Peter Bürkler: HIMMEL ERDE HÖLLE ZU ENG/Leseprobe

-1-

 

Jana staunte über den geklauten Golf. Sie schenkte Tom einen bewundernden Blick. Er tat ihm gut, genauso wie die Verbundenheit, die plötzlich zwischen ihnen herrschte. Die längste Zeit waren sie meilenweit voneinander entfernt gewesen, und jetzt, so nah! Auf einer gemeinsamen Mission! Er fühlte sich stark, unbesiegbar. Ihre Augen leuchteten wie seit Langem nicht mehr, überstrahlten sogar die Augenringe. Das Leuchten stand jedoch im Widerspruch zu ihrem Vorhaben, und es war genau dieser Widerspruch, der Tom wie ein Faustschlag daran erinnerte, was sie wirklich vorhatten. Er lehnte sich an den Türrahmen und rutschte beinahe in die Knie. Das Vorhaben schien ihm dermaßen absurd, dass es fast nicht wahr sein konnte!

„Was ist?“, sagte Jana. „Los!“

Tom riss sich zusammen. Jetzt durfte er sie auf keinen Fall enttäuschen. Sie würde ihn bestimmt allein zurücklassen. Vielleicht könnte er sie später von der höllischen Idee abbringen. Die Tat lag ja noch weit vor ihnen, es gab noch Zeit.

 

Noch vor Morgengrauen rasten sie über die Autobahn. Sie hatten kein Wort darüber verloren, wohin sie fahren würden. Im Prinzip war es ja egal. Hauptsache sie fuhren, Hauptsache sie waren raus. Jana war froh, dass Tom am Steuer saß, dass sie nicht darüber nachdenken musste. An einer Raststätte tankten sie auf. Jana kaufte Sandwichs und Süßigkeiten und wollte noch einen Kaffee trinken, doch Tom drängte sie, er wollte so schnell wie möglich wieder los. Dauernd sah er sich um, ob die Bullen auftauchten. Sein Verfolgungswahn nervte ihn, hatte ihn schon immer genervt. Dieses Scheißgefühl, von irgendjemandem ertappt zu werden, irgendwas falsch gemacht zu haben! Also weiter! Sie hatten praktisch kein Wort mehr gesprochen seit der Abfahrt. Links und rechts lagen Felder, Waldabschnitte, ein, zwei Bauernhöfe, Hügel, Wiesen. Bald trat die Sonne hervor, eine glühende Scheibe am Ende des Feldes. Seit Jahren hatte Jana keinen Sonnenaufgang gesehen. Als die Sonne zu blenden begann, schloss sie die Augen und lehnte sich nach hinten. Sie wollte das Bild festhalten, und tatsächlich, die runde Scheibe stand vor ihrem inneren Auge, doch das Orange hatte sich in Blau verwandelt, die Freude über den Sonnenaufgang in drückende Melancholie.

