EINBUCH Tipp/Bücher

Liebe Leserinnen und liebe Leser,

da ich, Patrick Zschocher, nun wirklich sehr lange Verleger bin und tatsächlich an jedem Buch im EINBUCH Buch- und Literaturverlag Leipzig gearbeitet, es also auch gelesen habe, glaube ich zu wissen, was wirklich gut und lesenswert ist. Allerdings ist auch das, bei Licht betrachtet, sehr subjektiv. Niemand ist wirklich zu einer objektiven Empfehlung in Dingen wie Literatur imstande. Und dennoch ist in dieser Rubrik ein Tipp gefragt, ja sogar dringend nötig.

Also nehme ich mir hier drei Freiheiten. Ich werde, erstens, nicht nur ein Buch empfehlen. Zweitens werde ich darüber hinwegsehen, dass meine Empfehlung subjektiv ist, und also drittens die Bücher empfehlen, an den ich persönlich das größte Vergnügen hatte, daran zu arbeiten, auch wenn diese Bücher teils schon vor längerer Zeit erschienen sind.

Da ich aber auch so nicht alle Bücher empfehlen werde können, die sehr lesenswert sind und empfohlen werden sollten, kann ich Ihnen darüber hinaus nur empfehlen, einfach auch nach den anderen bei uns erschienen Büchern zu schauen.

EINBUCH Buch- und Literaturverlag Leipzig

I.C.H. Verlag

Viel Spaß dabei. Und nun zu meinen Empfehlungen.

Und um wenigsten hier so ein bisschen objektiv zu sein, werde ich nur das Cover abbilden und dazu einen kurzen Textauszug, der zugegeben dann wieder subjektiv sein könnte.

 

 

Ich hatte mich durch meinen Rückzug aus der Klasse genau in die Position gebracht, in der ich bewusst sein wollte. Mein Unterbewusstsein war da vermutlich ganz anderer Meinung. Es sah wohl einen Widerspruch zwischen dem menschlichen Sozialbedürfnis, das offenbar jeder mehr oder minder hat, und meinem Verhalten. Das war für das Unterbewusstsein ein innerer Widerspruch, den es mir mit diversen Fehlverhalten klar machen wollte: Alles-Viermal-machen-Tick, Selbstschlagen … eigentlich waren das nicht nur unbewusst, sondern ganz bewusst die miesesten Jahre meines Lebens.

Nichts konnte meinen eigenen Ansprüchen gerecht werden, ich fühlte mich überall scheiße, sozial völlig zurückgeblieben, dumm, minderwertig, zu schlecht für die Schule, hatte keine Meinung oder ich getraute mich nicht sie zu äußern, konnte keine Gefühle ausdrücken, war extrem scheu und ich hatte nicht den Hauch einer Hoffnung, je eine Freundin zu haben. Und ich hatte immer Angst, eigentlich vor allen Lehrern, weil sie die Macht hatten, mich vor der Klasse bloß zu stellen, vor Sprachen, vor dem Aufgerufenwerden in der Klasse, vor Mädchen und so weiter und so fort. So einer wie ich braucht dringendst Schläge.

 Jeder 67ste Mann und jede 143ste Frau beendet ihr Leben mit Selbstmord. Die Schweiz war Deutschland in der Vergangenheit diesbezüglich immer eine Nasenlänge voraus. Die Suizidversuchsrate ist schätzungsweise 10-15mal höher als die Suizidrate. Frauen haben eine hohe Suizidversuchsrate, Männer dafür eine höhere Suizidrate.

Die Wissenschaft unterscheidet zwischen der Suizididee, dem Suizidversuch und schließlich dem geglückten Suizid. Ein Suizidversuch lässt sich wie folgt definieren: Ein selbst-initiiertes, gewolltes Verhalten eines Patienten, der sich verletzt oder eine Substanz in einer Menge nimmt, die die therapeutische Dosis oder ein gewöhnliches Konsumniveau übersteigt und von welcher er glaubt, sie sei pharmakologisch wirksam.

Der Suizidversuch kann durch drei verschiedene Motive begründet werden:

  1. Parasuizidale Pause mit dem Motiv der Zäsur
  2. Parasuizidale Geste mit dem Motiv des Appells
  3. Parasuizidale Handlung mit dem Motiv der Autoaggression

Bei (a) will man nur abschalten, schlafen und in Ruhe gelassen werden, ohne dass man den Wunsch zu sterben für sich formulieren würde.

Bei (b) steht der Appell an den Mitmenschen im Vordergrund. Der Suizidversuch wird so ausgeführt, dass derjenige, an den der Appell gerichtet ist, einen findet. Zudem führt man ihn so aus, dass man mit höchster Wahrscheinlichkeit auch wirklich noch rechtzeitig gefunden wird.

Bei (c) will man eindeutig sterben und ins Gras beißen.

Simulanten können leicht entlarvt werden. So lässt sich die Ernsthaftigkeit eines Selbstmordes mit drei Kriterien identifizieren. (i) Der Suizidintention, das heißt wie ausgeprägt der Wunsch zu sterben ist, (ii) dem Suizidarrangement, das heißt, inwieweit der Betreffende ein Auffinden seiner Person nach erfolgtem Suizidversuch möglich oder unmöglich macht und schließlich (iii) der Suizidmethode, das heißt, ob sie weich ist wie mit Tabletten, Drogeneinnahme, oberflächliches Ritzen am Handgelenk, oder ob sie hart ist wie Erschießen, Erhängen oder Einnahme einer sehr giftigen Substanz.

´Ist das nicht witzig? Und am amüsantesten ist, dass es scheiß egal ist, ob sich jemand die Birne wegpustet, sich unter den Zug wirft oder in die Luft fliegt. Denn es ist seine eigene Entscheidung und einen Sinn, hier zu bleiben, gibt es nun wirklich nicht´, denkt er.

Ich begann ein eingehendes Studium zum Thema Selbstmord. Wahrscheinlich Selbstmord im Sinne einer parasuizidalen Geste mit dem Motiv des Appells. Da gibt es eine breite Palette an Möglichkeiten. Um Selbstmord im Sinne eines Appells zu begehen, verlangt das Unterbewusstsein eine Methode, die möglichst nach Selbsttötung aussieht. Das Timing für das Auffinden und die Handlung selbst muss dabei äußert sorgfältig geplant werden, sonst könnte man sterben. Der Hilfeschrei an die Angehörigen, ´Mir geht es scheiße´ soll schließlich auch ankommen, und nicht, ´Mir ging es scheiße´! Es scheint eine weiche Methode dafür geeignet zu sein: Sich die Pulsadern aufschneiden (in Querrichtung), eine Überdosis Schlaftabletten einnehmen und die Schachtel gut sichtbar deponieren, eine Vergiftung im Auto mit dem Staubsaugerschlauch (dabei aus Versehen mit dem Kopf auf der Autohupe einschlafen), nichts mehr essen oder in einen Fluss springen. Kreativeren Köpfen stehen weitere Möglichkeiten zur Verfügung: Einen Palstek anstelle eines Henkerknotens in den Strick knüpfen, der zieht sich bekanntlich nicht zusammen. Oder man befasst sich intensiv mit dem Energieabbau der Knautschzone des elterlichen Autos und fährt dann mit untersetzter Geschwindigkeit in eine Mauer. Weiter könnte man sich zu Tode saufen.

