Kapitel 1
Es dauert einen Moment, bis ich wach werde. Die Türklingel hat sich in meinen Traum eingeschlichen und weckt mich erst, als es zu einem penetranten Sturmklingeln wird. Ich mache eine gekonnte Rundumdrehung, während ich aufstehe, sodass ich aufrecht auf der Bettkante sitze. Die Klingel ist noch immer nicht leiser geworden, doch haben meine Ohren das nervtötende Geräusch als einen Teil meiner Umwelt akzeptiert.
Als ich mein Zimmer verlasse, stoße ich mir den kleinen Zeh am Türrahmen, weshalb ich wohl oder übel auf einem Bein zur Tür hüpfe. „Na, hast du wieder zu viel gesoffen?“, frage ich, wobei ich die Tür aufreiße, was dem Umstand geschuldet ist, dass mein Mitbewohner nirgends zu sehen ist, obwohl auch er die Klingel unmöglich überhören kann. Doch er ist es nicht, der vor der Tür steht. „Oh sorry, dich hatte ich nicht erwartet. Komm rein“, sage ich kleinlaut und mache Platz, damit er reinkommen kann.
„Ich bin nicht lange hier, Fynn, aber ich habe heute einen Termin bei der Polizei. Nur falls du mitkommen möchtest?“, fragt er nüchtern.
„Nein, es ist schwer, darüber nachzudenken. Tut mir leid Levin“, antworte ich.
Mein Bruder schaut mich mit einem Gesichtsausdruck an, der sich nicht deuten lässt. Trotzdem kann ich die Enttäuschung darin erkennen. „Ich glaube an sie“, erklärt er mir. „Sie wäre nicht einfach verschwunden. Ich weiß nicht, wieso, weshalb, warum, aber ich denke, dass es ihr nicht gefällt, dort wo sie ist“, zitiert Levin einen dieser Sätze, die er mir so oft auf die Nase bindet. Einen dieser Sätze, der mich immer aufs Neue ein bisschen zweifeln lässt. Seine Stimme zittert leicht.
Ich schlucke schwer. Er hat recht, es entspricht nicht ihrem Temperament, einfach zu verschwinden und über mittlerweile zwei Monate hinweg nicht aufzutauchen. Meine Schwester ist immer ein geselliger Mensch gewesen, humorvoll und lebensfreudig. Mittlerweile habe ich ihr Verschwinden akzeptiert und innerlich hasse ich mich dafür.
„Hast du Kaffee? Ich habe heute nicht besonders viel geschlafen“, erkundigt sich Levin und lässt sich auf einen der Holzstühle in unserer spartanisch eingerichteten WG-Küche fallen. Es knarzt, als sein ganzes Körpergewicht auf dem maroden Stuhl ankommt.
„Ja, einen Augenblick, ich kümmere mich darum“, sage ich und koche Wasser in einer dieser Filterkaffeemaschinen, die eigentlich nur auf den Schrott gehören. Aus Trotz dem Kapitalismus gegenüber haben wir sie trotzdem behalten. Ich kippe den fertig gekochten Kaffee in eine Tasse und reiche sie ihm. „Pass auf, die Plörre ist eigentlich nicht trinkbar“, sagte ich und lachte.
Er lächelt mild. „Macht nichts, Hauptsache stark“, antwortet er und führt die dampfende Tasse an seine Lippen. Als er sie wieder absetzt, hustet er leicht. „Wow, du hast recht“, nuschelt er in seinen Bart hinein.
Er scheint wirklich schlecht geschlafen zu haben, denn schon ist er dabei, die Tasse ein zweites Mal anzusetzen. Wieder dieser angeekelte Blick.
„Was machst du bei der Polizei?“, frage ich Levin.
„Ich schildere ihnen noch einmal Evas Persönlichkeit und versuche, ihnen begreiflich zu machen, wie ungewöhnlich alles doch ist. Du weißt selbst, dass sie nicht freiwillig verschwunden oder mutwillig ins Ausland gegangen ist! Die Polizei hat unrecht“, protestiert er und schwenkt seinen Kaffee dabei bedrohlich in der Luft.