Die Freiheit, abbiegen zu können, wann immer es ihm passte, erfüllte Tom mit einer Befriedigung, die er lange nicht mehr geschmeckt hatte. Er musste niemandem Rechenschaft abgeben, niemand würde ihm über die Schulter schauen, ihn kontrollieren, Erklärungen verlangen. Er folgte keinen vorgefassten Kriterien. Manchmal war es ein Ortsschild, das gut genug klang, um ihm zu folgen, oder dann einfach ein Impuls. In der Innentasche seiner Lederjacke fand er ein paar Speed-Tabletten, die er mit einer Büchse Red Bull hinunterspülte. Sie hielten ihn wach, hellwach. Seit er Nachtwächter geworden war, hatte er immer eine kleine Reserve Amphetamin auf Tasche. Er hatte anfangs befürchtet, dass er einschlafen könnte, und das hieße Versagen. Das war zum Glück nie eingetreten. Im Grunde mochte er Speed nicht wirklich. Er wusste dann jeweils nicht, wohin mit all seiner Energie. Im Übrigen machten ihn Zigaretten, Cola, Red Bull, Videogames und Haschisch schon genügend kribbelig. Aber dann war er die ganze Zeit wiederum furchtbar schlapp, kriegte kaum den Arsch hoch. Speed verstärkte diesen Widerspruch nur noch, ein Widerspruch, der ihn zuweilen ziemlich fertig machte. Jetzt aber war dies alles willkommen. Es war ihm, als hätte sich ein neues Leben aufgetan, als hätte er genug geschlafen in letzter Zeit. Er wollte weiter, weiter, weiter, auf keinen Fall wieder irgendwo stehen bleiben. Das wurde ihm vor allem klar, als im Rückspiegel plötzlich Blaulicht blinkte. Es erinnerte ihn daran, dass er einen gestohlenen Wagen fuhr. Seine Brust hämmerte. Und sogleich dachte er an die Mission, derentwegen sie unterwegs waren. Seine kurz aufgeblühte Begeisterung über die neu gewonnene Freiheit zerplatzte brutal. Er versuchte sich vorzustellen, was er den Polizisten erzählen sollte, wenn sie ihn aufhalten würden. Doch der Polizeiwagen überholte. Überraschenderweise machte sich ungewollte Enttäuschung breit, hatte Tom doch im letzten Moment gehofft, sie würden ihn anhalten. Die Mission wäre dann nämlich gescheitert, das Leben nähme seinen Lauf, aber in eine neue Richtung. Verurteilung, Buße, Gefängnis, was auch immer, aber leben! Und dann zurück? Nein, zurück ginge es auch nicht mehr. Die Vorstellung, zurückzukehren in die kleine Wohnung und zu dem Autohandel schmeckte ähnlich wie der Tod. Nun, in freier Fahrt, gewahrte Tom mit Wucht, was für ein Leben er und Jana in den vergangenen drei Jahren geführt hatten. Und nun, wie lautete ihr Ziel? Wohin fuhren sie? Musste das wirklich sein, was sie vorhatten? Jählings nahm ihn wieder Bestürzung in die Mange, wie schon vergangene Nacht, als er begriffen hatte, dass Jana es ernst meinte mit dem Suizid. Er blickte zu ihr. Sie schlief mit offenem Mund, der Kopf schräg nach hinten gekippt. Tom kannte sie zu gut, als dass er annehmen könnte, dass sie ihren Entschluss rückgängig machen würde. Schon früher hatte sie, wenn eine gewisse schwermütige Laune sie beherrschte, ab und an den Freitod erwähnt. ´Dann gebe ich mir lieber die Kugel´, oder: ´Früher oder später werde ich dem Ganzen eh ein Ende setzen.´ Sie hatte noch nie Angst vor dem Tod gezeigt, als hätte sie damit Erfahrung. Toms Atem ging rascher. Jenes mulmige Gefühl überfiel ihn, das Gefühl, das er schon seit der Kindheit so gehasst hatte: ein Feigling zu sein. Wenn Spielkameraden ihm dieses Wort nachriefen, überkam ihn ein Jähzorn, der sogar die Erwachsenen einschüchterte. Sollte ihn jetzt wieder jemand einen Feigling nennen? Jana wäre enttäuscht, natürlich! Womöglich würde sie die Pillen allein schlucken, aus Trotz, bloß um ihn zu bestrafen. Dann säße er da mit einer toten Jana, allein, allein in der Welt!

Tom gewahrte, dass er seit einiger Zeit auf einer abgelegenen Landstraße fuhr. Seine Gedanken hatten ihn dermaßen eingenommen, dass Hände und Füße von alleine arbeiteten. Links und rechts Wald, Felder, Hügel. Die Straße wurde enger und holpriger, umgeben von hügeligen Weiden, bespickt mit vereinzelten Bäumen. Die Natur breitete sich aus, als verböte sie der Zivilisation Einlass. Nirgends ein Zeichen, dass hier der Mensch zugegen war.

