwort auf alle diese Fragen ist einfach. Oder besser gesagt sind die Antworten einfach, denn es gibt zwei, die dafür sprechen, den Helden dieser Geschichte ein einfaches Denkmal zu setzen. Die erste Antwort findet sich in der jedem einleuchtenden Tatsache, dass es auch Beschaulichkeit und sogar Banalität durchaus verdient haben, ein bescheidenes Denkmal gesetzt zu bekommen. Denn wenn man sich den Alltag besieht, so wird man schnell feststellen, dass er wohl zu fast einhundert Prozent aus der Wiederkehr des Einfachen, des Banalen und auch des Beschaulichen besteht. Gibt es also auch nur einen triftigen Grund, so zu tun, als wenn das Leben des Menschen von Spannung und Abwechslung nur so sprühen würde? Es gibt ihn nicht.

Die zweite Antwort auf die Frage, warum diese Geschichte zu Papier gebracht worden ist, geht dann doch tiefer. Dazu ist es notwendig, den Blick noch einmal ein paar Zeilen nach oben zu lenken. Ja, richtig, bis an die Stelle etwa, an der geschrieben steht, dass diese Geschichte beim flüchtigen Hinschauen an Beschaulichkeit und Banalität kaum zu übertreffen ist. Aha, es scheint also nur auf den ersten Blick eine banale und beschauliche Geschichte zu sein. So liegt die Begründung für das Aufschreiben dieser Geschichte also auch darin, dass sie gar nicht so tröge ist, wie sie auf den ersten Blick scheint.

Wohlan, so sei denn eine mehr oder weniger banale Geschichte erzählt, die – darin besteht sowohl der Reiz als auch die Gefahr – den Leser schon bald in ihren Bann ziehen wird. Und im Mittelpunkt dieser Erzählung, es konnte gar nicht anders sein, steht ein Mann, der an Durchschnittlichkeit wirklich kaum zu übertreffen sein dürfte.

Im Jahre 2013, unser Held war damals Mitte 50, begann er, Camus zu lesen. Ja, die Rede ist von Albert Camus, dem 1913 geborenen und bereits im Alter von 47 Jahren bei einem Autounfall tödlich verunglückten Schriftsteller. Bis dahin war Camus für ihn ein Name gewesen. Drei Mal oder auch vier Mal in seinem Leben hatte er ihn bisher gehört. Er wusste es nicht genau, wer führt schon Buch darüber, wie oft er welchen Namen bisher gehört hat? Er mutmaßte, dass es sich wahrscheinlich um einen Namen aus dem französischen Sprachraum handelte. Den er wahrscheinlich nicht einmal richtig aussprechen konnte. Und ob er, bevor er zum ersten Camus-Buch griff, dessen Vornamen kannte, ist nicht gewiss. Dass er genau 2013 begann, Camus zu lesen, nahm nicht wunder, denn Albert Camus´ Leben bildete in jenem Jahr das Zentrum vieler Feuilletons, wäre Camus doch einhundert Jahre alt geworden. Spätabends in den Spartenkanälen wurde sein kurzes Leben wie mit dem Nudelholz ausgewalzt.