„Ich glaube, wir sollten der Polizei glauben“, sage ich, doch ich glaube mir selbst nicht. Die Worte kommen über meine Lippen, aber sie berühren mein Herz nicht.
Levin schaut mich durchdringend an, seine Augen fixieren die meinen, doch ich halte diesem Druck stand, bis er sich abwendet. „Ich werde jetzt gehen, danke für deine …“, er denkt einen Augenblick nach, bevor er seinen Satz vollendet. Er macht eine ausladende Geste und sagt abwertend: „Gastfreundschaft.“
Erst als ich auf die Uhr schaue, sehe ich, wie lange wir schweigend dagesessen haben. Als ich die Haustür öffne, um Levin zu verabschieden, kommt Arno, mein Mitbewohner, die Treppe hoch. Er torkelt nicht. Trotzdem ist es offensichtlich, dass er und seine Kumpels nicht nur nett zusammengesessen haben. Ein Dauerlächeln erfüllt seine Züge. Das tut es immer, aber nicht auf diese übertrieben heitere Art. Trotz allem muss ich lächeln, als ich ihn sehe. „Guten Morgen“, rufe ich ihm sarkastisch entgegen.
Mein Bruder wirft mir einen verärgerten Blick zu. Seit dem Tag des Verschwindens ist er nicht mehr glücklich gewesen. So geht es vielen, die Eva gekannt haben. Mein Leben ist das selbe wie zuvor, doch ich spüre den Teil in mir, der vermisst und der heimlich in der Dunkelheit weint. Ich habe Angst. Schreckliche Angst vor der Wahrheit.
Kapitel 2
Als Levin das Polizeirevier betritt, ist es ruhig. Es ist anders, als man es sich in einem Polizeirevier vorstellt. Weniger angsteinflößend. Er ist der Einzige hier, nur eine Frau hinter dem Empfang, die ihn überschwänglich begrüßt, leistet ihm Gesellschaft. „Hallo, wie kann ich Ihnen helfen?“, fragt sie. Ihre Stimme scheint unpassend für diesen Ort. Schrill und ein bisschen zu laut. Ihre Gegenwart nimmt dem Raum seine Ernsthaftigkeit. Doch wer braucht Ernst, wenn es auch anders geht?
„Guten Morgen, ich habe gleich einen Termin“, antwortet Levin mit leichter Verzögerung.
„Wie ist Ihr Name?“ Ein breites Lächeln erfüllt ihre Züge.
„Levin Kühn.“
„Ah ja, hier stehen Sie ja. Bitte nehmen Sie Platz. Frau Winter wird jeden Moment da sein und Sie in Empfang nehmen. Haben Sie ihren Ausweis dabei?“, erkundigt sie sich.
Levin zieht sein Portemonnaie aus seinem Rucksack und fummelt seinen Ausweis aus einem der Kartenschlitze. Noch einmal blickt er selbst auf die Karte, um sich zu vergewissern, der Frau wirklich die richtige in die Hand zu drücken. Für einen kurzen Moment schaut ihn sein vier Jahre jüngeres Ich an. „Hier“, sagt er und reicht der Frau die Karte.
„Danke“, singt sie beschwingt. Sie mustert das Bild lange, dann tippt sie die Daten in ihren Computer ein. Sie pfeift fröhlich.
Doch ihr musikalisches Schaffen wird unterbrochen, als sich eine Tür ein wenig links von ihr öffnet. Im Türrahmen steht eine weitere Frau. Eine Uniform bedeckt ihren Körper, ein kurzer Bob fällt rechts und links an ihrem Kopf hinab. „Sind Sie Herr Kühn?“, wendet sie sich sofort an ihn.
„Ja. Hallo“, antwortet dieser höflich.
„Kommen Sie rein!“
Ihrer Anweisung folgend betritt Levin den kleinen Raum hinter dem Empfang. Es ist kahl, trotzdem ist es auf seine Weise herzlich. An der Wand hinter dem Schreibtisch stehen Bilder, die scheinbar aus dem letzten Familienurlaub der Polizistin stammen, und eine von Kinderhand gemalte Zeichnung liegt unter der Tastatur. An einer Seite des Raumes hängt eine große Pinnwand. Daran ist ein Dienstplan befestigt, außerdem kleine Merkzettel, die deutlich wenig mit dem Job zu tun haben.