Jana stöhnte im Schlaf und warf den Kopf herum. Schweiß perlte ihr auf der Stirn. Sie erwachte mit einem zerdrückten Schrei und riss die Augen auf. Ein horrender Traum hatte sie heimgesucht. Eine Jury, die hinter roten Theatervorhängen saß, hatte sie verurteilt, sich selbst zu verstümmeln. Alles Flehen nach Gnade war umsonst. Sie ließen ihr jedoch die freie Wahl, was sie sich antun konnte, ebenso die Mittel dazu. Vor ihr lagen allerlei Instrumente, die sie benutzen konnte: Messer, Nägel, Scheren, Äxte, Schraubenzieher, Gabeln. Die Jury sagte, dass sie gut wählen solle, denn wenn sie die richtigen Instrumente und das richtige Körperteil wähle, würde die Prozedur abgekürzt. Als sie eine Entscheidung zu treffen versuchte, wurde sie schier vom Wahnsinn gepackt. Sie begriff den Zweck der Sache nicht, aber vor allem war es unmöglich zu erahnen, welcher Weg der schmerzloseste war. Wie kann man so etwas erahnen? Und wie konnte die Jury so brutal sein? Die bleiche, fast gesichtslose Frau, die in der Mitte der Jury saß, drückte auf eine Schachuhr. Da wusste Jana, dass, sobald die Klingel ertönte, jemand von der Jury selbst die Prozedur ausführen würde. „Scheiße!“, rief sie und rieb sich die Augen. Sie schaute nach links und rechts. „Wo sind wir?“

Tom zuckte mit den Schultern. „Irgendwo, hab keinen Blassen.“

Nach ein paar Kilometern wollte sie sagen: Es ist schön hier. Doch die Worte fanden keinen Ausgang, hallten bloß im Kopf wieder, fahl, mit dem Geschmack ihres Traumes beschmiert.

Der Asphalt ging in Schotter über, und dieser verwandelte sich bald in einen Waldweg. Tom hielt. Sie saßen da, wortlos. Die Augen verloren sich an dem Punkt, wo der Waldweg sich in der Dichte der Bäume verlor. Es war sehr still.

„Gehen wir zu Fuß?“ Jana stieg aus, ohne eine Antwort abzuwarten.

Es tat Tom weh, wenn sie so drauf war, so abgekapselt von ihm. Er kam sich nichtig und wertlos vor. Dann blieb ihm jeweils nichts anderes übrig, als ihr einfach zu folgen. Wortlos trotteten sie voran. Die Sonne spielte durch die Äste hindurch und warf Strahlenvorhänge zu Boden. Ein Kuckuck rief, auf einer Spitze sang eine Amsel. Ansonsten nichts als das Knirschen des Blätterbodens unter den Schuhen. Die Stille rundherum glich einem Universum. Sie bannte die beiden jungen Menschen, sie vergaßen sich für einen Moment, vergaßen ihre Existenz, ihre Mission. Die Fülle der Umgebung schmückte jeglichen Raum mit kolossaler Gegenwart, innerlich wie äußerlich. Die Luft war rein und frisch und duftete nach Erde, Harz und Tannennadeln. Das Denken war stillgelegt, die Sinne dehnten sich aus, die Füße marschierten mechanisch, als kannten sie Richtung und Ziel.

Keiner wollte anhalten, als gäbe es keinen Grund dafür oder als stünde die Furcht im Nacken. Sie waren einer höheren Macht ausgeliefert, die sie in Bewegung hielt, eingelullt in die Neuartigkeit dieser fremden und doch so heimischen Umgebung. Einmal wurde der Wald dunkler, bald lichtete er sich, einmal ging es bergauf, dann wieder hinunter. Schließlich führte der Weg auf eine weite Lichtung. Eine quadratische Holzbaracke stand am Rand, daneben ein halbwegs zerfallenes Steinhaus ohne Fenster und Türen. Endlich wieder ein Zeichen von Zivilisation zu sehen, war genauso beruhigend wie enttäuschend. Sogleich fiel Erschöpfung über die beiden. Sie setzten sich ins Gras, stützten sich auf die Ellbogen, sahen sich um, unsicher, unwissend, unentschieden, von Bildern, Geräuschen und Gerüchen beherrscht. Die Lichtung war mit grobem Gras bewachsen, vereinzelte Felsbrocken lagen hier und dort, dazwischen Bäume, mächtig und alterslos. Die Sonne brannte auf die Wiese. Aus ihr klang ein kraftvolles Zirpen, scharf, hektisch, unzählbar und doch rhythmisch. Die Luft roch herb nach trockenem Gras. Rundherum stand der Wald, ohne Anzeichen, dass er irgendwo endete.

