Kavalier/Leseprobe

Andreas M. Bräu

Kavalier

Originalausgabe

EINBUCH Buch- und Literaturverlag Leipzig

www.einbuch-verlag.de

EINBUCH Belletristik Edition

copyright 2019 by EINBUCH Buch- und Literaturverlag Leipzig

printed in Germany

Umschlaggestaltung: Welle

ISBN 978-3-942849-78-4

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Sein schon aso, die jungen Leut!“

– Herr von Faninal

Hugo von Hofmannsthal

Der Rosenkavalier

Finale III. Akt

Sei Er jetzt gut und folg´ Er mir.“

– Marschallin sanft

Hugo von Hofmannsthal

Der Rosenkavalier

Finale I. Akt

I.

München. Schwabing. Trotz der späten Stunde atmeten das Pflaster, die Steine, die Straßen und Wände noch die Hitze des Tages. Ein junger Mann ging alleine nach Hause. Er streifte durch sein Viertel und grübelte. Er hätte nicht alleine sein müssen, doch er hatte sich dafür entschieden. Er hatte etwas getrunken, doch nicht zu viel, und darum kreuzten sich Gedanken mit Musik, die ihm beide nachhingen. Nichts von der Barmusik, den Loungetönen des Nachtlebens, sondern Klavier-musik, die ihn den Tag über begleitet und geärgert hatte.

Tim spazierte die Feilitzschstraße entlang über den neu gestalteten Platz an der Abzweigung zur Occamstraße. Nachtlichter taten es ihm gleich. Auf der Parkbank vor dem Schnellimbiss bussierte ein Mädchen mit ihrem Freund oder Aufriss. Andere strebten nach Hause. Pärchen, Einzelgänger, Gruppen.

Tim gehörte zu den Einzelgängern. Seine Gesellschaft hatte er zurückgelassen, einen Kuss beendet, ein Anbahnen unterbrochen. Sein Kumpel Beni war noch mit einer Frau zusammen. Vielleicht würde er es über Nacht bleiben. Tim nicht. Er hatte sich höflich verabschiedet, Nummern mit einem Mädchen getauscht, sie angelächelt und war allein aus dem Cocktailhaus marschiert. Beni hatte ihn nicht aufgehalten, doch ihm nachgesehen. Mit einer Mischung aus Besorgnis und Unverständnis. Dann hatte er sich wieder seiner Bekanntschaft zugewandt. Tim war in die Nachtluft hinaus getreten, die keine Kühlung versprach, ihn doch allein sein ließ. Darauf verspürte er eine Unlust heim zu gehen. Nur ein paar Meter spazierte er die Straße entlang und entschloss sich einen Absacker zu nehmen.

Darauf war er nicht ganz und doch allein in der Hopfendolde gesessen, jener urtümlichen Boazn mit vielen Geselligen und Verlorenen. Dort bekam man bis sehr spät noch eine Maß zu günstigstem Preis. In einer Ecknische lachte und erzählte ein motivierter Maler in fleckiger Arbeitskleidung und mit einer Kapitänsmütze auf dem Kopf. An der Theke versammelten sich stillere Zeitgenossen, die wenige Worte mit der Bardame wechselten. Tim saß an einem kleinen, quadratischen Tisch mit dem Rücken zum Fenster. Er beobachtete. Allerlei Schnapsreklamen blinkten, Spielautomaten taten es ihnen gleich. Astra, Sierra, Smirnoff, Jägermeister, Silverstone und Red Bull versprachen heitere, flimmernde Stunden. Alle bestellten Bier.

Da saß ein junger Mann, Student und Romantiker. So bezeichnete er sich selbst, nicht genau wissend, was das zu bedeuten hatte. Doch es war der Grund, warum er hier allein saß. Er hatte heute Abend Bekanntschaft gemacht. Es hätte sich etwas entwickeln können. Aber was? Eine Liebelei, eine verhuschte Nacht? Ein Anbandeln? Eine Liebschaft? Liebe? Eher nicht und darum saß er hier, trank seine Maß Memminger Bier, die einen Euro günstiger als das Tegernseer im Literkrug zu viel und mittlerweile zu warm war, doch den Heimweg hinauszögerte. Saß da in heller Hose, Sakko, Hemd und verstrubeltem dunklem Haar. Mit müden, noch großen Augen. Nicht modern und dennoch jung. Hier fiel das keinem auf.