Methoden für den Selbstmord mit dem Motiv der Autoaggression müssen da schon etwas ausgeklügelter und härter sein. Ich könnte mir nichts Schlimmeres vorstellen, als nach einem völlig verpfuschten Leben auch noch beim Selbstmord zu versagen. Wie mies muss man sich fühlen, wenn man nicht mal das auf die Reihe kriegt? Zu den populärsten dieser Gattung gehört das Erschießen, sich mit Sprengstoff in die Luft jagen (man achte auf eine hohe Brisanz), sich den goldenen Schuss geben, sich erhängen, diesmal mit dem richtigen Knoten, nochmals die Pulsadern aufschneiden, diesmal aber in Längsrichtung oder sich nochmals mit einer Überdosis vergiften, aber diesmal nicht mit harmlosen Schlaftabletten. Auch hier gibt es wieder die kreativeren Ansätze: Betonklotz an die Füße und vom Schiff springen, sich freiwillig zum Krieg melden, in einen Schmelzofen springen, einen Berufskiller auf sich ansetzen oder sich mit Aids infizieren.

Ich habe schlussendlich keine dieser Methoden ausprobiert. Es blieb nur beim Gedankenspiel, bei der banalen Suizididee, ich feige Sau. Mir ging es wohl zu gut!

Ich fand schließlich eine andere Flucht. Ich wollte meine Minderwertigkeit kompensieren. Ich wollte auf einem Gebiet unschlagbar, allen überlegen sein und berühmt werden.

César Econda: Durchschnittliches Leiden

Der nächste Morgen begann mit einer Katastrophe: Sein Hosenträger hatte es auf ihn abgesehen und verpasste ihm ein blaues Auge.

„Guten Morgen!“ Karl-Ernst bemühte sich um Freundlichkeit, doch es klang heuchlerisch, weil es so ungewohnt war. Fünfzehn verängstigte Menschen jeden Alters starrten ihn an. Woran mochte das wohl liegen? An seinem blauen Auge? An seiner imposanten Persönlichkeit? Sie werden doch wohl nicht irgendwelche Erwartungen haben … Was zum Sportler tut man in einer Selbsthilfegruppe? Er konnte sich doch schlecht hinstellen und sagen: „Hallo! Ich bin – ähm –  Jonathan und dies ist eine Selbsthilfegruppe für Sektenaussteiger. Möchte sich bitte jeder kurz vorstellen und uns erzählen, welche Manipulationstechniken in seiner Sekte zum Einsatz kommen.“ Kaum hatte er dies gedacht, ertappte er sich dabei, wie er sich hinstellte und ebendiese Worte zur Einführung sprach.

Schweigen.

Schweigen.

Hatten sie ihn nicht verstanden, oder hatte er es doch noch nicht gesagt?

„Hallo ich bin der Bertram, aber in meiner Sekte hieß ich Weißer Hirsch“, wagte ein kleiner glatzköpfiger Mann mittleren Alters seine Stimme zu erheben. „Hallo Bertram!“, antworteten die vierzehn Anderen, erleichtert, dass einer das Wort ergriffen hatte. „Bis ich vierzehn war, hielt ich sie für die Pfadfinder“, fing Bertram an zu erzählen. „Aber dann banden sie mir einen frischen Elchkopf auf den Kopf – ich war nackt und dann sollte ich einen Altar aus einem Stein meißeln. Ich hatte 77 Stunden Zeit, aber schon nach dreieinhalb Minuten kamen die Fliegen…“ – „Und warum haben Sie sich diesem sinnfreien Initiationsritus unterzogen?“ – „Na, weil Sie mir sagten, dass ich dann in die Pornobibliothek dürfte! Die ist es wirklich wert! Aber dann vor zwei Monaten – sie kaufte Blasentee und ich Viagra für eine Viagraparty meiner Sekte – jedenfalls, Irmela will nicht, dass ich da weiter hingehe.“ „Danke, Bertram!“ Karl-Ernst reflektierte kurz, was er aus diesem Bericht gelernt hatte. Pornofilme – die ließen sich in der freien Marktwirtschaft nur schwer anbringen …

„Gut, würden Sie bitte von Ihren Erfahrungen berichten!“, wies er eine zierliche, blasse Frau mit einer Muschelkette an. „Hallo, ich heiße Amalthea und mein Ziel ist es, irgendwann wieder ans Meer fahren zu können, ohne rückfällig zu werden. Ozeanus trat vor fünf Jahren in mein Leben.“ Sie sprach leise und getragen. „Er wollte eine Stadt unter Wasser errichten, fernab von dem hoffnungslosen hektischen Treiben unserer Zivilisation – er versprach uns eine neue Welt voller Ruhe und Frieden. Er wollte uns abholen, wir sollten am Strand warten: auf das strahlend weiße U-Boot, zu dessen Seiten Delphine und Haie einträchtig im Wasser spielen. Seit ich ihn zum ersten Mal in Wien in einem fahrbaren Planschbecken mit einem Meerjungfrauenschwanz sitzen sah und seine betörenden Worte vernahm, stand ich praktisch ununterbrochen an der Ostsee am Strand und hielt Ausschau nach dem verheißenen U-Boot. Vor einem halben Jahr wachte ich im Krankenhaus mit einer Lungenentzündung auf. Als ich aufspringen und wieder zum Meer gehen wollte, hielt man mich auf und verlegte mich in die psychiatrische Abteilung. Ich wurde eigentlich als geheilt entlassen, aber mir wurde geraten, mich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen.“

Hm, das war schon interessanter, diesen Ozeanus müsste ich mal kennenlernen, dachte Karl-Ernst. „Das reicht für heute, kommen Sie morgen wieder!“, verabschiedete er sich und machte sich auf den Weg zu seinem Büro.

In der Ecke der Eingangshalle kauerte etwas auf dem Boden. „Betteln und Hausieren ist hier verboten“, herrschte er es an und trat ihm hart in die Rippen! „Herr Vorsitzender“, keuchte Udo Wutzki, „wie ist es gelaufen?“ „Ha, ha, Udo, immer noch auf dem Boden der Tatsachen. Sind Sie eine Blindschleiche? Ha, ha, ha!“ „Ich merke, Sie sind glänzender Laune, Herr Vorsitzender.“ „Ja, ja in der Tat!“, hornte Karl-Ernst und schlurfte fröhlich von dannen.

Nach dem Essen stattete er der Buchhaltung einen Besuch ab. Er sah sich um, doch leider konnte er an nichts Anstoß nehmen, deswegen tackerte er die Gardinen zusammen und freute sich, dass seine Angestellten nicht mehr durch das Tageslicht abgelenkt werden konnten. „Fälschen Sie diese Bilanz noch etwas mehr“, wies er beim Rausgehen einen jungen Angestellten an. Dann stieg er in den Fahrstuhl und fuhr zum Parkdeck. Beinahe beschwingten Schrittes näherte er sich seinem Auto.

Da war ein Kratzer, hauchfein. Seine gute Laune war verflogen. Er überfuhr vier Stoppschilder, eine rote Ampel und ein Kaninchen, bevor er in die Auffahrt seiner Produktionsstätten einbog. „Was macht die Schrittlängen verkürzende Zwickel-verstärkung? Anprobieren!“, herrschte er den am sportlichsten aussehenden Arbeiter an. „So Seitgalopp!“, würgte er ekel-erfüllt hervor. Mit einer ruckartigen Bewegung riss er das Mundspray aus seiner Westentasche, um die sportliche Kontamination wegzudesinfizieren. Zu Karl-Ernsts größter Zufriedenheit stolperte die Testperson schon beim zweiten Galoppsprung, weil sich der viel zu weite Bund nach unten klappte. Jedoch verbarg er seine Begeisterung. „Sie Tölpel, jetzt ist die Hose dreckig, die kann man nicht mehr verkaufen, die wird Ihnen vom Lohn abgezogen!“

Christine Andres und Nora Molkenthin: Insektensektensekt

Nunziato Pastianelli wurde davon nicht berührt. Er war ein so kleiner Kleinbauer, dass aus ihm nichts herausgepresst werden konnte. Ihm waren die Mafia und die Camorra, der Islam und das Christentum (daran dachte seine Frau Giuseppina, die trotz des ausdrücklichen Verbots ihres Mannes dem fetten Klerus sonntags regelmäßig, aber heimlich ein paar mühsam vom Munde abgesparte Euro-Münzen in den Klingelbeutel warf!), Pfush und Input, aber auch King scheißegal. Nach dem Kriege hatte er kurze Zeit tatsächlich an den Kommunismus geglaubt, jetzt nicht mehr. Er war zufrieden mit der Bestellung seiner wenigen Felder, die gerade so viel hergaben, dass seine Familie nicht halb nackt herumlaufen musste und ausreichend zu essen hatte. Begriffe wie Urlaub und Reisen kannte er nur aus der (selten gekauften) Zeitung und dem (von mittags bis spätnachts eingeschalteten) Fernsehen.