Dass er überhaupt auf Albert Camus aufmerksam wurde, war mehr oder weniger einem Zufall geschuldet. Aber es sollte einer jener Zufälle werden, die sein Leben mehr verändern würden, als die Zigtausend Zufälle, die sich in diesem Leben schon ereignet hatten. Wieder einmal saß er abends allein auf seinem Sofa – zu den Gründen seines Alleinseins wird noch zu berichten sein – und hatte nichts weiter zu tun, als die Fernbedienung, die zu dem billigen Fernsehgerät gehörte, das er sein eigen nannte, in der rechten Hand gen Fernseher gestreckt zu malträtieren und damit zwischen den Kanälen hin und her zu zappen. Vielleicht war es an jenem Tage so, dass er einfach genug hatte vom Dschungelcamp und dem achten Aufguss eines mittelmäßigen Champions-League-Spiels und dass ihm auch irgendein Tatort oder eine Auswanderergeschichte nicht viel bieten konnten, von einem Kochduell, bei dem Zutaten verwendet wurden, von denen er noch nie gehört hatte, einmal ganz abgesehen. Je weiter er in der Liste der auf seinem Gerät gespeicherten Kanäle nach hinten kam, Nummer 24, 25, 26, 27, desto langweiliger erschien ihm der Inhalt, der den offensichtlich wenigen Zuschauern in diesen ´hohen Kanälen´ angeboten wurde. Beim Kanal mit der Nummer 56 bot ein unaufhörlich redender Moderator ein Messer-Set zum unglaublichen Preis von 99,90 Euro an, aber nur, wenn man sofort telefonisch bestellen würde. Und man bekäme ein zweites Set dazu. Wenn man sofort telefonisch bestellen würde. Und das alles zum gleichen Preis.

Nicht mal hundert Euro, dachte er und musste daran denken, dass er mit seinen Messern ganz gut klar kam. Und das, obwohl er sich seit Jahren vorgenommen hatte, die Messer, die er am häufigsten benutzte – wohl nicht mehr als drei oder vier – endlich wieder einmal schleifen zu lassen. Für hundert Euro konnte man ganz sicher Messer schleifen, mit denen er noch in hohem Rentenalter klaglos würde hantieren können.

Kanal Nummer 57 zeigte eine Wahrsagerin in voller Schönheit; unten links war eine Telefonnummer eingeblendet – irgendetwas mit Zusatzkosten war klein zu lesen. Auf Kanal Nummer 58 saßen vier Menschen um einen Tisch herum und unterhielten sich. Er schaltete weiter auf Nummer 59. Aber halt. Was für ein Satzfetzen war da an sein Ohr gedrungen? Irgendetwas von Sisyphos. Er schaltete zurück auf Kanal Nummer 58. Ja, richtig, die vier Menschen unterhielten sich über Sisyphos. Was? Jetzt behauptete ein älterer Herr mit grau meliertem Vollbart, man müsse die These, Sisyphos sei glücklich gewesen, in einem völlig neuen Licht sehen. Und dann fiel der Name von diesem Camus. Albert Camus. Ganz entgegen seiner Gewohnheit blieb er bis zum Ende der Sendung auf diesem Kanal. Die vier Gelehrten, ganz offensichtlich handelte es sich um gelehrte Menschen, das spürte er daran, wie gut sie sich auszudrücken in der Lage waren, unterhielten sich noch mindestens eine Stunde über diesen Albert Camus. Sisyphos war also glücklich? Gegen halb zwölf in der Nacht schaltete er das Gerät ab. Aber das Gehörte ging ihm nicht mehr aus dem Sinn.