Die Pause nach dem langen Marsch brachte bald die Erinnerung zurück, weshalb sie unterwegs waren. Der Stillstand schien verhängnisvoll. Die Wahrnehmung trübte sich, richtete sich nach innen. Jana dachte an den Moment, als Tom sie gedrängt hatte, ein Tier zu nennen, in das sie wiedergeboren werden wollte. Damals fand sie es lächerlich, doch jetzt inmitten der Natur erschien ihr die Idee gar nicht mehr so abwegig. Von dem friedlichen Ort hier in die Seele eines Wolfes zu reisen, fühlte sich beinahe behaglich an. An den Tod dachte sie nicht, der Tod war zu klinisch, die Vorstellung unvorstellbar. Ein Hinübergleiten in einen neuen Zustand hingegen gefiel ihr und kam ihr realistisch und durchführbar vor.

Tom schielte zu Jana. Er wusste genau, was in ihr vorging. Unbehagen packte ihn, das sich schleichend in Angst verwandelte. Sie saß wie ein Klotz in ihm. Für ihn war das Vorhaben von Beginn weg nichts als ein undurchführbarer Wahnsinn gewesen, nichts als ein Gedankenspiel, weniger real als ein Videogame. Nicht aber für Jana, bei ihr ging es ums Ganze. Tom wollte etwas sagen, einfach um Zeit zu gewinnen, um den Endpunkt hinauszuzögern. Doch sie hatte sich schon erhoben und schlenderte hinüber zu der Holzhütte. Tom folgte ihr. Die Tür war abgeschlossen.

„Niemand da“, sagte Jana.

„Ist bestimmt bewohnt.“

Jana spähte durchs Fenster, konnte aber nichts erkennen. Der Vorhang war zugezogen.

„Und wenn er zurückkommt?“

„Er?“, sagte Jana herausfordernd. „Wie weißt du denn, dass hier ein er wohnt?“

„Hab ich nur so gesagt“, sagte Tom bemüht. „Wie auch immer, scheint mir kein guter Ort hier.“

Jana schlenderte umher und setzte sich auf einen Stein. „Mir scheint es ein guter Ort zu sein. Und ich kann nicht mehr laufen, meine Füße schmerzen. Mein ganzer Körper tut weh.“ Jana erschrak, in welcher Verfassung sie war. Vor vielen Jahren hatte sie noch Volleyball gespielt, jetzt war sie schon nach einem Spaziergang fix und fertig. Kein Wunder, seit Wochen war sie nicht mehr aus dem Haus gegangen.

Eine Weile saßen sie stumm da, dann erhob sich Jana und trat in die steinerne Ruine. Es roch modrig und nach kühlem Stein. Abgebrochene Mauersteine lagen auf dem Boden verstreut. Aus den Wänden staken verfaulte Stümpfe der Querbalken. An der einen Wand stand ein Haufen vergammeltes Zeugs: ein Tisch, ein Sofa, eine Kiste mit Geschirr und rostigen Töpfen, verwitterte Holzfenster mit zerbrochenen Scheiben, Wellblech, Drähte, Holzböcke, zwei verformte Liegestühle. Entlang der gegenüberliegenden Wand lag ein Haufen Mauersteine, daneben Zementsäcke sowie Schaufeln und Maurerwerkzeug. Jana fläzte sich aufs Sofa und sah zum Dach hoch. Die Dachbalken waren uralt, die Leisten unter den Dachziegeln morsch und verbogen.

Tom stand im Eingang, auf Jana fixiert. Er wagte sich nicht zu setzen. Sie schenkte ihm einen nichtssagenden Seitenblick, als wäre er Teil der Ruine. Ihre Gleichgültigkeit verunsicherte ihn. Immer noch hoffte er, dass sich eine vernünftige Wendung einschlagen würde. Wieder trafen sich ihre Augen, aber nun lag der Hauch von verurteilender Provokation in ihrer Miene, eine Miene, die er nur zu gut kannte, die sich zeigte, wenn er ihr auf die Nerven ging, mit seinen Zweifeln, seinem Hadern, seiner Unzufriedenheit, seiner Kritiksucht, seiner bübischen Unsicherheit. Er verabscheute sie, er verabscheute sich. Er wusste, dass sein Hadern genau die gegenteilige Wirkung in ihr auslöste als wie er sich erwünschte oder erhoffte. Er senkte den Blick. Sein Augenmerk fiel auf die Maurerutensilien. Im hinteren Drittel hatte jemand begonnen, eine Quermauer zu bauen.