Nunziato war vierschrötig, nicht dreibastig, aber einsilbig und zweibeinig, wie er selbstzufrieden mit breitem Lächeln von sich zu sagen pflegte. Was er damit genau meinte, hatte niemand zu ergründen versucht.

Seit zwei Monaten war Nunziato stolz, über alle Maßen stolz, denn seine Tochter Manuela hatte ihm ein Enkelkind – einen Jungen! –  geboren, dass er regelmäßig nach dem Mittagessen im Kinderwagen durch das kleine Bergdorf spazieren fahren durfte.

Sein Schwiegersohn war Volksschullehrer, ein Intellektueller, wie Nunziato nicht müde wurde, in seinem Bekanntenkreis hinauszuposaunen, obwohl er sich in seiner Anwesenheit nie richtig wohlfühlte, das heißt stets nervös und ungelenk auftrat und immer froh war, wenn Manuela allein mit ihrem Kind nach dem Essen hereinschaute.

An einem strahlenden Mainachmittag brach Nunziato zu der gewohnten Ausfahrt auf. Er hatte reichlich Pasta gegessen und sich zwei Gläser Landwein gegönnt, die ihm leicht zu Kopf gestiegen waren, ließ sich jedoch nichts anmerken, auch wenn seine Tochter sich erkundigte, ob ihm ganz wohl sei.

Der kleine Junge liebte die Spazierfahrten wie alle Kinder in seinem Alter. Der Opa erklärte ihm unterwegs mit liebevoller Stimme, warum ein alter angeketteter Hund sie anbellte (weil er gerne mitgekommen wäre!) und warum eine Katze im Sonnenschein laut gähnte und einen liebestollen Kater verächtlich anfauchte (weil er räudig und hässlich war!). Der Junge lachte beim Anblick der Tiere, als hätte er seinen Großvater verstanden, und Nunziato – nachdem er sich umgesehen hatte, ob er auf der abschüssigen Straße auch nicht beobachtet wurde – beugte sich zu ihm hinab und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

Da geschah etwas Schreckliches, das schrecklichste, das grausamste, das ungerechteste, das schlimmste aller vorstellbaren Missgeschicke: Nunziato wurde plötzlich schwindelig, er taumelte, ließ den Kinderwagen fahren und fiel der Länge nach um, ohne jedoch die Besinnung zu verlieren. Er versuchte vergeblich, sich aufzuraffen, um dem Wagen nachzurennen, aber er schaffte es nicht. Die Szene erinnerte an Eisensteins Meisterwerk Der Panzerkreuzer Potemkin, nur war dies kein Film, die Szene nicht gestellt, das Kind keine Puppe, die Gasse keine Treppe. Nunziato schrie um Hilfe, der Junge weinte vor Angst in dem immer schneller werdenden Wägelchen, das nicht umfallen wollte, sondern die Gasse hinunterraste, auf die Kreuzung mit der Hauptstraße zu. Einige Fenster wurden aufgerissen, niemand begriff die Situation sofort, dann Schreie, quietsch-ende Bremsen und ein Zusammenprall. Der Kinderwagen mit dem Jungen wurde von einem Lastwagen erfasst, mitgeschleift und zerdrückt, platt gewalzt, vernichtet, ausradiert. Dann Stille, Totenstille, minutenlang, endlos lang.

Ein paar Frauen kamen aus den Häusern gelaufen und schrien ihr Entsetzen zum Himmel. Der Lastwagenfahrer lief weinend von einer Straßenseite auf die andere und wieder zurück, wusste nicht wohin, wusste nicht warum, rief die Frauen zu Zeugen für seine Unschuld auf, schlug sich mit den Fäusten gegen die Stirn, kniete in den Rinnstein und gab seiner Verzweiflung mit unverständlichen Schluchzlauten Ausdruck.

An jenem Nachmittag verlor Nunziato Verstand und Sprache. Er hockte fortan den ganzen Tag untätig auf einer Bank im Garten, sagte kein Wort, schien niemanden und nichts mehr wahrzunehmen, zeigte keine Regung, wenn ihn jemand ansprach, blickte ausdruckslos vor sich hin bis zum Abendessen, das ihm seine Frau stumm auf dem Küchentisch servierte und das er nicht anrührte. Er aß nicht und trank nicht, saß nur einfach da mit abwesenden Augen, die ihre Funktion verloren zu haben schienen.

Wochen später starb Nunziato an Unterernährung. Er war völlig abgemagert und ausgetrocknet und glich schon vor seinem letzten Atemzug einer Mumie.

Es ist besser so, für ihn und für alle! Der Arme! Sein Leben hatte ja ohnehin keinen Sinn mehr! Das hatte er nicht verdient! So etwas verdient niemand!

An Kommentaren mangelte es nicht in dem kleinen Dorf. Nunziato mit seiner Einsilbigkeit war nicht wirklich beliebt gewesen, aber die Grausamkeit des Schicksals, das ihm widerfahren war, berührte die Menschen irgendwo im Innern, verwirrte sie in ihrer Beziehung zum Heiland und zur allmächtigen Kirche und gab dem zu denken, der nicht alles als gottgegeben hinnahm.

Dieter Moselt: Wer die Wahrheit sagt … braucht ein verdammt schnelles Pferd

Freie Platzwahl

Wie jeden Abend schreibe ich auf einen A4 großen Zettel: ICH WILL NICHT VERBRANNT WERDEN!, falte das Papier einmal und lege es behutsam unter mein Kopfkissen, knipse das Licht aus und schließe meine Augen, um mir mein Schlaflied zu singen: MORGEN FRÜH, WENN GOTT WILL, WIRST DU WIEDER GEWECKT.

Noch während der ersten Strophe kommt mir der ewig gleiche Gedanke zu diesem Lied: Die Wahrscheinlichkeit, dass mich Gott vergessen könnte, ist bei ungefähr sechs Milliarden Menschen sehr hoch. Sechs Milliarden als Zahl kann ich mir nicht mal vorstellen. Geschweige denn die Anzahl an Menschen. Selbst wenn sich alle in einer Reihe aufstellen, die ungefähr sechs Milliarden Menschen. Eine unüberschaubare Reihe. Ein gnadenloses Gewimmel. In so einem Gewimmel verliert man leicht den Überblick. Wenn er mich vergessen würde, der liebe Gott, ich könnte es ihm nicht mal verübeln.

Dann wäre ich am Morgen einfach verschwunden. Ich wäre an einem anderen Ort, weit weg von diesem Dorf, weit weg von der Schule und niemand würde mich verfolgen und mit schlechter Milch übergießen. Ich würde einfach in meinen Träumen bleiben. In der Nacht würde ich zu dem kleinen Affen auf dem viel zu großen Baum werden und müsste nie wieder zurückkommen. Ein kleiner Affe mit zu kurzen Beinen und viel zu langen Armen. Ich hätte braunes dichtes Haar, kraftvolle Muskeln und schwarze kleine Augen. Ich könnte mich den ganzen Tag durch die Bäume schwingen, an meinen Füßen pulen und mir hin und wieder eine Banane schälen. Es gäbe nur mich, den Baum und die Bananen.

