Verena Brade: Fremde Wahrheit/Leseprobe

Kapitel 1

1978

Julia

Die uralte Kirchturmuhr schlug genau achtmal an jenem milden Donnerstag im April, als hinter Julia das kleine eiserne Gartentor ihres Elternhauses ins Schloss fiel und sie sich bestens gelaunt auf den Weg zur Uni machte. Die noch tief stehende Sonne tauchte ihre Umgebung in das weiche Licht des Morgens und der azurblaue Himmel leuchtete wolkenlos. Das zarte Grün der Blätter tanzte vom Wind getrieben in den großen, alten Bäumen am Straßenrand. Ein Hauch von Frühling lag jetzt endlich in der Luft. Julia fühlt sich so gut wie seit Langem nicht mehr und selbst als plötzlich unmittelbar vor ihr eine schwarze Katze von rechts nach links über die Straße sprang, lächelte sie. Normalerweise wäre sie zurückgeschreckt, denn zu ihren kleinen Schwächen gehörte der Aberglaube, zumal der 13. auf dem Kalenderblatt stand. Es war Donnerstag der 13. April, und kein Freitag. So lief sie voller Glücksgefühle einfach weiter. Julia hatte genau noch eine Dreiviertelstunde bis zur ersten Vorlesung. Sie beschloss, spontan auf den Bus zu verzichten.

Fast 40 Minuten später betrat Julia durchgeschwitzt und ziemlich abgehetzt das Foyer. Sie musste sich eingestehen, dass sie die Länge des Weges unterschätzt hatte. Da beide Aufzüge wieder einmal defekt waren, blieb ihr nichts anderes übrig, als die Treppe in die vierte Etage zu nehmen.

Der Hörsaal war wie immer fast bis auf den letzten Platz gefüllt. Julia suchte mit den Augen ihre Seminargruppe und quetschte sich schließlich durch die engen Reihen bis zu ihrer Freundin Friedl durch. Erschöpft ließ sie sich auf den harten Klappstuhl fallen, stellte den kleinen Tisch vor sich hoch und streckte so gut es ging die Beine aus.

Eine der hinter ihr sitzenden Kommilitoninnen witzelte lautstark: „Na, Fuchsköpfchen, wie soll das in den nächsten Wochen werden? Da müssen wir dich wohl in den Sitz reinpressen.“

Julia hasste ihren Familiennamen, wer wollte schon Fuchskopf genannt werden, als wenn sie nicht schon mit ihren roten Haaren genug gestraft war, aber sie fühlte sich nach den Strapazen zu erschöpft, um auf diesen Kommentar noch eine schlagfertige Antwort parat zu haben. So streichelte sie schweigend über ihren Babybauch und genoss es, angekommen zu sein.

Die Vorlesung hielt Professor Meyer, ein kleiner etwa 50-jähriger, untersetzter Mann mit Halbglatze und wenig Humor, dessen Referate für Langeweile bei den Studenten berüchtigt waren. Wie immer begann er mit kratziger, monotoner Stimme die Zielstellung für die kommenden 90 Minuten vorzulesen. Diesmal sollte es um die Bedeutung des Reformpädagogen Friedrich Fröbel im 19. Jahrhundert und in der Gegenwart gehen. Die Flut an geschichtlichen Daten, Zusammenhängen, Persönlichkeiten aus vielen Jahrhunderten mochte Julia nicht. Sie wollte Mathematik- und Physiklehrerin werden und nicht Geschichte unterrichten. Schließlich lag ein nervenaufreibender, langwieriger Kampf mit der Mutter hinter ihr, bis diese endlich das Einverständnis zum Lehramtsstudium gegeben hatte. Noch heute ließ sie keine Situation aus, um ihren Zweifeln an Julias Berufswahl Ausdruck zu verleihen. Sicher hatte ihre Mutter recht, wenn sie betonte, dass Julia nie zu den dominanten, lauten und vor Selbstbewusstsein strotzenden Kindern gehörte, die stets im Mittelpunkt standen. Julia war ruhig, aber sie wusste genau, was sie wollte und besaß auch klare Vorstellungen von dem, was für guten Unterricht wichtig war. Die Schüler würden ihr nicht ´auf der Nase herumtanzen´, wie ihre Mutter prophezeite.