Immer und immer wieder dachte er auch an den nachfolgenden Tagen darüber nach, was wohl damit gemeint gewesen sei, dass Sisyphos glücklich gewesen sein muss. Natürlich, unser Mann war leidlich gebildet, konnte also mit der Figur des Sisyphos etwas anfangen. Sisyphos, das war bisher immer klar gewesen, war in seinen Augen durch die ihm auferlegte Strafe ein bedauernswerter Mensch. Wie also soll man sich den Geschundenen, der wohl weiß, dass er einer völlig sinnlosen Arbeit nachgeht, die ihn nie zu einem Ziel und immer nur zu einem wieder zerrinnenden Zwischenziel führen wird, wie also soll man sich diesen Bedauernswerten glücklich denken? Er stellte sich bildlich den unter einer erbarmungslos glühenden Sonne schweißtriefenden Körper des Mannes vor, der den riesigen Stein rollend Zentimeter für Zentimeter eine schiefe Ebene hinauf wuchtete. Er sah förmlich, wie ihm bei jeder neuen nur wenige Grad ausmachenden Umdrehung des Brockens die geneigte Ebene hinauf die Adern vor Anstrengung an den Armen, am Hals und an der Stirn hervortraten, so als würden sie kurz davor stehen, platzen zu müssen ob der übermenschlichen Anstrengung, die zu bewältigen war. Er konnte fast das Salz des Schweißes schmecken, der dem Mann von der Stirn in kleinen Bächen direkt auch in den Mund rann und in die Augen, um dort zu brennen und die doch so schon vorhandene Qual noch zu vervielfachen. Er spürte es fast selbst in seinen Beinen, welchen Schmerz es hervorrief, wenn der Mann auf der schiefen Ebene eine kleine Pause einlegen musste – allein aus dem Grunde, das qualvolle Stemmen nach wenigen Sekunden mit neuer Kraft fortsetzen zu können – und dafür einen Fuß und ein Schienbein so unter dem nach unten drängenden Stein platzierte, dass dieser nicht einfach den Gesetzen der Schwerkraft folgend losrollen konnte. Und es traten unserem Mann fast die Tränen in die Augen, wenn er sich vorstellte, wie Sisyphos den oberen Punkt der schiefen Ebene erreichte, um dann festzustellen, dass der Fels, ständig mehr Geschwindigkeit aufnehmend, die schiefe Ebene wieder hinab polterte und irgendwo am Fuße liegen blieb, auf Sisyphos wartend, dass dieser ihn wieder hinauf rollte, dem Schweiße und den unsäglichen Schmerzen in Armen und Beinen zum Trotz. Und Sisyphos, was tat Sisyphos? Kaum war der Stein am Fuße der Böschung liegen geblieben, setzte der sich wieder bergab in Bewegung, um dem Stein schon bald darauf wieder ein neues Gefühl von Höhe zu vermitteln. Wie sollte man darüber glücklich sein? Und die These, dass dieser bemitleidenswerte Mensch, der sich im Schweiße seines Angesichts mühte, wohl schon am unteren Ende der schiefen Ebene wissend, dass der Stein wieder hinabrollen würde, stammte also von diesem Albert Camus? Der behauptete also tatsächlich, dass der sowohl körperlich als auch seelisch mit dem Stein Gequälte trotz allem glücklich sein müsse? Das war mehr als unserem Helden eingehen konnte. Das war einfach zu viel. Das war genau das, was die einfachen Menschen, die jeder jeden Tag um sich herum hatte, misstrauisch machte; intellektuell abgehobenes Gefasel, was man nicht begründen wollte, weil man es auch kaum begründen konnte. Aber er würde versuchen, diese These zu ergründen. Nicht, weil er das irgendjemandem schuldig war, ganz allein, weil die Absurdität dieser Aussage ihn aufregte.