Schlafen und warten, diese Nacht muss mich Gott einfach vergessen, er kann nicht wollen, dass mich meine Mutter weckt und die Quälerei von vorne beginnt. Wieder in diese Schule, wieder diese anderen Kinder. Wieder den ganzen Tag verstecken, den Mund halten und bloß hoffen, dass keiner merkt, dass ich nichts mit ihnen gemeinsam habe. Sicher würde mich meine Familie am Anfang vermissen, doch das würde schnell vergehen. Sie hätten mehr Platz im Auto und mehr Zeit im Bad. Mein Zimmer könnten sie als zweites Wohnzimmer nutzen. Ein Wohnzimmer ist zu klein für fünf Menschen mit sehr unterschiedlichen Geschmäckern. Meine Mutter und Julia könnten das neue Wohnzimmer nach ihren Vorstellungen gestalten und mein Vater und Sascha belagern weiterhin die Couch und beobachten das Geschehen im Fernseher. Es gäbe viel weniger Streit.

Wahrscheinlich würde ich der Oma Pauline am meisten fehlen. Sie müsste ihren Pfefferminztee von nun an alleine trinken und könnte niemandem mehr ihre Geschichten über die vier Freunde erzählen. Sie würde jeden Tag in ihren alten Tagebüchern lesen und alle paar Minuten aus dem Fenster sehen. Immer in der Hoffnung, dass ich doch noch um die Ecke biege, in die Küche gerannt komme, um meinen liebsten Platz auf der Fensterbank einzunehmen. Doch ich würde nicht kommen können, weil ich ein kleiner Affe auf einem riesigen Baum wäre. Ich würde den ganzen Tag den Melodien lauschen und die Blätter beim Tanzen beobachten und alles vergessen, was davor passiert ist. Ich wäre nicht mal mehr alleine, weil ich nicht wüsste, dass es noch andere Affen gibt. Kein Gestern, kein Morgen. Nur dieser Traum.

„Aufstehen Kind. Es ist halb sieben.“ Die Parole der Morgenrunde – Vorhänge auf, das Fenster gekippt und ein Kuss auf meine Stirn. Ein Ritual und ich bin zurück vom Baum. Gott hatte an mich gedacht.

Enttäuscht ziehe ich den Zettel unter meinem Kopfkissen hervor, reiße mundgerechte Stücke ab, um sie einzeln in meinen Mund zu stecken, kaue so lange auf den Einzelteilen rum, bis ich imstande bin, ihn runter zu schlucken. Falte die Abschiedsbriefe an meine Familie viermal, lege sie behutsam in ihre Schachtel und verstaue sie in der hintersten Ecke meines Wandschranks. Gehe schweigend in die Küche. Alle vier sitzen am Tisch und reden wild durcheinander. Worum es geht, kann ich selten mit Gewissheit sagen. Vielleicht reden sie auch alle über unterschiedliche Themen. Obwohl ich noch stehe, kann ich ihre Köpfe riechen. Der unverwechselbare Muff der Schläfrigkeit dringt bis in meine Höhe. Eine ganze Nacht hatte sich ihr Haar in ihre Federkissen vergraben und diesen Kopfgeruch produziert. Ich wünschte, sie würden sich ihre Köpfe waschen, jeden Morgen. Mein Vater rückt meinen Stuhl ein Stück vom Tisch, schenkt mir Tee in meine Fliegenpilz-Teetasse und legt mir, wie jeden Morgen, meine Pillen daneben. Das Aroma der Tasse übertüncht den Kopfgeruch. Drei Schluck, dann die erste Pille, wieder drei Schluck und die zweite. Meine Mutter reicht mir den Brotkorb rüber und hält ihn mir so lange vors Gesicht, bis ich mir schweigend eine Scheibe nehme, reinbeiße und den Rest mit auf meinen Weg ins Bad nehme.

Kauend betrete ich die Dusche und lasse das warme Wasser über meine kalte Haut prasseln. Jeder Tropfen bringt mich ein Stück näher an diesen Tag. Es wird der erste Tag als Schülerin einer achten Klasse. Wie gerne wäre ich in meinem Traum geblieben. Wie gerne wäre ich dieser kleine Affe am unteren Ende des Baums. Ich würde in die unzähligen Äste starren, dem Rauschen der Blätter lauschen und mir eine Banane pflücken, wenn ich Lust dazu hätte. Doch ich bin wach und muss diesen Tag mit den Anderen teilen.

Jeder Regen ist wie ein kleiner Applaus

Zehn Jahre ist dieser Morgen her und ich sehe noch heute diesen Baum mit dem kleinen Affen, höre die Melodie des Baumes und kann jedes winzige PING der Tropfen hören. Es ist halb vier am Nachmittag. Ich blicke in das Grau des verregneten Novemberhimmels und denke über diesen Morgen vor zehn Jahren nach. Schiebe meine Erinnerungen hin und her. Rieche an meinen Haaren. Schließe die Augen, um mich auf meine Erinnerungen zu konzentrieren.

Nach einer ganzen Weile macht mich das unruhiger werdende Gemurmel meiner Mitstudenten wach und darauf aufmerksam, dass neunzig Minuten vorbei sind. Der kleine Professor steht vor seinem Laptop, projizierte neunzig Minuten Bilder an die Wand und berichtete aus Büchern. Ich vermute, er hasst seinen Job. Freude oder Hingabe fehlen. Er sieht winzig klein von hier oben aus, steht vor dieser nutzlosen Tafel und berichtet emotionslos über die volkswirtschaftlichen Zusammenhänge der modernen Welt, verwendet Wörter, wie Spieltheorie und Makroökonomie. Er berichtet so abstrakt von all diesen Dingen, dass ich nicht umhin komme, mich zu fragen, ob er sich selber glaubt. Wie in all den anderen Fächern, die ich die letzten zwei Jahre ausprobiert habe, finde ich nichts in diesen Sälen, was mich daran glauben lässt, hier richtig zu sein. Die riesigen grauen Wände produzieren nur die Illusion der Konzentration. Das Tippen auf die Tastaturen der Laptops demonstriert Interesse. Interesse an die bloße Hoffnung, dass uns das Wissen, was wir hier erlangen sollen, zu einem Menschen macht, der was zu sagen hat. Doch die bloße Hoffnung ist mir zu wenig. Ich bin nach Halle an der Saale gekommen, um in den Gemäuern dieser Uni was zu suchen. Im Grunde bin ich aus meinem heimatlichen Dorf geflohen, um was zu finden. Doch außer der Erkenntnis, dass ich mich falsch fühle, habe ich bisher nichts gefunden. Jeden Tag in den vergangenen zwei Jahren tappte ich durch die Gemäuer dieser Uni, schlich durch mufflige Flure kleiner, schlecht renovierter Häuser, suchte nach Literaturlisten und kopierte Texte. Ich belauschte die anderen Studenten bei ihren Gesprächen über die Inhalte der unterschiedlichsten Fächer. Immer auf der Suche nach meinem Interesse, meiner Gier nach Erkenntnis, meinem Drang nach Lernen und Folgen. Doch immer wieder sitze ich auf meinem Platz in der letzten Reihe und schaue den Regentropfen beim Fallen zu.

Die Vorlesung wird durch kurzes Klopfen auf die Holzklapptische geschlossen. Jeder erhebt sich von seinem Platz. Die Bänke klappen nach oben und erzeugen dieses müde Geräusch von Flucht. Ich schnappe mir meinen Block und schließe mich der schleichenden Masse an, eine Stufe nach der nächsten, hinab in Richtung Tür. Seit dem ersten Tag an der Uni setze ich mich immer in die letzte Reihe und beobachte, neben den Regentropfen, auch die vielen Hinterköpfe vor mir. Die meisten sehe ich sehr häufig, habe jedoch nie das Bedürfnis, mich mit dem Vorderkopf zu unterhalten. Den Köpfen und mir fehlen schlicht die Gemeinsamkeiten. Sie studieren und ich beobachte sie und starre auf ihre Hinterköpfe. Sie alle verfolgen beharrlich ihre Strategien, um sich Ziele zu stecken, manche wirken ganz zufrieden mit ihren Entscheidungen und der Rest lenkt sich großzügig ab. Sie tragen gedeckte Farben und Mützen in geschlossenen Räumen. Egal welche Jahreszeit ist, einer hat immer eine Mütze auf. Ihre Köpfe muffen. Sie waschen ihre Mützen nie und ihre Haare zu selten. Nach neunzig Minuten ist der komplette Saal in einen Teppich aus Kopfgeruch gehüllt. Unerträglich.