„Setzen Sie sich.“ Sie macht eine ausladende Geste auf die vordere Seite des Schreibtisches, an der mehrere Sitzgelegenheiten stehen. Als er sich setzt, lässt sie sich auf einen Stuhl ihm gegenüber fallen. Der Stuhl ist weich, doch die kalte Metalllehne, die seinen Rücken berührt, lässt ihn frösteln. „Wie kann ich Ihnen helfen?“
Es dauert einen Moment, bis Levin die passenden Worte parat hat. „Nun, vor zwei Monaten ist meine Schwester verschwunden. Spurlos. Die Polizei hat den Fall abgeschlossen. Ohne sichtbare Erfolge. Es heißt, alle Indizien weisen darauf hin, dass sie freiwillig verschwunden ist. Vielleicht sogar das Land verlassen hat, aber es passt einfach nicht zu ihr.“ Tränen stehen in seinen sonst so glasklaren Augen.
„Ich denke, meine Kollegen werden ihr Möglichstes getan haben“, erklärt Frau Winter in sachlichem Ton.
Levin antwortet entrüstet oder traurig, vielleicht bedingt das eine auch das andere. „Sie verstehen nicht! Sie wäre nicht einfach gegangen, es passt einfach nicht zu ihr!“
„Hören Sie Herr Kühn. Ihre Reaktion ist völlig selbstverständlich, Sie haben eine wichtige Bezugsperson verloren. Ich würde Ihnen gerne helfen. Aber wie? Sagen Sie mir, was ich anders machen soll als die anderen.“
„Ich weiß es nicht“, gibt Levin beschämt zu, während er sich unruhig auf der Unterlippe kaut. Eine seltsame Angewohnheit, die ihn schon sein ganzes Leben begleitet, vielleicht macht sie ihn sogar ein bisschen aus.
„Geben Sie mir ihre Kontaktdaten. Ich werde mich umhören und versuchen, mein Bestes zu geben.“ Sie schiebt ihm einen Zettel zu und rollt einen Stift gekonnt auf seine Seite des Tisches. Er drückt das Ende des Kugelschreibers und beginnt zu schreiben. Erfolglos. Die Miene ist nach wie vor in den Tiefen des Stiftes verschwunden. Frau Winter lächelt amüsiert. Nach ein paar Sekunden der Ratlosigkeit sagt sie leise: „Drehen.“
„Danke.“ Levin lächelt zurück und schreibt in seiner unordentlichen Handschrift: Levin Kühn 030/839100
Levin schiebt den Zettel zurück über den Tisch. Er lächelt, als sich ihre Blicke treffen.
„Danke, ich melde mich, sobald ich etwas Verdächtiges höre.“ Nach ein paar Sekunden fügt sie lächelnd hinzu: „Oder, falls ich nichts zu tun habe.“ Sie zwinkert.
Levin lächelt. „Bis bald.“ Er winkt freundlich, als er die Tür zum Empfang öffnet.
„Hatten Sie Erfolg?“, fragt die Frau an der Rezeption mit ihrer übertriebenen Laune.
Vielleicht braucht Sie es, um ihrem Job zu überstehen. Vielleicht hat sie einfach Spaß. Levin fühlt sich schlecht, sie für ihre Laune zu verurteilen, niemand sollte verurteilt werden. Aber seine Situation macht es ihm schwer, Freude anzuerkennen. „Vielleicht nicht den, den ich mir erhofft habe, aber irgendwie schon.“
„Das freut mich für Sie, dann auf Nimmerwiedersehen! Na ja, Sie wissen, wie ich das meine. Niemand ist gerne auf dem Polizeirevier. Ich hoffe, Sie verstehen. Bis bald.“
Er lächelt, als er vor die Tür tritt. Die Mittagssonne wärmt sein Gesicht und gibt ihm ein wohliges Gefühl. Die paradoxen Worte der Empfangsdame schwirren ihm immer noch im Ohr, doch umso mehr die Stimme der Polizistin. Ein Lächeln zieht über sein Gesicht, vielleicht das ehrlichste der letzten zwei Monate.