„Da hat jemand vor, die Ruine instand zu stellen“, sagte er mit aufgesetzt neutraler Stimme. „Guck mal, da sind schon neue Steine eingemauert.“

„Na und? Willst du jetzt mauern?“

Ihr Ton kränkte ihn. Er hasste sie. Sie wusste es und hasste sich selbst. Immer wieder war sie ihrem erniedrigenden Tonfall ausgeliefert, als käme er aus einer autonomen Ecke. Beide starrten auf die frisch eingemauerten Steine. Tiefes Schweigen. Es schien, als getraute sich keiner von beiden, sie zu durchbrechen, denn darauf würde unumstößlich nur das eine, Unausweichliche folgen. Tom schielte zu Jana. Ihre Miene war leer, ausdruckslos, gleichgültig, so gleichgültig wie er sie noch nie gesehen hatte. Es war, als hätte sie sich trotzig in diese eisige Gleichgültigkeit hineingesteigert. Er selbst fühlte nichts als eingesperrte Verzweiflung. Er hielt es fast nicht mehr aus.

Jana entnahm dem Rucksack die Wodkaflasche und die Pillen und sah Tom herausfordernd in die Augen: „Bist du bereit?“

Tom war wie versteinert.

„Komm, setz dich endlich hin!“, sagte sie und klopfte aufs Sofa. Sie wirkte nun weicher, fast versöhnlich.

Tom war ihr ausgeliefert. Mechanisch setzte er sich neben sie.

„Denkst du, es gibt hier Wölfe?“, fragte sie.

„Was weiß ich“, sagte er mit brüchiger Stimme.

„Aber bestimmt Adler, nicht?“

Tom starrte auf die Pillen und spürte Schweißperlen auf der Stirn. Sie nahm einen langen Schluck und reichte die Flasche Tom. Er wollte nur einen Schluck nehmen, setzte aber an, bis es ihn schüttelte. Er rieb sich die tränenden Augen und hustete. Mit brüchiger Stimme sagte er: „Scheiße, willst du es wirklich tun?“

Sie nahm ihm die Flasche aus der Hand und trank einen ganzen Viertel in einem Zug. Es brannte in der Kehle, es tat ihr gut. „Ich kann nicht zurück“, hörte sie sich sagen. „Es gibt kein Zurück.“

Tom starrte blicklos zu Boden. Der Alkohol begann zu wirken, Nebel umwob das Hirn. Zurück? Was hieß denn zurück? Das Wort blieb nichts als ein Wort, ohne Sinn, ohne Gefühl, bar eines Bildes. Und doch verursachte es ihm schier Brechreiz. Er griff nach der Flasche und setzte sie an, trotzig.

Jana stierte auf die Schachtel mit den Pillen: „Die Leute in dem Chatroom, die Erfahrung mit dem Tod hatten, sagten, es würde danach nur besser.“

„Erfahrung mit dem Tod?“, krächzte Tom und musste schier kotzen.

Energisch knickte sie zwei Pillen aus der Folie, steckte sie in den Mund, nahm einen Schluck Wodka, schluckte und spülte nach. Tom atmete in irren Stößen, sein Herz raste. Besser, klang es in seinem Schädel nach, es würde danach nur besser! Jana brach zwei weitere Pillen heraus und hielt sie ihm auf offener Handfläche hin. Ihr herausfordernder Blick gab ihm den Rest, ließ ihm keine Wahl. Sagte er jetzt nein, würde sie den Du-bist-ein-Feigling-Blick aufsetzen und trotzig weitere Pillen schlucken. Er ergriff ihre Hand, schnappte nach den Pillen, presste die Augen zu und schluckte sie. Sie selbst schluckte zwei weitere, reichte ihm zwei, schluckte zwei, und so ging es weiter, bis die Packung leer war. Ebenso die Flasche. Die Umgebung verlor sich allmählich in Unschärfe, entfernte sich, füllte sich mir geräuschloser Leere. Wie zwei Säcke hingen sie im Sofa, Schulter an Schulter. Das Licht drang schwächlich durch die schweren Augenlider und verdunkelte sich rasch. Sie ergriff seine Hand, er reagierte. Die beiden Hände klammerten sich aneinander. Sein Kopf klappte auf ihre Schulter, worauf sie zur Seite kippte. Tom gab nach und fiel kraftlos auf sie. Betäubt lagen sie halbwegs aufeinander auf dem feuchtkühlen Sofa. Die Körper zerflossen, lösten sich auf. Eine gefühllose Nacht legte sich über die beiden, eine taube Nacht ohne Charakter, ohne Ende, ohne Sinn.

