Michael Prager: Die den Stein zum Sprechen bringen/Leseprobe

Eine Mittelaltergeschichte über die Träume und  Albträume eines Bischofs, einen jungen Steinbildhauer und seiner Liebe zu einer schönen Hure, die über den Tod hinaus währt.

 

Kapitel 1

Der Traum des Bischofs

 

Eine Bischofsresidenz im Osten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, irgendwo am Zusammenfluss zweier Flüsse liegend, in der Mitte des 13. Jahrhunderts.
Es ist ein heißer Sommer. Die Sonne brennt mit schier unerschöpflicher Kraft. Als wolle sie sich für ihr Fernbleiben in den Frühlingsmonaten entschuldigen. Menschen und Tiere leiden unter der unerträglichen Hitze.

Dagegen ist es im Inneren der Bischofskirche angenehm kühl. Bischof Nikolaus bemerkt mit wachsendem Verdruss, dass es ihm langsam schwerfällt, sich auf seinen eigenen Füßen fortzubewegen. Den Rundgang durch ´seine´ Kirche hat er in der Krypta begonnen. Die Gräber seiner Vorfahren im flackernden Schein der brennenden Fackel betrachtend, sinniert er: „Eine Reliquie, eine Hinterlassenschaft eines wahrhaftigen Märtyrers, so etwas bräuchte ich. Weitgereiste Besucher und fromme Pilger würden sich nicht nur zum Gebet einfinden, sondern auch mit klingender Münze den stets nach Gaben verlangenden Opferstock gut füllen.“

Urplötzlich erschrickt er, im Schein der Fackeln einen Schatten sehend. „Da ist jemand, der mich im Jenseits wissen möchte.“

Die Gedanken des Geistlichen galoppieren wie wilde Pferde. Die Angst macht ihn stark. Für sein hohes Alter recht schnell, greift er nach dem Stilett unter seinem Gewand. Fluchs dreht er sich um und will zustechen. Doch, da ist niemand. „So weit ist es nun schon mit mir, dass ich mich vor meinem eigenen Schatten fürchte.“ Er ist der Verzweiflung nahe. Wird er in letzter Zeit doch des Öfteren von quälenden Gedanken heimgesucht.

Eines Mordes bedarf es gar nicht mehr. Der Herr befiehlt mich sowieso bald zu sich, spukt es durch seinen Kopf.
Er hält kurz inne, um diesen Einfall aus seinem Geist zu verbannen. „Jegliches Ding hat seine Zeit, das Entstehen, das Gedeihen und das Vergehen. Steht es nicht so in der Bibel geschrieben? Heute bin ich noch. Und, wenn er da oben es zulässt, werde ich es auch noch erleben!“

Der Bischof verlässt das feuchtkalte Gewölbe, will hinauf in den Chor. Dieser ist nach Osten ausgerichtet, der aufgehenden Sonne entgegen. Er atmet schwer. Immer wieder muss er, mit beiden Händen seinen Krummstab umfassend, auf seinem Weg innehalten. „Wenn doch diese gottverdammten Stufen nicht wären“, entfährt es fluchend seinem Munde.

Sofort hält er inne und bekreuzigt sich. Er ahnt, bald wird sein Herr auch ihn zu sich rufen. Seine Kräfte verlassen ihn zusehends, das spürt er. Furcht hat er nicht vor dem Sterben. Um sein eigenes Seelenheil abzusichern, hat er schon so manche Nacht mit Beten verbracht. Doch, seinen Herrn mit einer solchen Lästerung zu erzürnen? Viel Zeit blieb da nicht mehr, um grünes Wiesengras über diese gottlosen Worte wachsen zu lassen. Doch er beruhigt sich nicht so rasch, wie er es eigentlich wollte.

„Herr, vergib mir meine vorlauten Worte, ich bitte dich darum“, murmelt er. Dieser unbedachte Fluch wiegt doch mein Lebenswerk zu Ehren des Schöpfers bei Weitem nicht auf. Mit diesem Gedanken versucht er beständig sein aufgewühltes Inneres zu besänftigen. War er es doch, der vor gut dreißig Jahren den Bau einer neuen Bischofskirche angeregt und auch durchgesetzt hatte.