Kapitel 3
Ich lege mich wieder in mein Bett. Es ist gerade einmal elf Uhr. Zu zeitig für mein Studenten- und viel zu früh für mein Künstlerleben. Levin hat mich aus den Träumen gerissen und sofort in die bittere Realität geholt. Es dauert nicht lange, bis ich wieder in meinem Kissen versinke.
Mein Wecker klingelt. 12.30 Uhr.
Wie überheblich das für Leute mit Job klingen muss, solche, die schon die letzten fünf Stunden im Büro sitzen. Wie gerne ich manches Mal einer von ihnen wäre. Ein geregeltes Einkommen und die stupide Produktivität, die sie an den Tag legen. Doch irgendetwas hindert mich daran. Ich fühle mich frei, nicht in einem System eingesperrt. Was wahrscheinlich der Grund für mein Studium ist. Philosophie. Brotlos, wie meine Eltern es nennen würden. Ich stehe auf und koche mir einen Kaffee. Wohlwissend, dass ich die ganze Prozedur heute schon einmal durchlebt habe. Arno sitzt am Tisch und tut irgendetwas auf seinem Laptop. Als ich um ihn herum gehe, um auf den Bildschirm zu schauen, muss ich lachen. „Was tust du da?“, frage ich, während ich die bunten Zahlen des Minesweeper-Feldes betrachte.
„Prokrastinieren“, antwortet er, Word in der Taskleiste geöffnet.
Wieder muss ich lachen, auch er gluckst leise. „Wann ist Abgabetermin?“, versuche ich mich zu erkundigen.
„In sieben Tagen. Ich bin fast fertig, aber ich kann mich einfach nicht zum Weitermachen animieren.“ Er grinst spitzbübisch.
Schon seit Wochen sitzt er an seiner Anglistik-Hausarbeit. Gerade als ich etwas sagen möchte, klingelt mein Telefon. Es liegt neben Arno und vibriert freudig vor sich hin.
„Wer ist es?“, frage ich.
„Levin.“
Ich nehme das Telefon ab. Ich handele mehr aus Pflichtbewusstsein als aus allem anderem. Zumindest rede ich mir das ein. Ich atme tief durch, als ich den Hörer abhebe. „Hi“, sage ich.
„Hey, ich dachte, ich sollte dir sagen, dass die Polizistin bereit ist zu helfen“, erklärt er sofort ohne Einleitung.
„Danke“, flüstere ich. Meine Stimme wird immer leiser, als ich sage: „Levin, pass auf, dass du dich da nicht in etwas verrennst. Es ist nicht gut, der Vergangenheit nachzuhängen.“
Schon nach wenigen Sekunden hinterfrage ich diesen Spruch. Im ersten Moment habe ich gedacht, er entspränge meinen eigenen Gedanken. Im zweiten frage ich mich, auf wie vielen Kalendern und Brigitte Zeitschriften er schon zu finden gewesen ist. Levin bedankt sich. Mehr ironisch als ernst. Wir verabschieden uns und schon höre ich das monotone Summen des Auflegens. Ich schäme mich für das, was ich gesagt habe, schäme mich dafür, sie Vergangenheit genannt zu haben und dafür, mir selbst zu erzählen, abgeschlossen zu haben. Abgeschlossen mit etwas, dass niemals wirklich abgeschlossen sein wird.
„Hey, ich weiß, wie schwer es für dich ist Fynn, aber es bringt niemandem etwas, wenn du so tust, als wäre nie etwas passiert“, erklärt Arno.
„Ich weiß, es tut mir leid.“ Ich vertraue ihm vielleicht mehr als jedem anderem. Er kennt mich. Besser als ich mich selbst kenne. Er versteht mein Innerstes, welches ich nicht verstehen möchte. Zeitweise zumindest.
„Such dir Hilfe, du musst es ja niemandem sagen, aber mach was für dich.“ Er lächelt aufrichtig, dann wendet er sich wieder seinen Minen zu.