Zuerst recherchierte er ein wenig im Internet. Schien ja wirklich ein interessanter Mensch gewesen zu sein, dieser Albert Camus. Vom frühen Tod des Vaters war da die Rede, Erster Weltkrieg, Camus soll ihn nie kennengelernt haben. Mehr oder weniger aufgezogen von der Großmutter und das alles in armen Verhältnissen. Und Frauengeschichten scheinen auch eine wesentliche Rolle im Leben dieses Schriftstellers gespielt haben. Kinder hat es gegeben, Zwillinge, er las, sie würden noch leben. Wie alt sind sie jetzt? Es war ihm zu mühselig, das Alter der Camus-Zwillinge zu berechnen. Und von der Provence war die Rede. Die Provence, dachte unser Held, wie soll ich mir die Provence vorstellen? Und von Algerien, von Algerien war auch die Rede. Algerien, dachte unser Mann, Algerien, das ist nicht nur räumlich noch weiter weg als die Provence … Er erinnerte sich daran, dass die weiteste Reise, die er je unternommen hatte, ihn nach Österreich geführt hatte, Salzburger Land, nichts da mit Provence oder Algerien. Er kramte in seinem Gedächtnis: Algerien und Frankreich, das fiel ihm wieder ein, hatten eine sehr eng verwobene und selten konfliktfrei verlaufene Vergangenheit gehabt. Und davon, dass Camus sich auch politisch engagiert hatte, las er. Kommunistische Partei, na also. Und vom Nobelpreis war die Rede, 1957, und davon, dass er sich vom Preisgeld das lang ersehnte Haus gekauft hatte, in der Provence. Schon wieder Provence, dachte er. Und dieser seltsame Tod; Autounfall, wollte eigentlich mit dem Zug fahren, hatte die Fahrkarte schon gekauft, ist dann doch mit seinem Verleger mit dem Auto mitgefahren, Unfall, tödlicher Ausgang … Er blickte sinnierend vom Computer auf. Dann besah er sich die Liste der Werke von Albert Camus. Ah, ja, da gab es doch tatsächlich auch ein Buch mit dem Titel: Der Mythos des Sisyphos. Im Untertitel stand geschrieben: Ein Versuch über das Absurde. Ja, das stimmte, absurd kam ihm da einiges vor. Aber es weckte auch Neugier in ihm, was er da gelesen hatte.

Also, einige Wochen waren inzwischen vergangen, kaufte er sich Bücher von Camus. Und über ihn. Irgendwann würde er sie lesen. Da war er sich schon ziemlich sicher, jetzt, nachdem er so einiges über diesen Camus und seine verqueren Thesen vernommen hatte.

Eigentlich las er wenig, aber irgendetwas musste man an den trüben Abenden tun. Soweit, völlig willenlos jeden Abend den Fernseher einzuschalten, war er noch nicht. Drei oder vier Bücher hatte er auf einmal bestellt. Schwachsinn, dachte er. Was wäre, wenn ihm zum Beispiel schon das erste Buch nicht gefiele? Einmal, daran erinnerte er sich, als er den kleinen Stapel Camus-Bücher ausgepackt hatte, hatte er eine sehr schöne Stelle in der Sinfonie Nummer eins von Johannes Brahms gehört. Er hatte die Stelle irgendwo gehört, sie wurde offensichtlich häufig dazu benutzt, als Hintergrundmusik für irgendwelche Reportagen, die im Fernsehen gezeigt wurden oder dergleichen zu dienen. Na jedenfalls war es Musik gewesen, die man sich anhören konnte. Im Abspann von irgendeiner dieser Reportagen stand dann also da, dass man auf Brahms zurückgegriffen hatte. Und weil ihm die Stelle wirklich gut gefallen hatte, kaufte er sich nicht nur besagte Sinfonie, sondern noch eine ganze Reihe weiterer Platten mit Werken von Brahms. Nur, die Sache hatte einen Haken: Es gab kaum etwas von diesem Brahms, was ihm ähnlich gut gefiel, wie die eine Stelle aus der Sinfonie. Nicht mal zwei Minuten war die lang, die Stelle, und wegen ihr hatte er jetzt fünf Stunden Musik von Brahms zu Hause. Fünf Stunden Musik, die er wahrscheinlich nie anhören würde oder nur deshalb anhören würde, weil er die Platten nun mal gekauft hatte. Und wenn er mit Camus einen ähnlichen Reinfall erleben würde? Immerhin, so ein Buch war heutzutage nicht billig. Dazu kamen die Versandkosten, er hatte die Bücher nämlich im Internet geordert. Erst hinterher hatte er festgestellt, dass bei einem anderen Anbieter keine Versandkosten angefallen wären. Das war also auch wieder Geldverschwendung gewesen. So etwas ärgerte ihn.