Der Maler mit der Kapitänsmütze lachte zu laut. Tim dachte über Ellena nach. Wie Filmschnipsel, die in beliebiger Reihenfolge immer wieder zur selben Sequenz geschnitten werden, fanden die einzelnen Szenen des vergangenen Abends zusammen. Er hatte nachmittags Klavier geübt, danach mit Beni, seinem besten Freund und Studienspezl, einen Burger nahe dem Königsplatz gegessen. Überall gab es neuerdings Burger und Craft Beer. Manchmal besser, manchmal schlechter. Dieser gehörte zu den Besseren. Ein Verdauungsspaziergang führte die beiden an den chinesischen Turm. Der gut gefüllte Biergarten im südlichen Kern des Englischen Gartens war sicher kein Geheimtipp, doch die sonnigste und naheste und deshalb gewohnte Adresse für die oft biergartelnden Musikstudenten. Nach der zweiten Maß hatten sie wieder Hunger, brotzeiteten und beschlossen spontan, in den Kaisergarten an der Ursulakirche, dem bürgerlichsten Teil Schwabings, weiterzuschauen. Dieser wiederum zeichnete sich eher als Geheimtipp aus und bot nur einen kleinen Wirtsgarten im Anschluss an eine bayerische Wirtschaft. Zurückgesetzt von der auch abends belebten Hohenzollernstraße, dieser Ader von der Münchner Freiheit bis ins Zentrum Schwabings führend, konnte man dort gemütlich sitzen. Somit blieb der Kaisergarten den meist potenten Anwohnern um den gleichnamigen Platz und der ebenso benannten Straße vorbehalten.

Die Gruppe Mädels vom Afterwork traf sich dort aufgrund der Nähe zu ihrer Agentur und imitierten den Schwabinger Schick so sehr, dass sie dorthin zu passen schienen. Die Vorspiegelung besserer Tatsachen ist hier Attitüde. In weißen Seidenblusen und Leinentops saßen sie beim Spritz praktischerweise an einem großen Rundtisch, an den die Jungs anbauten. Man sprach, lachte, bandelte an. Vorsätze wurden aufgegeben, der Abend umgeschmissen und neue Ideen gefasst. Das Hoch auf die Spontanität erlaubte alles und entschuldigte auch eine kurze Nacht während der Arbeitswoche. Schließlich war Endsommer.

Die Gruppe tanzte in der Schellingstraße, Tim unterhielt sich ausführlich mit Ellena, einer hübschen, gar nicht zurückhaltenden Endzwanzigerin mit sehr langem, glatt gekämmtem brünettem Haar, in dem sie oft ihre Hände hatte. Sie sprachen über ihren soeben begonnenen Job, natürlich Onlinecontent. Aufgrund der Musik sprachen sie zu laut, um Vertrautheit aufzubauen und mussten sich näherkommen, als das unter normalen Umständen nach so kurzer Zeit der Fall gewesen wäre. Sie hatten sich so kennengelernt, gewitzelt, geredet. Tim hatte charmant Kompliment und Scherze ausgeteilt. Das lag ihm. Er imitierte, zitierte und fühlte sich in diesen Momenten als Teil eines vergangen, vielleicht immer fiktiven Schwabings aus Helmut Dietls Zeit. Das gefiel ihm. Schließlich war er deshalb hier hergezogen und pflegte einen Bohèmestil, der nur Studenten und Privatiers erlaubt ist. Er pflegte ihn, doch er füllte ihn nicht. Er erfüllte ihn nicht. Er hatte es probiert. Schäkern, Flirten, Küssen. Auch Sex. Das ergab sich. Doch es erfüllte nicht. Das spürte er auch im Gespräch mit Ellena. Sie war so freundlich, interessiert, schenkend. Sie gefiel ihm. Er bewunderte ihre wachen Augen, der spürbare Duft an ihrem Hals, das zurückhaltende Dekolleté. Sie wollte etwas von seiner Musik hören, von ihm erfahren, doch Tim wusste nicht, was er ihr sagen sollte. Wollte sie Ehrlichkeit oder einen guten Eindruck? Er könnte sich produzieren und weiter flirten. Doch die Konsequenz wäre gefährlich. Für beide. Das Tempo war zu hoch. Ein Kuss wäre unvermeidlich. Den wagte er nicht.