Kapitel 4
Ich sitze im Wartezimmer, auf Arnos Wunsch habe ich mir einen Termin beim Psychologen gemacht. Es fühlt sich falsch an, aber was tut das heutzutage nicht? Die Einrichtung sieht etwas zu gewollt gemütlich aus. Der Boden ist mit dunklem Parkett überzogen. Im Fenster stehen Pflanzen und an der Wand mir gegenüber hängt ein Regal, gefüllt mit Klatschzeitschriften und Kinderbüchern.
„Guten Tag. Sie müssen Herr Kühn sein“, begrüßt mich eine Stimme neben mir.
Ich drehe mich um und schaue in das Gesicht einer Frau. Sie trägt einen strengen Dutt, ich erkenne leichte Falten unter ihren Augen. Ob es Lachfalten sind oder ob sie das Alter frühzeitig gezeichnet hat, kann ich noch nicht sagen. „Ja, guten Tag“, sage ich.
„Hallo, Kaiser“, stellt sie sich vor und reicht mir die Hand zur Begrüßung. „Kommen Sie bitte mit!“, fordert sie mich auf und weist mir den Weg in einen Raum, gegenüber des Wartezimmers.
Im Behandlungszimmer steht ein Tisch, rechts und links davon jeweils ein Sessel, unter dem Fenster befindet ein Sofa. An den Wänden hängen spärlich gefüllte Bücherregale. Ein Schema, welches sich in der ganzen Praxis wiederfinden lässt. Ich habe immer noch das Gefühl, nicht hierher zu gehören, aber Arnos Ratschläge haben sich in der Vergangenheit oft bewährt. Ob sie es dieses Mal auch tun, wird sich zeigen. An der Wand hängen Poster mit Sprüchen wie Lächle und die Welt lächelt zurück oder Verschwende nicht deine Jugend. Darunter sind verschiedenste bewusstseinserweiternde Substanzen abgebildet. Ich bezweifle das besagte ´Jugend´ überhaupt die Hälfte davon erkennt. Kurz frage ich mich, ob den Kindern von heute etwas zu viel Kriminalität angedichtet wird. Natürlich leben sie nicht vollkommen abstinent, doch ich bezweifle, dass sie das vor hundert Jahren getan haben.
„Nehmen Sie Platz“, sie macht eine ausladende Geste durch den ganzen Raum.
Ich setze mich höflich auf einen der Sessel und warte, bis sie ebenfalls Platz nimmt.
„Nun, Herr Kühn, was führt Sie zu mir?“, fragt sie.
Ich fühle mich unwohl gehemmt. Warum sollte ich einer Fremden meine Gefühle, meine Lebensgeschichte anvertrauen? Warum sollte ich mich freiwillig analysieren, kategorisieren, provozieren und in Schubladen stecken lassen? Vielleicht tu ich dasselbe, indem ich diesen Fakt voraussetze. „Ein Freund hat Sie empfohlen“, sage ich frech. Ich weiß, dass es nicht das ist, was sie hören möchte, aber es befriedigt mich auf absurde Weise, mich dieser Frage entzogen oder sie zumindest hinausgezögert zu haben.
Sie lächelt und kritzelt etwas auf ein Klemmbrett, welches sie versteckt vor meinen Blicken auf ihrem Schoss liegen hat. „Wir beginnen mit einfachen Fragen, damit ich Sie ein wenig besser kennenlernen kann.“
Ich nicke. Ihre dunklen Augen fixieren mich, wie es ein Raubtier auf der Jagd tut. Ich schlucke schwer.
„Gut, Ihre Kontaktdaten habe ich bereits. Was machen Sie beruflich?“ Sie lächelt, ein Zustand, der mir aufgrund ihres Unsympathisch-Seins sehr falsch vorkommt.
„Ich bin Künstler“, sage ich wortkarg. Ein Indiz für meine innere Verlegenheit, denn eigentlich liebe ich es, von mir und vor allem meiner Kunst zu erzählen.