Aber jetzt lagen sie nun einmal da, die Bücher. Waren also doch nur drei, dachte er. Dabei war er sich ziemlich sicher gewesen, vier bestellen zu wollen. Auch egal, dachte er, dann also drei. Er nahm die Bücher einzeln zur Hand: Der erste Mensch, Der Fremde, Der Mythos des Sisyphos. Sie waren alle nicht zu dick. Da war er schon einmal froh; wenn schon anspruchsvoll, dann wenigstens nicht zu dick. Hätte sonst ja auch Quälerei werden können. Das war auch so eine Marotte von ihm. Zwar las er nicht viel aber ein einmal begonnenes Buch las er zu Ende. Immer. Tja, da waren sie nun, die drei Bücher. Und da war auch die Rechnung. Er bestellte grundsätzlich auf Rechnung. Solche Sachen wie Lastschriftverfahren missfielen ihm. Und Kreditkarte, Kreditkarte hatte er nicht mal eine. Würde er nie brauchen, da war er sich sicher. Was hörte man nicht alles von diesen Dingen wie Kreditkartenbetrug, gestohlenen Passwörtern und so weiter. Das würde ihm nicht passieren. Auch da war er sich sicher. Er würde die Rechnung nehmen, zu seiner Sparkassenfiliale gehen und einen dieser Überweisungsträger ausfüllen und den offenen Betrag überweisen. Ging doch auch so, dachte er. Er schmunzelte, denn am Schalter in der Sparkasse saßen immer freundliche Damen. Die waren ganz sicher froh, wenn noch jemand vorbeikam, der noch nicht auf Homebanking setzte. Nein, auf Homebanking setzte er auch nicht. Erst einmal würde er also die Bücher beiseitelegen. Aber wohin beiseite? Liegen bleiben hier auf dem Küchentisch konnten sie nicht. Dafür war er zu ordentlich. Und ein richtiges Bücherregal besaß er nicht. Die wenigen Bücher, die er sein eigen nannte – zwanzig vielleicht oder fünfundzwanzig – standen verstreut in dem und auch jenem Schrank oder Regal. Aber an dem Platz für die Bücher würde es doch jetzt sicher nicht liegen, oder? Natürlich nicht.

Irgendeinen Platz hatten die Bücher letztlich gefunden; neben der Couch gab es einen kleinen Beistelltisch mit einer Glasplatte obenauf. Unser Mann hatte die Bücher dorthin gelegt. Wohl auch, um ihrer Anwesenheit häufiger gewahr zu werden, denn es fand schon Erwähnung, dass Lesen nun nicht gerade zu seinen bevorzugten Hobbys gehörte. Und richtig, irgendwann war die Zeit gekommen, in der die bloße Anwesenheit der Bücher beim abendlichen Fernsehen oder Zeitunglesen ein Gefühl der Schuldigkeit in unserem Mann auslöste. Ja, mit diesem kurzen anklagenden Wörtchen machte sich sein Unterbewusstsein bemerkbar; es wird Zeit, endlich mal mit dem ersten Camus-Buch zu beginnen. Er begann mit dem Fremden. Nobelpreis, da sollte nichts schief gehen.