Friedl schien die Fröbel-Geschichte des Professors spannend zu finden, denn sie schrieb ununterbrochen mit. Auf Julias Blatt hingegen stand noch kein einziges Wort und da sich nicht ausschließen ließ, dass dieser Reformpädagoge ein Thema in der Zwischenprüfung werden könnte, schob Julia Blaupapier zu ihrer Freundin rüber. Blitzschnell legte Friedl das Papier unter und notierte das Gesagte weiter. Diese Mitschrift würde Julia zur Vorbereitung ausreichen und gegebenenfalls konnte sie bei ihrer Freundin nachfragen. Zufrieden schraubte Julia den Füllfederhalter wieder zu, legte ihn vor sich auf das leere Blatt und blickte entspannt aus dem riesigen Hör-saalfenster. Mehr als kahle, sich langsam im Wind bewegende Baumwipfel waren aus dieser Perspektive nicht erkennbar. So schloss sie für einen kurzen Moment die Augen, bis sie plötzlich einen heftigen Stoß in die Magengegend verspürte. Behutsam legte sie beide Hände auf ihren Bauch. Dass es diesen kleinen Klopfer unter ihrem Herzen überhaupt gab, konnte sie immer noch nicht wirklich begreifen, obwohl das ungeplante Geschehene schon sieben Monate zurücklag. Sie wird jenen eiskalten, verregneten Samstagabend, an dem ihre Eltern und ihre 15-jährige Schwester Lisa unerwartet beschlossen, in die neu erbaute Schwimmhalle am Stadtpark zum Nachtschwimmen mit Musik zu fahren, nie vergessen. Auch Julia sollte mitkommen, verspürte jedoch nicht die geringste Lust, baden zu gehen, obwohl erfahrungsgemäß die Halle und das Wasser gut temperiert waren. Als kurz nach 18:00 Uhr ihre Freundin Friedl anrief, um zu fragen, ob sie mit zur Disco kommen würde, schien der Abend gerettet.

Wie immer benötigte Julia viel Zeit, bis sie mit ihrem äußeren Erscheinungsbild zufrieden war. Die Neunzehnjährige probierte Hosen, Blusen, Pullover in verschiedenen Kombinationen aus, bemühte sich Make-up und Frisur perfekt hinzubekommen. Eine Naturschönheit wie ihre Freundin, bei der ein flüchtiges Make-up sowie frisch gewaschene, luftgetrocknete Naturlocken völlig ausreichten, um sie umwerfend aussehen zu lassen, war sie leider nicht. Viel Mühe bereiteten Julia immer ihre langen störrischen, roten Haare. Meist band sie diese mit einem Haargummi am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz zusammen, aber zu diesem Anlass wollte sie das hüftlange Haar offen tragen. Mit dem Lockenstab bekam sie leichte Wellen in die Haarspitzen, wusste jedoch aus Erfahrung, dass dieser Erfolg nur von kurzer Dauer sein würde. Für den Moment war sie jedenfalls mit sich zufrieden.

Friedl hatte wie immer geduldig gewartet. Die Zeiger der Uhr standen auf kurz nach 20:00 Uhr, als sich die Freundinnen auf den Weg zum Kulturhaus machten. Beim Betreten des Raumes, schienen alle Tische besetzt, sodass die beiden direkt auf die Tanzfläche gingen. Man spielte gerade ´River of Babylon´ von Boney M., Julias aktuelles Lieblingslied. Während sie ganz bei der Musik war, nutzte Friedel die Gelegenheit und nahm Blickkontakt auf zu zwei großen, blonden Jungs, die am Rande der Tanzfläche standen. Der eine lächelte auch sofort Friedl vielversprechend an, während der andere ins Leere zu starren schien.

Einige Stunden und drei Flaschen Cotnari später wussten die Jungs so ziemlich alles über die beiden Mädchen, und diese kannten zumindest die Namen der Jungs; Alexander und Uwe, beide 22 Jahre und wohnhaft am anderen Ende der Republik in Rostock. Julia konnte sich später nicht mehr genau daran erinnern, wieso sie gegen Mitternacht mit Alexander im leeren Vorraum der Garderobe stand. Um sie herum drehte sich alles ein wenig, ihr war heiß und plötzlich kam Alexander extrem nah. Es ging eigentlich alles zu schnell. Sie wollte ihn stoppen, verpasste aber den richtigen Augenblick und ließ es dann einfach geschehen. Als sie kurze Zeit später ihre Kleidung wieder sortierte, dachte sie nur: Das soll alles gewesen sein? Aber im nächsten Moment war sie froh, nun konnte sie endlich auch mitreden. Alle ihre Freundinnen hatten schon das gewisse erste Mal hinter sich, und sie mit 19 Jahren war tatsächlich die Letzte. Für Alexander schien es nichts Besonderes gewesen zu sein. Er sprach den restlichen Abend kaum ein Wort und zum Abschied gab er Julia nur einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Dennoch bereute sie nichts. Auch sechs Wochen später nicht, als ihr bewusst wurde, was die Folgen jenes Abends für ihre Zukunft bedeuteten. Vom ersten Moment an wollte sie dieses Kind und würde es auch ohne Vater großziehen.