„Was meinen Sie mit Kunst? In welche Richtung?“ Sie mustert mich von oben bis unten.
„Ich mache Musik“, sage ich, innerlich auf jede Diskussion bereit.
„War es das? Haben Sie keinen Beruf?“ Wieder dieses falkenartige Grinsen.
„Meine Band ist mein Beruf!“, empöre ich mich. „Ich studiere Philosophie“, schiebe ich auf ihren herausfordernden Blick schnell hinterher. Wieder höre ich das monotone Kratzen des Kugelschreibers.
„Was bedrückt Sie? Was ist Ihr Problem?“, fragt sie aufgesetzt.
Ich denke an Eva, an meine zerstörte Beziehung zu Levin und alles, was daran hängt. Zerstört ist ein ziemlich drastisches Wort, trotzdem ist es irgendwie das richtige. Ich fühle mich unwohl, irgendeine weitere Information über mein Leben preiszugeben.
„Was sind ihre Ängste?“, versucht sie es aus mir herauszupressen.
Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Natürlich habe ich etwas, das man vermutlich als Ängste bezeichnen könnte, doch nicht ausgeprägter als jeder andere sie hat. Und ist Angst nicht auch menschlich? Aber was ist schon menschlich? Ich überlege, bis ich kurz angebunden antworte: „Dummheit.“
Sie guckt verwundert, mustert noch einmal jedes Detail meines Äußeren, bis sie zögernd sagt: „Erklären Sie das.“
Wieder überlege ich. Die Worte geistern durch meinen Kopf, doch wollen sich nicht gescheit zusammensetzen. Erst als ich meine Antwort parat habe, bemerke ich, wie lange ich mich wirklich in meine Gedanken zurückgezogen habe. Nicht übertrieben lange, aber auch nicht so kurz, dass es nicht seltsam wäre. „Dummheit macht übermütig.“
„Weiter!“ Ermutigt sie mich schwach.
„Der Dumme weiß nicht, dass er dumm ist, er denkt nicht über Konsequenzen, Gefühle oder Wohlergehen anderer nach. Er tut eben“, ich atme tief durch.
„Nennen Sie mir ein Beispiel.“ Sie lächelt mich an.
Kurz überlege ich das Wort Nazi einzuschmeißen, doch ich habe keine Lust auf politische Diskussionen und Erklärungen. „Führungskräfte, Politiker“, sage ich, wobei ich merke, dass der Punkt mit der politischen Stellungnahme wohl doch nicht so ganz untergegangen ist. Sie zieht eine Augenbraue hoch, um mich zum Sprechen aufzufordern. In mir kocht es vom hinterfragt und analysiert werden.
„Sie denken, Politiker sind dumm?“, fragt sie verwundert.
„Nein, aber sollte es der Fall sein, müssen wir alle es ausbaden.“
„Bauen Sie das bitte weiter aus.“
Ich schließe kurz die Augen und atme durch, um nicht die komplette Beherrschung zu verlieren. „Ich denke, Dummheit führt zu falschen Idealen und Ideologien und zu einem seltsamen Gefühl von Macht.“
„Deswegen sind Sie aber nicht hier, oder?“
„Nein“, sage ich stumpf.
„Sondern?“
Ich setze zum Sprechen an, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken. Sie begutachtet mich ein paar Sekunden bemitleidenswert, dann beginnt sie selbst zu reden. „Wissen Sie, die meisten Patienten, die zu mir kommen, sind bereit, über ihre Probleme zu sprechen. Sie kennen ihr Problem und ich helfe ihnen, es zu verarbeiten oder entwickle im Gespräch Bewältigungsstrategien. Ich denke, Sie kennen ihr Problem selbst nicht. Sie kennen den Auslöser und die Konsequenzen. Aber wissen Sie, was es wirklich ist? Können Sie es benennen?“
Ja, will ich schreien, ja natürlich kenne ich mein Problem! Eva ist verschwunden, meine Schwester ist weg! Doch ich bringe es nicht übers Herz und ich verstehe, was sie meint. Das Problem liegt bei den Dingen, die Eva zurückgelassen hat. Wut, Trauer, Unentschlossenheit, Unverständnis. Alles Gefühle, die ich hinnehme, aber nicht hinterfrage.