Doch, um zum eigentlichen Ursprung des heutigen Zustands zu gelangen, muss er tiefer in die Geschichte seines Bistums eintauchen. Gegründet etwa dreißig Jahre vor dem Eintritt in das zweite Jahrtausend, befand sich der ursprüngliche Sitz in einer weiter östlich gelegenen Stadt. Die Idee des Kaisers, auch in den neu besetzten slawischen Gebieten östlich des Grenzflusses Leuchttürme des christlichen Glaubens zu errichten, wurde somit nach der Genehmigung durch den Papst schrittweise verwirklicht. Doch, ein friedliches Nebeneinander mit den slawischen Stämmen sollte es lange Zeit nicht geben. Unruhen, ein Aufstand und schließlich Krieg, immer wieder war gerade der Bischofssitz auf das Äußerste gefährdet. Die logische Konsequenz wäre die Verlegung dieses, weg von der damaligen Grenze, in das weiter westlich gelegene, von sanften Anhöhen durchzogene Land. So sollte es dann auch circa sechzig Jahre nach der Gründung des Bistums geschehen.

Doch damit war es nicht getan. Eine weitere Hürde galt es in Angriff zu nehmen. Das neue geistliche Zentrum des Bischofs benötigte dringend eine möglichst repräsentative Kathedrale.

„Wenn mir mein Zahlengedächtnis nicht völlig abhandengekommen ist, muss deren Weihe so etwa 1044 gewesen sein. Oder einige Jahre zuvor. So zumindest hat es mir der Generalvikar berichtet. Wer, wenn nicht er, sollte es besser wissen. Ich habe ihn mit Bedacht und nach sorgfältiger Prüfung seiner Eignung ausgewählt und schließlich zu meinem Stellvertreter und Leiter des Ordinariates ernannt. Kommt ihm doch bei der Verwaltung des Bistums eine entscheidende Aufgabe zu. Ja, Georg leitet und führt ganz in meinem Sinne das Ordinariat, die Verwaltungsstube der Diözese. Schade nur, dass er manchmal so eigensinnig ist. Eigensinnig ist dabei gar kein Ausdruck. Richtig starrköpfig kommt er so manche Tage daher. Eben ein im Sternzeichen Stier geborener Heißblütiger. Mit dem Kopf gegen und am Liebsten durch die Wand.“ Der Bischof seufzt fast lautlos. „Was soll das Jammern? Nun gut, ich kann nicht alles haben, in diesem irdischen Dasein“, tröstet sich Bischof Nikolaus. „Die kirchlichen Akten, Urkunden und Verordnungen sind bei ihm in besten Händen. Die Ordnung im Archiv ist mustergültig. Georg ist redegewandt, fleißig und bodenständig. Das Wichtigste aber, ich kann meinem Stellvertreter blind vertrauen, ist er mir doch letztendlich immer wieder hörig.“

Dass sein Erzdiakon jedoch am Rebensaft nur mäßigen Gefallen findet, wunderte ihn dann doch sehr.

„Da geben sich die Mönche des Zisterzienser Klosters Sancta Maria ganz in Nähe der Stadt solche Mühe mit der Kultivierung und Weiterentwicklung ihrer Rebstöcke. Doch er trinkt Wasser, nur Wasser, wie das liebe Vieh. Er kennt doch sicherlich den Spruch, der besagt, dass im Wasser auch der Tod liegen soll, im Wein dagegen die Wahrheit zu finden ist, oder?“

Zugegeben, in den Jahren, in denen die Sonne die heimischen Muschelkalkböden nur spärlich erwärmt, hat das auch seine Auswirkungen auf die Qualität des Rebensaftes. So mancher Zecher glaubt dann, statt edlen Weines, Essig in seinem Becher zu haben.

„Er ist schon manchmal ein wundersamer Bursche, aber ein absoluter Meister auf seinem Gebiet, und mir immer zu Diensten“ brummelt der Bischof vor sich hin.

Der Offizial, sein alter Glaubensbruder Johannes, ist da schon aus anderem Holz geschnitzt. Als Gerichtsvikar spricht er im Namen des Bischofs Recht. Obgleich Johannes sehr fromm ist, scheinen ihm nur wenige menschliche Laster fremd zu sein.