Beni hätte es getan und tat es auch mit einer Freundin von Ellena. Auf der Tanzfläche küssten sie sich noch in der Bewegung ihrer Oberkörper.

Froh darüber, nach einiger Zeit nicht mehr zu zweit zu sein, stimmte Tim der Gruppe zu weiterzuziehen. Keiner sprang ab. Vier Mädels und die beiden Jungs landeten in den schummrigen Nischen des Cocktailhauses an der Münchner Freiheit. Diese erreichten sie nach kurzer U-Bahn-Fahrt von zwei Stationen und einem lustigen Spaziergang. Dort tauschten sie auch die Nummern, vereinbarten ein Wiedersehen und Ellena erkannte, dass heute nichts mehr passieren würde. Nur ein kurzer Abschiedskuss. Dennoch auf den Mund. Tim wusste das und ging.

Er hatte mittlerweile die Hopfendolde und ein nicht leer getrunkenes Bier hinter sich gelassen. Nun gähnte er ausgiebig, massierte seinen Nacken und konnte sich nicht mit sich auf eine dritte Zigarette einigen. Tim stritt mit sich und ging heim. Er querte den Busbahnhof an der Leopoldstraße mit dem versteckt sitzenden ewigen Stenz, der auf alle Zeiten in Bronze auf einer Parkbank sitzen blieb. Dann spazierte er die Hohen-zollernstraße entlang zu seiner Wohnung. Mittlerweile war er ganz allein. Auch die letzten Flanierenden und Küssenden waren verschwunden. Der Hals kratzte leicht, er hatte Durst und fror langsam. Dann würde er nun wohl schlafen gehen. Am Hohenzollernplatz angekommen, verweilte er einen Moment an dem Rondell. Leise raschelnd bewegten sich die Blätter der prächtigen Kastanie, ein Hund bellte weit entfernt, ein Motor beschleunigte hörbar, danach war die Nacht wieder still. Wo tagsüber Kinder laut die frische Luft außerhalb der hitzigen Wohnungen genossen, die Gemüsestandl aufgebaut waren, Rentner warteten und Ansässige sehr geschäftig zwischen Asia-Supermarkt, Hofpfisterei und Café kreuzten, bewegte sich nun keine Menschenseele und bemerkte die laue Sommernacht so wie Tim, der noch einen Moment stehen blieb.

Darauf sperrte er die Tür zu dem sechsstöckigen Wohnhaus mit seiner kleinen Dachwohnung auf und betrat das Treppenhaus. Als Tim im Fahrstuhl stand, lehnte er zunächst den Kopf an die Spiegelwand und betrachtete sich im Halbdunkel. Das dunkle, lockige Haar ins Gesicht verstrubelt, das Hemd zu weit aufgeknöpft, das Sakko faltig, das Gesicht im Finstern. Nur das breite Kinn und die vollen Lippen waren im Lichtschein gut erkennbar. Er senkte den Blick zu seinen Schuhen und ignorierte das neuerliche Zeichen seines Telefons. Anscheinend war Beni noch unterwegs oder neugierig oder mitteilungsbedürftig. Tim nicht. Oder Ellena meldete sich bereits. Tim antwortete nicht.

Am Morgen darauf erwachte er mit einem leichten Kater und beim angestrengten Gang ins Bad stellte er die Musik an. Er würde nach der Dusche auswärts frühstücken.