„Sie müssen Ihr Problem erkennen, erst dann kann ich ihnen wirklich effizient helfen. Akzeptieren Sie!“
Der Rest der Stunde ist mehr ein Monolog ihrerseits. Ich lasse es über mich ergehen und zwinge mich, den Blick zur Uhr zu unterlassen. Als ich die Praxis verlasse, bin ich erleichtert, doch dann trifft es mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich begreife, wie tief ich mich ihre Worte erfasst haben und wie sie mich immer weiter hinunterreißen. Ich habe nichts weiter erzählt, kein Wort mehr gesagt als nötig, doch es ist der Moment, in dem ich begreife, dass ich zulassen muss. Alles zulassen muss, was mich kaputt macht, was mich von innen heraus zerstört. Eva ist weg und ich verschweige es vor mir selbst. Ich muss es akzeptieren. Ich weiß, dass es eine Erkenntnis meinerseits ist, die schon die ganze Zeit in mir geschlummert hat. Etwas, dass nur auf seine Zeit und einen kleinen Anstoß gewartet hat. Es scheint keine Täter zu geben, oder alle sind Täter in dieser Geschichte, in meiner, in unserer.
Kapitel 5
Als ich die Tür öffne, sitzt Arno erwartungsvoll auf dem Sofa unter dem geöffneten Küchenfenster. Draußen ist es heiß, doch wir leben im Dachgeschoss und so erkennen wir auch jedes heiße Lüftchen als frische Brise an.
„Wie ist es gelaufen?“, fragt er. Er schaut sich skeptisch im Raum um, bis sein Blick auf mir haften bleibt, doch ich weiche ihm aus.
„Ich denke …“, beginne ich nervös zu stottern. „Ich denke, es war ganz gut … für den Anfang.“
Er wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu. „Lass mich raten, Fynn! Du hast nichts von Eva erzählt.“
Kurz überlege ich zu lügen, aber Arno kennt mich zu gut. „Nein“, flüstere ich, bevor ich meinen Blick wortlos senkte.
Er atmet laut ein. Dann klopft er neben sich auf das Sofa und fordert mich auf, mich zu ihm zu setzen. Ich tue wie geheißen und lasse mich auf den weichen Stoff fallen. „Levin hat recht. Die Polizei muss unrecht haben!“, flüstere ich. Ich weiß, dass es wieder eines der Dinge ist, die mein Kopf tut, um mich ruhiger schlafen zu lassen. Eine der Sachen, die mich zwingt, mich auf etwas anders zu konzentrieren.
„Fynn, du musst akzeptieren, nicht prokrastinieren!“, erklärt er.
Bei einem Blick auf den vollen Tisch muss ich schmunzeln. „Musst du gerade sagen“, tadele ich ihn belustigt. Seit drei Tagen hat er seine Hausarbeit nicht mehr angeschaut. Daneben liegt ein ausgedrucktes Manuskript eines anderen Projektes. Dem neuesten Buch seiner eher minderen Autorenkarriere, dessen Deadline in fast einer Woche fällig ist.
„Das ist was anderes, ein bisschen zumindest“, sagt er leise. Der Hauch eines Lächelns huscht über seine Lippen. Auch ich muss schmunzeln.
Es ist 23.00 Uhr, draußen ist es ruhig. Der Großstadttrubel hat allmählich nachgelassen und nur ab und zu hört man ein Auto oder eine Gruppe lachender Menschen am Fenster vorüberziehen. Wir sitzen am Tisch und trinken. Wobei Trinken nicht die Hauptaktivität ist. Das reden wir uns ein. Wir nennen das ganze ´Spieleabend´, obwohl es ein sehr provisorischer Spieleabend ist. So provisorisch, dass wir uns nicht einmal die Mühe gemacht haben, ein Spiel zu besorgen. Sicher hätten wir Siedler von Catan spielen können, doch das wäre vermutlich sehr stereotypisch gewesen. Da Arno immer noch prokrastiniert und auch ich meine Probleme gerne hintanstelle, haben wir Freunde eingeladen. Carlo und Anna. Carlo ist ein Studienfreund, Anna seine Mitbewohnerin. Wir lachen ausgelassen, obwohl ich mich frage, ob es wirklich an unserem Sinn für Humor oder unserem Pegel liegt.