„Wenn ich da so an einige Feste auf unserer Sommerresidenz, der in unmittelbarer Umgebung gelegenen Burg, denke.“ Der Bischof bekreuzigt sich. „Sei es, wie es sei“, spinnt Nikolaus seinen Gedanken weiter. „Als ich die Bischofsweihe erhielt, war die alte Kathedrale nur noch ein Schatten ihrer selbst. Völlig ungeeignet, die wahre Größe des Herrn, und ein wenig auch mich selbst, zu preisen und zu huldigen.“
Ein verschmitztes Lächeln huscht über sein zerfurchtes Gesicht. Der Wahrheit willen gestand er sich ein, dass auch persönliche Beweggründe für einen baldigen Neubau sprachen. Ein junger Bischof, mit weitreichenden Ambitionen auch in der Reichspolitik ein Wörtchen mitzureden, und dann dieser zum baldigen Verfall verurteilte Schatten einer
Kathedrale. Das war ein allgegenwärtiger Widerspruch in seinem Inneren, der schnellstens nach einer Lösung drängte.
Und, da er, Nikolaus, ein sehr ambitionierter und ehrgeiziger Diener Gottes ist, prägten diese Eigenschaften auch seine Vorstellungen über die neue Bischofskirche. Eine Doppelchoranlage sollte es werden. Also mit je einem Chor an den beiden Schmalseiten des Baus im Osten und im Westen.
Von Beginn an bezog er seinen Vertreter, Erzdiakon Georg in seine Gedankenwelt und Vorstellungen mit ein. Zeigte ihm Skizzen und Modelle und stritt mit ihm darüber. Natürlich behielt er, Nikolaus, sich das letztendlich ausschlaggebende Wort vor. So war es auch bei einem streng geheimen Plan. Ging es in diesem Dokument doch darum, wie, und vor allem woher, die für den Bau notwendige Summe Geldes beschafft werden sollte. Die Tatsachen auf Erden zwangen ihn zu dieser vertrauensvollen Art und Weise der Zusammenarbeit mit seinem Stellvertreter. War er es doch, auf den er sich verlassen musste, sollte er zur Teilnahme am bevorstehenden Kreuzzug zur Rückeroberung Jerusalems verpflichtet werden. Und, hatte nicht der Papst bereits 1213 zu einem Zug unter dem Heiligen Kreuz aufgerufen.

„Wie richtig ich gehandelt habe. Dank einer göttlichen Eingebung.“

Obgleich es Weihbischof Alexander zugekommen wäre, in den Zeiten seiner Abwesenheit einen Großteil der anstehenden Arbeiten zu erledigen. Und vor allem, Entscheidungen zu treffen. Doch Nikolaus wusste nur zu gut, dass der Weihbischof dem Generalvikar Georg nicht das Wasser reichen konnte. Letzterer ist nun einmal geschlagener, zielorientierter und nicht zu vergessen, entscheidungsfreudiger.

Er versucht, sich zu erinnern. Nur wenige Jahre nach Baubeginn am Langhaus, es muss im Jahre 1216 oder 1217 gewesen sein, schloss er sich den Kreuzfahrern nach Anraten des Papstes an. „Ägypten, die mehrmonatige Belagerung der Stadt Damietta und letztendlich deren Besetzung. Ein furchtbares Gemetzel, aber notwendig. Noch heute habe ich schlimme Albträume, in denen ich die furchtbaren Bilder des Abschlachtens und Aushungerns vor meinen Augen sehe. Schweißnass, wie gebadet, wache ich dann mit fliegendem Atem auf.“

Doch die Einnahme der Stadt war nur ein Meilenstein, um dem eigentlichen Ziel des Kreuzzugs ein großes Stück näher zu kommen. Die heilige Stadt Jerusalem aus den Händen der muslimischen Herrscher zu befreien, darum ging es letztendlich. Dazu sollte es aber nicht mehr kommen. Nach einer schmachvollen Niederlage im Nildelta mussten die Kreuzfahrer Damietta wieder aufgeben.

„Erst nach vier Jahren war ich wieder, dem Herrn sei gedankt, unversehrt und wohlauf, zurück in meiner Residenz.“
Er lächelt weise. „Ja, es stimmt, auf den Generalvikar konnte ich mich verlassen. Zwar hat er nach bereits kurzer Zeit die Arbeiten am lang gestreckten Hauptteil des kirchlichen Bauwerks einstellen lassen. Doch er hatte gute Gründe dafür. Die Entscheidung war und ist richtig gefällt worden.“

Anstatt den Weiterbau des Langhauses voranzutreiben, wurde das Augenmerk auf die neu zu errichtenden Ostteile der Kathedrale gelegt. Von dort aus sollte der Bau dann Stein um Stein weiter nach Westen vollzogen werden.