Seine Stammdamen im Stenz direkt am Hohenzollernplatz, lediglich ein paar Schritte von seiner Maisonette Wohnung entfernt, empfingen ihn freundlich. Das Café wurde von drei dunkelhaarigen Schwestern, alles Schönheiten aus den Abruzzen, geführt. Die Mittlere wich seinem Blick seit nunmehr einem halben Jahr aus, nachdem Tim einen Annäherungsversuch abgewiesen hatte. Aus dem gleichen Grund, allerdings als urteilende Mitwisserin, nörgelte die älteste der drei dauerhaft an ihm und seinem oft verschlafenen Gesicht herum. So auch heute. Sehr gönnerhaft mit hochgezogenen Brauen stellte sie dem etwas Verlebten die lindernde Tasse mit viel Geräusch vor die Nase. Er blickte langsam, fast schuldbewusst auf.

Lange Nacht, Casanova?“

Tim vermied eine Antwort und dankte. Ihr Abgang war eine Schau. Die Jüngste der Schwestern grinste am Barista. Gloria. Der doppelte Espresso wurde von einem Caffé crema und einem großen Schinkenkäsehörndl abgelöst, das seine Stimmung und seinen Magen aufhellte. Für die Mittwochszeitung reichte die Kraft dennoch nicht. Ebenso wenig wie für Benis Vorlesung, die er gerade bei seinem Spezi absagte, der noch einen Platz frei hielt. Dessen Kondition erschreckte ihn noch mehr als seine Disziplin. Tim beobachtete lieber die Schwestern bei ihrer Arbeit im immer gut gefüllten Café. Qualität und launige Bedienung sprachen für sich. Dazu kam eine Klientel aus selten oder nicht arbeitenden zumeist Frauen mit und ohne Kinderwagen, dafür mit viel Handtasche, Smartphone und Accessoire.

Tims Telefon begrüßte eine Nachricht von Ellena. Anscheinend wollte sie in Kontakt bleiben. Er hatte trotz seines Rückzugs Eindruck gemacht. Vielleicht gerade deshalb. Tim fühlte sich besser. Er blinzelte Gloria, die eine übertechnisierte Saftpresse bediente, zu und erntete einen freundlichen Ausdruck der Überraschung. Schön.

Seit mittlerweile vier Jahren umging Tim alles, das einer festen Beziehung näher kam als eine unverbindliche Freundschaft und gelegentliche Treffen. Auch kürzere Affären hatte es gegeben. Nicht viele. Tim war auf der Suche, was er suchen sollte. Schwabing half ihm dabei nicht. Zwar wuchs er mit der damals noch intakten Familie in Ottobrunn, einem Ort im Südosten des sogenannten Speckgürtels von München, auf, mit dem Studium und nach der Scheidung der Eltern aber zog er ins Zentrum und in die Nähe der Musikhochschule am Königsplatz. Wohnen wollte er in Schwabing. Die Geschichten der Vergangenheit glaubend, hatte er sich in das nicht erst von Helmut Dietl groß gemachte Viertel der Bohème gewünscht, das früher sicher besser, doch immer noch alles das bot, was ein frischer, junger Mann wie Tim wollte. Trat er aus der Tür, stand er im Leben, flanierte um den Kurfürstenplatz und die Hohenzollernstraße entlang, ging grundsätzlich zu Fuß in Richtung Arcisstraße und Hochschule, kannte seine Cafés, Biergärten, Läden, Clubs und Boazn. Er konnte über Bowls diskutieren, obgleich er sie für überbewertet hielt, kannte immer eine ausgefallene neue Bar mit besonderem Wermut oder Gin. Er traf neue Bekannte zufällig auf der Straße und fühlte sich wohl. Er hatte seinen Freundeskreis bunt um sich herum gruppiert und beobachtete die Frauen. Allein das Ansehen, das Anlächeln wie eben bei Gloria, das Kennenlernen und Ansprechen, wie mit Ellena, forderten und beglückten ihn. Bis zu einem gewissen Punkt. Darauf folgte die Verwirrung, die ihn auch in der letzten Nacht nach Hause trieb. Allein.

Daneben studierte er.