Seitdem ich denken kann, versuche ich zu begreifen, warum ich hier bin. An manchen Tagen, besonders heute, erscheint mir das Ganze als ein riesiger Irrtum. Ich bin zwar dabei, aber ich nehme trotz aller Bemühungen nicht teil. Dabei wünsche ich mir nichts mehr, als das Gefühl mitzuspielen. Mit meinem Blatt auf der Hand. Alles auf eine Karte setzen und zu spüren, was es heißt, für eine Sache auf der Welt gemacht worden zu sein. Nichts zu erwarten, aber an den richtigen Stellen zu lachen. Doch alles, was ich bis hierher sehe, sind all die gescheiterten Versuche meiner Entscheidungen. Jeder Einsatz meiner Kräfte versiegt in Bedeutungslosigkeit und produziert den ewig gleichen Muff. Nach den Vorlesungen, zwischen Mittagessen in der Mensa und bevor ich ein neues Seminar besuche, drängt sich mir immer häufiger die Frage auf: Was ist, wenn es immer so bleibt? In meinem Magen breitet sich ein modriger Kloß aus und ich muss aufstoßen. So schmeckt Angst – Angst vor dem, was die Hinterköpfe als Zukunft bezeichnen.

Hanna Montag: Ein Himmel voller Haie

Herr Richter hatte noch Dutzende solcher Briefe gefunden und Marie mit großer Freude vorgelesen. Dazu hatten sie drei Flaschen Milch getrunken. Nun, hauptsächlich hatte Herr Richter Milch getrunken, sicher zweieinhalb der drei Flaschen. Dafür musste er immer mal aufstehen und sein Vorlesen unterbrechen, für jede neue Flasche einmal. Beim zweiten Weggehen hatte er etwas länger gebraucht, natürlich ohne ein Wort darüber zu verlieren. Marie war sich sicher, dass er da mal pinkeln musste. Man kann ja nicht pausenlos Flüssigkeit nur in sich hineinschütten, die muss auch wieder raus.

Und während er fort war, hatte sie sich von ihrem Platz aus umgesehen, aber nicht wirklich viel Besonderes entdecken können. Herr Richter lebte offenkundig sehr bescheiden. Genau genommen war Herr Richter das Besondere in diesem Raum, wenn er denn da war. Auch wenn er unscheinbar wirkte, so kindlich freundlich, offenbar in sich zurückgezogen lebte und kein Wort sagte, bis auf das was er vorzulesen hatte, so hatte er doch etwas an sich, mit seinen kurzen schwarzen Haaren, dem muskulösen Hals und seinen kräftigen Händen, etwas, das Marie das Gefühl gegeben hatte, in diesem Raum, bei diesem Mann gut aufgehoben und beschützt zu sein.

Das bemerkte sie allerdings erst so richtig, als sie gegangen war, auf ihrem Rad saß, durch den feuchten und so schön nach Kiefer riechenden Grenzwald in Richtung S-Bahn fahrend. Es erstaunte sie, und sie merkte gerade da auch, dass sie über die Freundin des Herr Richter nachgedacht hatte, von der sie jetzt gar nicht mehr glaubte, dass die imaginär gewesen sei oder wäre. Genau das hatte nämlich das Buch, in dem der Herr Richter ohne sein Wissen eine tragende Rolle spielte, behauptet. Es hatte behauptet, der Herr Richter, der in dem Buch einen anderen Namen trug, eine Bezeichnung, sei eigentlich ein Aufschneider und Wichtigtuer, der ganz bewusst sich anders kleide und verhalte, sich fälschlich über die Maßen bescheiden gäbe, einfach nur um jemand Besonderes zu sein, ein Wahrzeichen, ein Maskottchen dieser Stadt, und besonders dieses Stadtteils. Was dem ja auch gelungen sei, schließlich würde sich sogar jenes Buch mit ihm befassen, obwohl der Autor lange mit sich hätte ringen müssen, das eigentlich gar nicht wolle, er doch keine Egomanen unterstützen könne. Und obendrein sei der Herr Richter, der wie gesagt in dem Buch gar nicht Herr Richter hieß, mit voller Absicht genau in den Audi des Oberbürgermeisters gesprungen. Er habe ihn abgepasst und danach, aus dem Krankenhaus heraus, weiter an seiner Legende gearbeitet. So hatte es in dem Buch gestanden.

Doch Marie hatte nun einen völlig anderen Eindruck von diesem Mann. Sie war sicher, dass der nicht lügen würde, keine Geschichten erfinden. Er war authentisch, das stand für sie fest. Und sie glaubte auch, dass er ganz genau vor solchen Leuten wie eben diesem Autor, wahrscheinlich auch vor Leuten wie sie und Pierre es waren, aus dem Haus, in dem sie jetzt wohnte, auf diesen Hof geflohen war. Und sie hatte den Eindruck, dass diese Kiste mit den Briefen, den Briefen an diese Frau, alles war, was er neben dem bescheidenen Zimmer auf dem Hof noch hatte, was ihm geblieben war. Und doch schien er nicht unglücklich, war im Gegenteil sehr zufrieden mit dem Hier und Jetzt und seinen Briefen. Das war zu hören und ihm anzusehen.

Den letzten der Briefe, den er ihr so gerne vorgelesen hatte, den hörte sie sich auf der Fahrt nach Hause in der S-Bahn, in der sie fast alleine saß, noch einmal an. Sie hörte die Stimme, erinnerte sich und war seltsam zufrieden.

„Augen auf, und da bin ich wieder. So einfach geht das. Das, was wir träumen ist, glaube ich, die für uns am leichtesten zu erreichende Welt, außer der alltäglichen. Und ich frage mich, ob man nicht einfach gewissen Dingen aus dem Weg gehen kann, indem man einfach länger dort bleibt, ob man so nicht vielleicht sogar dem Tod ausweichen kann. Unsinn, oder?

Ich gehe auch gleich los. Und ich nehme Sie mit. Was halten sie davon? Wir werden irgendwann in einem Café sein. Das, in das ich schon so lange gehe, um den Leuten zuzuschauen und solche Sachen. Noch ist Plagwitz ruhig, aber ich ahne da was. Und ich beschreibe Ihnen das kurz, also das Café, dann muss ich das nachher nicht tun und kann Ihnen mehr von den Leuten schreiben.

Also das Café liegt an einer ziemlich belebten Straße, mit Autos, Straßenbahn und so. Da ist auch ein Theater drin und ein Kino. Man muss etwa zehn Stufen hochgehen. Danach durch eine große alte Glastür, die jedes Mal quietscht, und danach durch eine Schwingtür. Ich glaube, das ist alles Jugendstil. Das weiß ich aber nicht so genau, weil es mich eigentlich nicht interessiert. Jetzt wären wir drin und es ist ein bisschen wie eine Empfangshalle. Überall dunkles Parkett und rechts steht ein schwerer Holztresen. Sonst überall Stühle und Tische, eine große Tür zum Theater, und rechts und links gibt es auch lederbezogene Bänke an den roten Wänden. Ich setze mich am liebsten dort hin, am allerliebsten links.

Jetzt gehen wir aber los. Wir gehen raus in den Regen. Sie tragen also am besten irgendwas, das Sie so lange wie möglich trocken hält. Wirklich! Wir werden nämlich über eine Stunde da draußen sein. Jetzt ist es drei. Los!