„Wollen wir nicht doch noch ins Beach gehen?“, fragt Carlo enthusiastisch. Der abgehalfterte Club in der Berliner Innenstadt, in dem wir sonst immer feiern gehen.
„Meinetwegen“, stimmt Arno ihm gelangweilt zu.
Auch Anna erklärt sich bereit, und so machen wir uns auf den Weg durch die Stadt. Die Luft ist warm und stickig, es ist die Zeit im Jahr, in der die Luft nicht mehr abkühlt und der sonst so kühle Wind seine Frische verliert. Wir steigen in die Straßenbahn und fahren zum Alexanderplatz. Von dort aus laufen wir die restliche Strecke. Als wir vor dem Club stehen, begrüßen uns die Türsteher skeptisch. Carlo hat mächtig einen sitzen und hält eine Flasche Prosecco in der Hand. Mehr aus einer Verkettung skurriler Ereignisse heraus als aus freien Stücken.
„Den müsst ihr hierlassen“, sagt einer der breitschultrigen Männer am Eingang.
Carlo guckt niedergeschlagen. „Okay Leute macht euch einen schönen Abend“, sagt er, sein Pegel ist ihm durchaus anzumerken.
Ich muss schmunzeln, auch Arno lacht, als sich unsere Blicke begegnen.
„Er meint den Prosecco“, flüstert Anna ihm zu und augenblicklich hellt sich sein Gesicht auf.
Der Türsteher öffnet widerwillig die Tür und lässt uns hinein. Es scheint, als finde er uns nicht ganz so schlimm, wie er es hätte tun können. Es ist dunkel und nur die blinkenden Lichter geben Aufschluss über das bunte Treiben. Die Tanzfläche ist fast leer, doch an der Bar drängen sich die Leute wie Mücken an einer Straßenlaterne. Wir suchen uns eine Stelle an der Bar, an der es einigermaßen erträglich ist. Ich finde, das habe ich verdient, dafür, überhaupt mitgekommen zu sein. Ich bin kein Partymensch, nicht solche Partys. Ich habe gerne Menschen um mich und ich lerne gerne neue Menschen kennen. Aber lieber vor oder hinter der Bühne, statt im blickenden Licht zwischen Tanzenden, deren Hüftschwung ihnen der Alkohol verleiht.
„Vier Wodka-Shots!“, ruft Arno über den Tresen, einem Barkeeper entgegen, der Anna unverschämt mustert.
Nach kurzer Zeit stehen die Shots vor uns. Ohne weiter darüber nachzudenken, kippe ich meinen hinunter und merke augenblicklich, wie es anschlägt. Meine Wangen werden heiß, für einen kurzen Moment wird mir schwindelig. Trinkfest ist anders. Es dauert nicht lange und schon steht der nächste Shot vor mir. Danach ein Cocktail, der für seinen Preis ein bisschen zu wenig schmeckt, und zum Schluss ein Wodka-Soda. Ein Wort, welches ich vorher noch nie gehört habe und welches ich hoffe, auch nicht so bald wieder hören zu müssen. Es ist das Letzte, das in meiner Erinnerung auftaucht.
Eigentlich habe ich nie Alkohol getrunken, aber in letzter Zeit wird es immer häufiger. Ich bin nicht alkoholkrank, absolut nicht, aber ich bin auch nicht mehr der verzichtende Typ, der ich vor einigen Monaten noch gewesen bin. Wobei das nicht an dem liegt, was die letzten Monate passiert ist. Auch wenn man das ohne Probleme glauben könnte.
Als wir am frühen Morgen die Bar verlassen, geht die Sonne über Berlin bereits auf und lässt den Himmel rot leuchten. Zu Hause falle ich erschöpft in mein Bett, mit der leisen Hoffnung, die nächsten zwölf Stunden liegen bleiben zu können.