Ein lautes Gelächter im Hörsaal brachte Julia in die Gegenwart zurück. Der sonst so humorlose Professor hatte tatsächlich etwas Heiteres von sich gegeben und für einen kurzen Augenblick bedauerte Julia, so unaufmerksam gewesen zu sein. Aber nun war es zu spät, denn die halbe Vorlesung hatte sie bereits verpasst. Um etwas bequemer die verbleibende Zeit zu überstehen, rutschte sie auf dem harten Stuhl nach vorn, sodass sie die Beine noch weiter ausstrecken konnte. Als sie gerade in die Vergangenheit wieder abtauchen wollte, verspürte sie ein warmes, nasses Gefühl zwischen ihren Beinen. Im selben Moment schaute auch Friedl zu ihr rüber und bemerkte viel zu laut: „Läufst du aus oder was ist bei dir los?“

Hilflos schaute Julia nach unten. Die zwei Mädchen hinter ihr beugten sich weit nach vorn und eine meinte, dass vielleicht gerade die Fruchtblase geplatzt wäre, denn bei ihrer Schwester hätte die Geburt so begonnen. Erschrocken sprang Julia auf, denn sie hatte gerade erst die 27. Woche vollendet. Bis zum errechneten Geburtstermin lag noch eine große Zeitspanne. Ihr Baby war viel zu klein und unreif, um jetzt schon geboren zu werden.

Julia vergaß alles um sich herum und drängelte panisch durch die engen Hörsaalreihen in Richtung Ausgang, gefolgt von Friedl und einem weiteren Kommilitonen aus ihrer Seminargruppe. Er war der Sohn eines Richters und er besaß als einziger bereits ein Auto.

Keine 20 Minuten später lag Julia im Krankenhaus. Eine junge Ärztin und zwei Schwestern kümmerten sich sofort um sie. Die Ärztin, Frau Schuster, noch ohne Doktortitel, erklärte einfühlsam, dass sie mit einem sogenannten Tokolytikum versuchen würden, die eintretenden Wehen zu stoppen und sie außerdem Medikamente zur Unterstützung und Beschleunigung der Lungenreifung des ungeborenen Kindes erhalte. Am CTG angeschlossen, hörte Julia zum ersten Mal das Herz ihres Babys, und als die freundliche Ärztin ihr versicherte, dass beide Messkurven auf dem Papierstreifen im Moment völlig unauffällig wären, fasste Julia Zuversicht. Sie legte wieder die Hände auf ihren Bauch und schloss die Augen. Stunden später weckte sie starkes Ziehen im Unterleib. Julia bemühte sich, ganz ruhig zu atmen, wälzte sich von einer Seite auf die andere, hockte sich schließlich im Vierfüßlerstand ins Bett und stöhnte vor Schmerzen, aber nichts half. Ihre Bettnachbarin beobachtete das Ganze und betätigte schließlich den Notknopf.

Danach ging alles ganz schnell. Zunächst kam eine Schwester, die unumwunden sagte, dass der Muttermund bereits völlig geöffnet wäre. Man fuhr Julia sofort mit ihrem Bett in den Kreißsaal. Sie blinzelte dem hellen Licht entgegen und hörte, dass eine weibliche Stimme feststellte, dass es für irgendetwas, das sie nicht verstand, zu spät wäre. Vom Geschehen danach blieb Julia nur eine schemenhafte Erinnerung. Mehrere Personen standen an ihrem Bett. Julia presste mit aller Kraft und ließ sich in den kurzen Pausen immer wieder zurückfallen. Die Schmerzen schienen unerträglich. Ein blonder Lockenkopf beugte sich zu ihr, wischte die heiße Stirn ab und sagte lächelnd etwas, das Julia nicht verstand, da die nächste Wehe sie zum Pressen zwang. Plötzlich waren die Schmerzen vorbei und sie sank erschöpft zurück auf ihr Laken. Im Kreißsaal herrschte Stille. Julia war unendlich froh, dass es vorbei war. Kurze Zeit später, als sie sich gerade nach dem Baby erkundigen wollte, durchfuhr erneut ein heftiges Stechen ihren Körper.

Das Letzte, an was sie sich später bewusst erinnern konnte, war eine Männerstimme, die ihr unsanft das Debakel mitteilte und anschließend anordnete, dass man ihr etwas zur Beruhigung geben solle.