Da sind wir. Hier ist es trocken und warm. Und es sind gar nicht so viele Leute hier. Und die, die da sind, sind alt. Ich bin alt, verdammt! Was ich aber tue und empfinde, der der auf diese Welt schaut, ist nicht alt. Der ist eher sehr jung. Und mit dem, was ich so manchmal im Spiegel sehe, bin ich auch nicht wirklich unzufrieden.

Nach und nach und mit jedem Quietschen der Tür sinkt der Altersdurchschnitt hier drin weiter, so wie überhaupt in dieser Gegend. Die müssen mir gefolgt sein. Ein Mädchen – alle Frauen die noch nicht alt sind, sind Mädchen – ist dabei. Die hatte eine kleine Krone auf dem Kopf, ist auf´m Klo verschwunden, ohne Krönchen zurück und schmust jetzt mit ihrem Freund. Also das nehme ich an. Ich nehme an, dass das ihr Freund ist.

Ansonsten ist es hier ziemlich langweilig. Die Musik ist auch doof. Sie finden also Laith Al-Deen gut. Fand ich auch mal, aber nur kurz. Da habe ich Laith Al-Deen auch noch nicht gesehen. Seit ich ihn gesehen habe, ist seine Musik genau so, wie er aussieht, ein bisschen weichgespült. Wahrscheinlich war sie das aber auch schon zuvor. Männer können sowas nicht mögen. Frauen dürfen das, ich verstehe das auch gut. Es gibt sicher auch Frauen, die die Männer irgendwie nur darum mögen, weil sie irgendwas verkörpern, die von anderen Frauen aber als ziemlich doof empfunden werden. Mir fällt jetzt keine ein. Langsam wird es voll hier drin. Hier findet ein Theaterfestival statt. Wahrscheinlich darum die vielen Alten. Eine andere Frau. Die sieht aus wie eine Ex-Nachbarin von mir. Ist sie aber nicht. Sie ist schlanker und vor allem sage ich ihr überhaupt nichts. Die Nachbarin hieß Anna und ihr Freund Anas. Ich hab ohnehin Schwierigkeiten mit Namen. Bei dem musste ich aber immer höllisch aufpassen, dass ich ihn nicht aus Versehen Anus nenne. Vor allem, weil ich das wirklich so gerne gemacht hätte. Jetzt ist es voll. Viele Frauen.

Keine Lust mehr, hier zu sitzen. Ich geh nach Hause. Zwei kleine Mädchen sind gekommen und spielen. Ach nein, ein Mädchen und ein Junge. Die haben Spaß, denn das sind wirklich Kinder. Sind Sie noch da?“

***

Er hatte sie eingeweiht dieses Mal. Endlich. Er hatte ihr gesagt, dass sie nicht normal ausgehen würden, dass er etwas Erotisches für sie vorbereitet hätte, etwas das ihr ganz sicher gefallen würde, und sie auch nicht erkannt werden könnte. Sie wusste nicht, was sie von seiner Überraschung halten sollte, wusste nicht, ob sie das überhaupt wollte. Schon die Sache im Ping Ping war irgendwie einmal zu viel gewesen. Aber sie musste sich eingestehen, es bislang immer sehr genossen zu haben. Außerdem waren diese Abenteuer das fantasievollste das Pierre je für sie getan hatte. Und so ließ sie sich erneut an seiner Hand durch das abendlich belebte Plagwitz führen, in dem sich die Sonne so ganz langsam irgendwo am westlichen Ende dem Horizont zubewegte.

Sie waren die Zeigner-Allee entlang gelaufen, am Kanal hatten sie die letzten Boote gesehen, waren am Westwerk die alten Treppen nach oben gestiegen und hatten dort im Biergarten eine Flasche Chardonnay getrunken. Sie hatte den nicht wirklich genießen können, dafür war sie nun doch zu aufgeregt. Pierre war obendrein auf irgendwelche seiner vielen Kumpel getroffen. Vielmehr sie auf ihn, auf sie beide. Ausgerechnet, in diesem Moment. Sie hatten sich aber Gott sei Dank nicht mit an den Tisch gesetzt und waren nach wenigen Minuten wieder verschwunden. Das war nun auch schon wieder eine ganze Weile her.

Endlich kam die Bedienung, ein quirliges Mädchen mit einem lustigen blonden Zöpfchen, und sie konnten bezahlen und gehen. Marie wurde an der Hand über den ehemaligen Werkshof geführt, an der großen Halle vorbei, in der gerade eine Ausstellung mit allerlei zu Kunst gemachtem Schrott stattfand, durch eine Tür, einen langen Gang entlang. Pierre öffnete ihr eine weitere Tür und sie standen in einem Raum, in dem nichts war, außer einer riesigen Kiste aus Holzplatten. Marie sah Pierre fragend an. Der lächelte wissend.

„Zieh dich einfach aus!“, sagte er. „Wir beide ziehen uns aus und werden dann dort hineingehen. Mach dir keine Sorgen, wir sind noch ganz allein.“

Also zog sie sich aus, stand da und fühlte sich verlassen, in diesem alten Industriegebäude, so nackt. Sie bedeckte sogar ihre Brüste, indem sie sich die Hände über Kreuz auf die Schultern legte. Pierre war nun auch nackt, nahm beider Sachen und legte sie in einen alten Spint, der an einer kahlen Wand stand, von der der Putz bröckelte, und ging dann zu der etwa zweieinhalb Meter hohen Kiste.

„Komm!“, rief er ihr zu und hielt einen Vorhang auf, den Marie vorher gar nicht bemerkt hatte.

Also ging sie durch den Raum zu der Kiste, die Brüste immer noch bedeckt, und durch die Öffnung in die Kiste hinein. Marie war aufgeregt und zitterte.

Anders als in dem Raum außerhalb, war der Boden in dieser Kiste weich. Er war mit einer Art Samt ausgelegt. Auch die Wände waren mit diesem Stoff bezogen, sie berührte sie mit der Hand und fühlte sich in diesem Raum nun sicherer. Es war ein sehr kleiner Raum, vielleicht einen mal zwei Meter. Eine Decke gab es nicht, darum fiel Licht aus dem äußeren Raum hier hinein, gerade genug, dass man etwas sehen konnte, in etwa so wie in einer klaren Mondnacht.

„Hast du das gemacht?“, fragte sie Pierre.

„Ja“, antwortete der, und Stolz schwang in seiner Stimme.

Sie wusste nicht, was hier passieren sollte, was ihr widerfahren würde, darüber hatte er nicht sprechen wollen. Etwas wie im Ping Ping jedenfalls konnte sich in diesem winzigen Raum ohne Hotellobby-Couch nicht wiederholen, dessen war sie sich sehr sicher.

„Was wird passieren?“, wollte Marie noch einmal wissen. Sie zitterte immer noch und würde jetzt doch gerne von Pierre in den Arm genommen werden.

Der jedoch merkte das nicht, sondern zeigte stolz auf die Wände, die sich so nah gegenüberstanden. Marie sah dort nichts und musste die Wände anfassen, um zu wissen, was er meinte. Dort waren Löcher, zwei Stück in der einen Wand, etwa so groß wie ihre Hand. An der anderen Wand verdeckte ein Tuch eine deutlich größere Öffnung. Sie wusste nicht, was das bedeuten solle und sah Pierre an. Der ließ sie zunächst im Unklaren und sagte aber dann endlich, dass sie warten müssten. Etwa zehn Minuten. Dann würden Männer kommen, die er bestellt habe.