Unser Mann blätterte in dem kleinen Bändchen. Naja, dachte er, knappe hundertsechzig Seiten. Das sollte wohl zu schaffen sein. Das sollte wohl auch für den Fall zu schaffen sein, dass dieser Roman ganz und gar nicht das hält, was die Rezensionen versprechen (offen bleiben muss an dieser Stelle, von welchen Rezensionen unser Mann wohl gesprochen haben könnte, denn es gibt keine Anzeichen dafür, dass er, mit Ausnahme der dürftigen und bereits erwähnten Internet-Recherchen, sich in irgendeiner Weise bis zu dem besagten Zeitpunkt anderweitig mit Camus befasst hätte). Also machte er es sich auf dem Sofa leidlich bequem, stellte die Leselampe (auf dem Glastischchen stand eine Leselampe) so, dass sie wohl gut auf das aufgeschlagene Buch, aber wiederum ihm nicht direkt in die Augen strahlte, und schlug das Buch auf. Noch vor dem eigentlichen Schriftsatz stand da eine große römische Eins mit einem Punkt dahinter, die sich – kleiner und ohne Punkt – über dem ersten Kapitel wiederholte. Dann las er den ersten Satz. Und den zweiten. Er las den ersten aus nur viereinhalb Zeilen bestehenden Absatz zu Ende. Er blickte auf. Es war, als durchfahre ihn ein Frösteln, so als ziehe ein eiskalter Windhauch über den schweißbedeckten Körper. Wie, wie um alles in der Welt kann ein Buch so beginnen? Dann las er weiter, von der verstorbenen Mutter des Romanhelden und davon, dass sie in einem Altenheim verstorben war, von der Beisetzung, von den alltäglichen Begebenheiten, von der Arbeit, der der Romanheld nachging, im Hafen, einer alltäglichen Arbeit ohne Höhepunkte. Irgendwann hatte er Seite vierzig erreicht, dann Seite neunzig. Irgendwann, unser Mann saß immer noch auf dem Sofa und las – ja es war ihm unbequem geworden, immer in dieser gleichen Sitzhaltung und darauf bedacht, dass das Licht der Leselampe die Buchseiten gut ausleuchte – aber er las beharrlich weiter in diesem, seinem ersten Camus-Buch. Irgendwann kam er an die Stelle, an der der Held des Romans den Mord beging, den Mord, den er unter diesen fast lachhaft zu nennenden Umständen beging, am Strand, weil ihn wohl die Klinge eines Messers geblendet hatte. Wenn einen die Klinge eines Messers blendet, deutet das auf Licht hin, viel Licht, dachte unser Mann. Und er dachte an die Sonne an jenem Strand, an dem der Mord geschehen war. Er dachte daran, wie sie gegleißt haben musste, wie sie den blanken Stahl des Messers, das der spätere Mörder in der Hand hielt, in eine weißglühende Lanze verwandelt hatte.

Er legte das Buch auch dann noch nicht beiseite, als er mit einem flüchtigen Blick auf die Armbanduhr feststellte, dass er an anderen Tagen um diese Zeit längst im Bett zu liegen pflegte.

Er las weiter, Seite hundertzehn, hundertzwanzig, die Anklage des Mörders, das Gerichtsverfahren, das ihm eröffnet wird, die Tage in der Haft, der Priester, der zu ihm kommt und mit dem er nicht sprechen will und mit dem er dann doch spricht. Irgendwann, nach zwei Stunden, oder waren es drei – unser Mann las langsam, er saugte jedes Wort in sich auf, drehte und wendete die Sätze, las sie zweimal oder gar dreimal, klopfte sie auf den doppelten Boden ab, den sie verbergen konnten – irgendwann also war er am Ende des Buches angekommen, an genau der Stelle, die andeutete, dass der Romanheld schon bald zum Schafott geführt werden würde. Dann schlug er das Buch zu und legte es zurück auf den kleinen Stapel, obenauf auf die beiden anderen Camus-Bücher, die sich auf dem Glastisch befanden. Er rückte die Leselampe zurück in ihre ursprüngliche Stellung, so, dass sie den Tisch gut auszuleuchten in der Lage war. Er war schon fast dabei, zu Bett zu gehen, wollte gerade das Licht der Leselampe löschen, da griff er noch einmal nach den Büchern auf dem Glastisch. Den Fremden, stellte er fest, den hatte er jetzt gelesen. Warum also sollte dieses Buch obenauf auf dem kleinen Stapel liegen? Also nahm er das Buch, das sich irgendwie noch warm anfühlte, warm von den eigenen Händen, und legte es unter die anderen Bücher. Er würde weiter Camus lesen. Das war ihm jetzt klar geworden wie das Amen in der Kirche. Das Amen in der Kirche, unser Mann musste lächeln, in welcher Kirche eigentlich, dachte er. Dann ging er endlich zu Bett.