Julia erwachte und schlief kurz darauf immer wieder ein. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Menschen kamen in ihr Zimmer und gingen wieder. Sie reagierte kaum auf sie. Jemand hielt ihr ein Schriftstück entgegen, sie unterschrieb. Julia war außerstande zu lesen, noch verstand sie, was gesprochen wurde. In ihrem Kopf herrschte ein endloses Rauschen.

Eine Woche später, am Tag der Entlassung, bekam Julia von ihrem Vater ein goldenes Amulett. Auf ihm standen die sechs Ziffern 130478 und dahinter ein kleines Herz.

Pia

Sie müssen die Teekannen auffüllen, die Küche ist zu säubern und der Verbandswagen wurde auch noch nicht geputzt.“ Mit diesen Anweisungen konfrontierte die Oberschwester Pia und entschwand ebenso schnell, wie sie aufgetaucht war.

Ihre Praxistage in der Frauenklinik hatte sich Pia definitiv anders vorgestellt. Zwar wusste sie aus den Berichten höherer Studienjahre, dass Putzen auf allen Stationen an erster Stelle der To-do-Liste für Auszubildende stand, aber sowohl auf der Station für innere Medizin als auch in der Orthopädie eröffneten sich noch andere, viel interessantere Aufgabenbereiche des Klinikalltages. In der Orthopädie durfte sie bei kleineren Eingriffen zusehen, auf beiden Stationen konnte sie selbstständig Puls und Blutdruck kontrollieren. Durch den regelmäßigen Einsatz bei der Verteilung des Essens entstand Kontakt zu allen Patienten. Aber ausgerechnet der Klinikteil, auf den sie sich seit Beginn ihrer Ausbildungszeit am meisten gefreut hatte, bot ihr nur Reinigungsarbeiten und Botengänge.

Auch der vierte von insgesamt fünf Praxistagen in der Frauenklinik verlief zunächst wie die vorhergehenden. Pia glaubte nicht mehr an interessante, spannende Herausforderungen. Sie füllte, wie angeordnet, die Teekannen auf und wollte gerade die Reinigung der Küche in Angriff nehmen, als plötzlich erneut die Oberschwester vor ihr stand. „Das können Sie später erledigen, jetzt machen Sie sich fertig für den Kreißsaal. Sie werden dort gebraucht.“

Pia konnte es kaum fassen. Selbst die unfreundliche Art, mit der ihre Vorgesetzte die Anweisung gab, prallte an ihr ab. Sie würde bei der Geburt eines Babys dabei sein, das hatte sie nicht mehr zu hoffen gewagt. Hektisch rannte sie los, um so schnell wie möglich im Kreißsaal zu sein. „Nur nichts versäumen“, sagte sie beim Umkleiden laut zu sich selbst, denn vielleicht kam es gerade auf diese Minuten an.

Es war schon nach 23:00 Uhr, als Pia die Tür zur Wohnung aufschloss, die eigentlich keine richtige war, sondern nur ein Zimmer mit angrenzender Kammer.

Hier lebte sie seit über einem halben Jahr mit Peter. Auch wenn ihr Zuhause weder Flur, noch Bad, statt Küche eine winzige Kochecke mit gusseisernem Becken und nur einen kleinen alten Kachelofen als Wärmequelle besaß, bezeichneten Peter und sie es als erste gemeinsame Wohnung. Um diese Zeit brannte kein Feuer mehr im Ofen. Fröstelnd überlegte Pia für einen Augenblick, ob sie sich eine heiße Milch mit Honig bereiten sollte, entschied dann aber, gleich zu Peter ins Bett zu kriechen. Ganz behutsam kuschelte sie sich an seinen warmen Körper und versuchte, ihre eiskalten Füße zwischen seine Beine zu schieben. Sie genoss es, mit Peter zusammenzuleben. Seit Frau Schmidt im 7. Schuljahr Peter zu ihrem Banknachbarn bestimmt hatte, waren sie unzertrennlich. Zunächst erledigten sie nur die Hausaufgaben zusammen und halfen sich heimlich bei Kurzkontrollen und Klassenarbeiten. Einige Zeit später stellten sie dann fest, dass sie die gleiche Musik mochten. Viele Abende verbrachten sie danach vor dem nagelneuen Yamaha-Plattenspieler in Peters Zimmer, legten eine Platte nach der anderen auf und tanzten dazu. Peters Eltern arbeiteten beide als Anwälte. Einige ihrer Klienten besaßen gute Verbindungen auch in den anderen Teil Deutschlands.