James Cook: Fick Dich Plagwitz

 

komm doch auch zu mir

Living for a song (1984)

“Using words from my life line
Forsaking all just for a rhyme
Building steps I know I can´t climb”

(Hank Cochran, Living for a song)

 

Bevor ich in das eigentliche Thema ´Vögel´ einsteige und meine Reise beginne, muss ich ein wenig ausschweifen und den Kontext, von dem aus ich betrachte, erläutern. Schade bloß, dass ich nicht die Fähigkeiten eines Stephen King besitze. Denn niemand kann so vortrefflich die gefühlte Wirklichkeit eines Protagonisten wiedergeben, wie dieser amerikanische Autor.

Früh in meinem Leben bin ich mit Vögeln in Berührung und seitdem nie wieder davon los gekommen. Ob es die Voliere im Garten meines Vaters war, die den Ausschlag gegeben hat, weiß ich nicht mehr. Spielt eigentlich auch keine Rolle. Denn wichtig ist nur, wie sehr ich mich diesen Tieren verbunden fühle. Mancher weiß, dass man Gewohnheiten, Vorlieben oder meinetwegen auch Fetische biografisch oder sozialisatorisch nicht eindeutig herleiten kann – es ist einfach ein Teil von einem. Entweder man stellt sich ihm oder man verdrängt ihn – so oder so gehört er dazu und will bedient werden.

In den bunten 80er Jahren waren es die Farbigen Naturführer, natürlich, die mir die heimische Vogelwelt näher brachten. Meine Wege waren von Schreiber Naturtafeln gesäumt und meine Erinnerungen an die ersten Sichtungen von Haubenmeise und Wintergoldhähnchen gehören zu den intensivsten. Wie so vieles in meinem Leben, scheint diese Begeisterung immer da gewesen zu sein. Allzu viele Freunde, die sie teilen, gibt es nicht.

Doch die Wenigen teilen die Träume von Wiedehopfen, Blauracken und Schlangenadlern. Sie wissen diese besonderen Vögel richtig einzuordnen und können verstehen, was das besondere Moment einer solchen Beobachtung wäre. Ich habe bis heute keinen der genannten Vögel in der freien Wildbahn beobachtet, doch ihre Bilder aus ungezählten Vogelführern haben sich mir in die Seele gebrannt und spätestens seit 1984 brenne ich darauf, sie in natura zu sehen.

  1. 1984. Jenes sagenumwobene Jahr, als die Welt noch in Ordnung war, obwohl sie es laut Orwell dann nicht mehr sein würde. 30 Jahre später sieht das schon anders aus, aber dazu sicher an anderen Stellen mehr. Meine 80er Jahre werden sich decken mit den kollektiven Biografien von Freunden und Freundinnen und denen, die es nicht sein konnten, weil wir uns schlicht nicht kannten. Wir daddelten auf unseren Atarikonsolen, hielten Queen für die größte Rockband aller Zeiten, schauten freitags Robin Hood im ZDF und stellten das montags mit den Jungs aus unseren Klassen, auch den schwarzhaarigen, nach, denn niemand gab uns Anlass zu differenzieren. Wir aßen Eisneger und verehrten Jimmy Hartwig vom HSV, lasen Micky Maus und Lucky Luke, und vor allen Dingen haben wir nach der Schule draußen gespielt in Wald und Flur; zumindest dann, wenn es die regionalen Begebenheiten erlaubten. Ich bin der festen Überzeugung, dass die meisten von uns die heimische Vogelwelt einigermaßen eintaxieren konnten. Mit Sicherheit auch deshalb, weil wir, wie die Generationen vor uns, genötigt waren, raus zu gehen, um etwas zu erleben. Primärerfahrungen nennt das der Pädagoge. Die Wurzeln des Mannes, der ich heute bin, liegen dort wo die Fasane noch am Waldrand in den Hecken zu sehen waren, Goldammern zum täglichen Bild gehörten und die Feldlerche noch nicht an Flughäfen brüten musste, sondern dort zu finden war, wo ihr Name es vermuten lässt. Trotzdem die weißen Tauben bereits müde waren, eine spannende, unbeschwerte Zeit, die rückblickend wohl nur jenen etwas zu bieten hat, die sie erlebt haben.

Bücher, die sich mit den 80er Jahren beschäftigen, sind mittlerweile Legion. Zu interessant scheint die Betrachtung dieses diffusen Jahrzehnts zu sein, um es nicht retrospektiv humoristisch, politisch, gesellschaftskritisch oder wie auch immer geartet zu analysieren. Tatsächlich beeindruckt hat mich persönlich bis dato noch keine Veröffentlichung, was auch daran liegen mag, dass mir die Muße fehlte, mir aus der Vielzahl das eine, das mich interessieren könnte, herauszupicken. Als Kind dieser Zeit werde ich bis heute täglich mit diesem intensiven Jahrzehnt konfrontiert, vor allem musikalisch, doch dazu gleich mehr.

Ich werde im Verlauf dieses einführenden Kapitels den Fokus auf das Jahr 1984 legen und bemühe mich, den viel zu oft bemühten Orwell, nicht noch einmal zu missbrauchen, wenn dieser sicher auch zur Einführung des Macintosh von Apple im Jahr ´84 eine dezidierte Meinung gehabt hätte. Als wenig EDV-affiner Mensch, bis heute, ging das auch als Kind an mir vorüber. Natürlich habe ich, wie alle Jungs zu der Zeit, Stunden vor der Atari Spielkonsole verbracht und das Spiel Grand Prix perfektioniert.

In unserem Haus war es aber berufsbedingt nicht notwendig, frühzeitig sogenannte Personal Computer anzuschaffen.

Meine Eltern lebten und leben immer noch in der, Mitte der 50er Jahre in Eigenleistung meines Großvaters erbauten, Doppelhaushälfte in Einbeck, Südniedersachsen. Mein Vater verdiente als Großhandelskaufmann den Lebensunterhalt für die Familie und meine Mutter befand sich als gelernte Krankenschwester in einer insgesamt 14 Jahre währenden beruflichen Pause, oder wie man damals noch ohne Scham sagen konnte: sie war Hausfrau und Mutter. Mein jüngerer Bruder und ich wurden dennoch im neuen weißen Jetta Turboinjektion, der im ersten Gang über den Brenner getreten werden musste, wie mein Vater nicht versäumte jedem zu erzählen, im Sommer an die Adria und im Winter in den Urlaub mit Langlaufskiern nach Weidnau in Bayern gekarrt. Überhaupt mangelte es uns als Familie, wie ich mich später auch immer wieder rückversicherte und worauf ich sicher noch einmal zurück kommen werde, an nichts – und das mit nur einem Gehalt. Zweimal im Jahr Urlaub, alle paar Jahre ein Neuwagen, Spielzeug en masse und vor allem Turnschuhe, für die mein Vater seiner Aussage nach ausschließlich arbeiten gehen musste, Fußballtrikots usw., usw. Wir gehörten somit wohl zu einer Schicht, die im Westen der Republik in der Mitte der 80er Jahre gut auskam – so wie die meisten, wenn sie nicht ´Ganz unten´ waren.

Beide Kinder der Familie Meyer gingen 1984 in die Pestalozzi-Grundschule; ich in die dritte und mein Bruder in die erste Klasse. Opa Willi und Oma Lieschen, die Großeltern väterlicherseits, lebten im Haus, wenn sie nicht im Harz eine alte Dame namens Fräulein Utti pflegten. Augusta eigentlich.

Mit dem nötigen Abstand und bei allem Respekt: dass man bis in die Tiefen der 80er hinein Frauen, die ungebraucht zurückgingen, Fräulein nannte, mag aus heutiger Sicht grenzwertig sein, aber man war damals beileibe noch nicht so sexualisiert, dass sich irgendjemand etwas dabei gedacht hätte. Opa Willi hat sich trotzdem, in einem Anflug von Protest, nie davon abbringen lassen, die Dame schlicht mit ´Frollein´ anzusprechen. Mir wurde das von meinen Eltern untersagt.

Die anderen Großeltern, Else und Helmut, lebten in einem Dorf unweit Einbecks.