Urplötzlich fasst sich Bischof Nikolaus an seine Brust. Dort, zu etwa zwei Dritteln links und zu einem Drittel rechts des Brustbeins spürt er ihn, den Schlag seines Herzens. Es schlägt unregelmäßig. Ein stechender Schmerz droht es in mindestens zwei Teile zu zerreißen. Er hält inne, atmet langsam tief ein und nach wenigen Sekunden hörbar wieder aus. Obwohl es in der Kathedrale angenehm kühl ist, beginnt er aus allen Poren zu schwitzen. Allmählich lässt der Schmerz nach. Das ist ihm in letzter Zeit öfter passiert. „Ich muss es noch erleben. Herr, ich will ihn noch sehen und bestaunen.
Er ist doch für dich bestimmt, um dich zu ehren!“

Gemeint ist der Chor auf der westlichen Längsseite der Bischofskirche. Er soll es werden, der würdevolle Abschluss und zugleich in Stein gemeißelte Höhepunkt seines Bauwerkes.

Nicht nur die Schmerzen in seinem Brustkorb sind es, die dem Bischof in letzter Zeit in immer kürzer werdenden Abständen zu schaffen machen. Nein, es ist nicht nur die körperliche Pein, die ihn so beunruhigt. Wie oft ist es ihm schon passiert, dass er in der jüngsten Vergangenheit, von schlimmen Albträumen erschreckt, erwacht. Schweißnass, wie durch das Wasser des nahen Flusses gezogen, ist dann sein Nachtgewand. Und immer die gleichen Bilder, die gleichen Abläufe, die er in seiner Fantasie sieht und durchlebt. Der Herr hat ihn, seinen treuen Diener zu sich gerufen. Bischof Nikolaus kniet vor dem Schöpfer, den Blick auf den Boden gesenkt und hört dessen Stimme: Du hast mir dein Wort gegeben. Sie soll fertiggestellt und verschönert werden, die Kirche in deinem Bistum. Ein zweiter Chor, der in der näheren, aber auch entfernteren Umgebung nach seinesgleichen sucht. Mit Reliefs und Bildern, die aus meinem Leben erzählen. Ich hier oben habe Wort gehalten und dich in diesem Teil meiner Schöpfung zum Hirten einer Herde gemacht. Nun ist es an dir, deinen Teil unseres Pakts zu erfüllen. Viel Zeit will und kann ich dir nicht mehr geben.

Nikolaus denkt nach und zieht eine für ihn, als Kleriker, typische Schlussfolgerung. Bestimmt sind diese Schmerzen in meiner Brust und die erniedrigenden, angsteinflößenden Träume eine Botschaft Gottes. Will er mir damit einfach nur zeigen, dass er mich hart zu strafen bereit ist, wenn ich mein allzu lockeres Dasein so wie bisher weiter auslebe? Noch dazu in meinem hohen kirchlichen Amt. Ja, und die Vollendung der Kathedrale. Habe ich den Weiterbau angesichts meiner Gier nach Leben vergessen?

So abwegig waren dieser Gedanke und die damit einhergehende Furcht vor Bestrafung nun wahrlich nicht. Für einen Angehörigen des höheren Klerus und Verbreiter der Worte des Herrn hatte er recht irdische Laster. Gut, in seinen Predigten spielt das lebensnotwendige und vor allem lebenserhaltende Nass eine tragende Rolle. Das reine, klare Wasser ist es, an dem sich das liebe Vieh aber auch der Mensch erlaben sollte. Wein, vor allem zu viel Wein dagegen berauschte die Sinne des Öfteren derart, dass die Menschen allzu übermütig wurden. Und mit dem Übermut ging dann zumeist auch die Unvernunft einher.

„Das wäre alles nicht so schlimm, wenn dann die Tölpel wenigstens ihr Maul fest geschlossen halten würden. Doch, was tun sie stattdessen. Geifern, tratschen und jammern, über ihr schweres Schicksal im Diesseits. Und allzu oft fallen dann auch Worte, werden Gedanken ausgesprochen, die wahrlich nicht für Gottes Gehörgang bestimmt sind. Können sich eben nicht beherrschen, haben sich nicht unter Kontrolle diese niederen Stände. Viel zu schade also der edle Wein für diesen Pöbel. Wasser, ja, das ist gut genug für solche Leute!“

Nikolaus zieht verärgert seine Stirn kraus. Er selbst liebt den Wein. Manchmal ist es auch ein Becher Gutedel mehr als allgemein zuträglich. Doch er hat sich und insbesondere sein Mundwerk immer unter Kontrolle. Doch er spricht nicht nur dem Rebensaft zu. Gerade bei den Festlichkeiten auf der nahegelegenen Burg, seiner Sommerresidenz, lebt er bei der Musik so richtig auf und wagt dann auch so manches Tänzchen mit einer edlen Frau.