Ich habe meine Stadt geliebt und tue das immer noch. Doch fiel es mir mit Kinderaugen 1984 leichter, das zu tun. Ich befürchte, dass meine Eltern das ebenso sehen.

Damals regierte, wie im Bund, seit Jahren die CDU und ich war in meiner Infantilität Fan von Helmut Kohl, was vor allem bei meiner Mutter an Wahlabenden häufig dazu führte, mich dahin gehend zu maßregeln, mich nicht über Dinge zu freuen, die ich nicht verstehe. Drei Dekaden später erst habe ich meinen Frieden mit dem Mann, nicht der Partei, gemacht. Die CDU war damals eben der HSV der Politik für mich. Eines davon unbegreiflich bis heute, denn ich halte es da nach wie vor mit meinen Großvätern und ihrem: Ich kann doch nicht das gleiche wählen, wie mein Chef!

Der 8-jährige Hauke kannte verhältnismäßig viele Gesichter aus Bonn, will sagen, dass ich schon immer ein politisch interessierter Mensch gewesen bin. Kohl, Schmidt, Carstens, Genscher und Strauß waren mir geläufig. Politik war nie Thema vor uns Kindern und doch bekam man beiläufig genug mit, um sich davon ebenfalls beiläufig ein Bild zu machen. Die DDR war ein Land, das nur auf dem Spiel Deutschlandreise existierte und in Form einer Schallplatte von Herrn Fuchs und Frau Elster, einer Weihnachtspyramide, die immer in sich zusammenfiel und ansonsten aber keine weitere Rolle spielte. Das sollte sich erst 1990 ändern, als plötzlich irgendwelche Cousinen x-ten Grades besucht wurden und der Sprössling vom Vater gebeten wurde, doch mal welche von diesen Hardrock-Kassetten für die von drüben aufzunehmen.

Was war noch?

1984 wird der nach wie vor beliebteste Bundespräsident der Deutschen, Richard von Weizsäcker, in das höchste Amt gewählt; Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff tritt wegen der Flick-Parteispenden-Affäre von seinem Amt zurück. ´Verbecher´ wurde er bei uns im Haus überraschend unbedarft zur sonstig apolitischen Ausrichtung genannt. Die Anschnallpflicht tritt für Autofahrer in der Bundesrepublik ebenfalls erst 1984 in Kraft (Bußgeld bei Nichtbefolgung: 40 DM), und ich fragte mich, ob der Mann, der den Grafen so betitelte, nun auch ein Verbrecher sei, als er von der Polizei in meinem Beisein darauf hingewiesen wurde. Wir sollten besser über die Verfrachtung der Kinder auf langen Urlaubsfahrten in den Süden den Mantel des Schweigens decken. Doch auch das wird damals gang und gäbe gewesen sein.

Auf dem Soldatenfriedhof von Verdun gedenken François Mitterrand und Helmut Kohl mit einem Händedruck gemeinsam den Opfern des 2. Weltkrieges. Erst viele Jahre später glaubte ich, darin einen Beweis für freimaurerische Symbolkraft erkennen zu können.

Der Schauspieler Ronald Reagan wird 1984 in seinem Amt  als US-Präsident bestätigt und von den Ramones in „Bonzo goes to Bitburg“ scharf angegangen. Und das, obwohl die Punkikone Johnny Ramone ihn bis zu seinem eigenen viel zu frühen Tod als den besten Präsidenten, den die USA je gehabt hatten, bezeichnete. Ich war schon immer Freund von sich verbindenden Gegensätzen.

1983 zogen erstmals die Grünen in den Deutschen Bundestag, wohl auch deshalb, weil der Waldzustandsbericht für 1984 besagte, dass bereits 50% des deutschen Waldes von sichtbaren Schäden betroffen seien und die Partei bei einer ernst zu nehmenden Masse der Bürger mit dem Slogan: Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt, einen Nerv getroffen hatte.

Meine Erinnerungen verbinden die Grünen treffsicher mit einer Mitschülerin aus der Grundschule und ihrem friedensbewegten Elternhaus, in dem der Vater die untere Etage und die Mutter mit ihrem neuen Freund die obere bewohnte. In Habitus und Stil unterschieden sie sich doch arg von den Eltern anderer Mitschüler. Jedenfalls hat meine Mutter nie Tücher, Norwegerpullis oder ´Entenschuhe´ getragen. Und das ist auch gut so. Das haben wir damals schon den GrünInnen überlassen.

Das Kabelfernsehen geht 1984 in Deutschland auf Sendung, kommt aber erst fünf Jahre später in unserer Straße an.  Vermisst habe ich es nicht, zumal ich es erst 1990 in der Pubertät zu schätzen lernte. Insbesondere das Spätprogramm am Wochenende, und ich kann dennoch mit Fug und Recht behaupten, dass meine von Neil Postman in: Wir amüsieren uns zu Tode, argwöhnisch beäugte mediale Sozialisation keine bleibenden Schäden hinterlassen hat. Mit Fernsehen hatten meine Eltern es nicht so. Ausnahmsweise durften wir Kinder Paola und Kurt Felix oder Frank Elstner Samstag abends sehen, ab und an auch Kulenkampff.

Das ZDF sendete 1984 die dritte Staffel des Denver-Clan, ich liebe diese Serie bis heute: zwei erwachsene Frauen prügelten sich in einem Seerosenpool, geil! Warum haben das Thekla-Carola Wied, unserer aller Ersatz-Mama und Gaby Dohm eigentlich nie getan?

Und jedes Kind meiner Generation wird mir bestätigen, dass Colt Seavers und Robin Hood mit Michael Praed die geilsten sind … okay, kurz nach Han Solo vielleicht, und sich an Nasir ebenso erinnern, wie an Nils Holgersson oder Michel aus Löneberga. 1984 als Übergangsjahr zwischen Sesamstraße und den Stooges, was auch heute betrachtet noch ein weiter Weg ist.

Es ging in jener Zeit auch darum, Devotionalien der Firma Matell zu sammeln, auf jeden Fall Han und Lando. Die Jungs aus den höher gelegenen Straßen der Stadt hatten das Rancor und den Falken, wir nur Luke in drei Versionen. Bei vielen traten bereits Skeletor und Darth Vader gegeneinander an.

Unsere Helden aus dem Sport hießen für kurze Zeit Michael Groß oder Peter Angerer, Uli Stein oder Kalle Rummenigge, und anderswo in der Republik vielleicht auch Allgöwer und Roleder, die mit Stuttgart überraschend Meister geworden waren.

Das YPS brachte Gimmicks in unsere kleine Lebenswelt und wir versuchten uns in der Züchtung von Eierbäumen oder Urzeitkrebsen. Wir tauchten mit Dagobert in Kreuzer und Taler in einem riesigen Speicher, waren insgeheim in George von den fünf Freunden verliebt und wollten so wie Enid Blytons Julian sein, jedenfalls seit Tarzan von TKKG durch Fabian Harloff verbrannt war.

1984 hat auch mit drei Dekaden Abstand das beste aus der Popmusik heraus geholt, was möglich war. Nie zuvor und nie danach haben sich brillante Künstler derart tonal verdichtet. Big in Japan, The wild Boys, Such a shame, People are people, Relax … oh Mann, wie schön, dass das die ersten Töne waren, die mir bewusst und ernst zu nehmend ins Ohr kamen und meine Liebe zur Musik brachial erweckten. Wie gesagt: Ich sollte ein ganzes Buch über die Musik in diesem Jahr schreiben und würde ihr trotzdem nicht ansatzweise gerecht werden. Damals war sogar Scheiße wie Jenseits von Eden gut, wenn wir ehrlich sind. Gut, Halt dich fit, wander mit von Heino & Hannelore war damals schon Schrott!

Hauke Meyer: Auf dem Weg zu mir / Ein Jahr im Tal der Vögel