 

-2-

 

Mit langen Schritten stapfte Lorenz durch den Wald, aufgewühlt, wie er immer nach dem Besuch seiner Mutter war. Ins Altersheim muss sie, sagte er zu sich, ins Altersheim. Der Gedanke hing ihm schon seit Wochen im Kopf. Er zögerte es hinaus, immerfort. Warum? Sie tat ihm leid. Ein Heim wäre ihr Ende, das wusste er, und sie wusste es auch.

Als er auf die Lichtung trat, sagten ihm seine Sinne sofort, dass etwas anders war. Jemand war hier gewesen. Seine Sinne und sein Instinkt waren wie die eines Tieres. Sie arbeiteten inzwischen genauso gut, wenn nicht besser als das Gehirn. Vor Jahren war es noch umgekehrt gewesen. Als er hierhergezogen war, vermochte er anfangs in der Dunkelheit kaum etwas zu erkennen, und der Geruch eines nahen Tieres lag außerhalb seiner Witterung. Mit einem einzigen Blick zum Himmel hingegen hätte er das Weltall berechnen können.

Er schaute sich um und trat schließlich in die Ruine, wo er die beiden leblosen Körper entdeckte. Ein Schauder durchfuhr ihn. Die leere Flasche und die Pillenpackung verlangten keine langen Gedankengänge. Wie oft hatte er selbst mit dieser Fantasie gespielt, wie oft hatte er sie gedanklich ausgeführt, in allen erdenkbaren Formen und Anwendungen? Er hielt den Finger unter die Nasenlöcher, spürte schwachen Atem, horchte an den beiden Herzen. Sie klopften zwar, doch schwächlich, zweifelnd. Er trug die Körper ins Freie, einer nach dem andern, und ohrfeigte sie, zuerst ihn, dann sie. Er drehte Jana auf die Seite, sperrte mit zwei Fingern ihren Mund auf und steckte den Zeigefinger in den Rachen, so lange, bis der Brechreiz kam. Sie zuckte, hustete, krümmte sich, und mit einem Mal spritzte ein Schwall aus dem Mund. Es stank nach Schokolade. Er tat dasselbe bei Tom, bei dem es länger dauerte, als wäre er schon mit einem Bein im Jenseits. Schließlich erbrach auch er sich, stöhnte, hustete, dröhnte, krümmte sich erbärmlich. Aber dann trat er wieder weg. Beide hatten sich zwar ausgekotzt, lagen aber aufs Neue reglos da, als wäre schon zu viel Gift im Blut. Wollten sie wahrhaftig verrecken? Und er müsste sie dann begraben, oder was? Lorenz betrachtete die beiden Menschen da am Boden. Sie könnten meine Kinder sein, dachte er und schüttelte den Kopf. Nein, verrecken sollen sie nicht. Er holte die beiden Blecheimer, die auf der Veranda standen, schritt zum Ziehbrunnen, warf den Eimer, der an eine Kordel gebunden war, in die platschende Tiefe, zog ihn mit ein paar kräftigen Zügen hoch und füllte nach und nach die beiden Eimer. Dann riss er den beiden Leblosen die Kleider vom Leib. Sie ließen es geschehen, rührten sich kaum, waren praktisch hinüber und lagen nun nackt und ausgeliefert auf der Erde. Das Bild erbarmte Lorenz. Einen Moment zögerte er. Sollte er sie wirklich retten? Hatten sie nicht den Freitod gewählt? Sollte eine solche Entscheidung nicht respektiert werden? Das Leben kann unerträglich sein, das hatte er selbst erfahren, und niemand konnte mit Sicherheit dagegenhalten, dass der Tod nicht angenehmer war. Wollte er dafür verantwortlich sein, wenn sie weiterhin vom Leben gegeißelt werden? Und wie hoch lagen die Chancen für das Gegenteil? Er stierte auf Janas molligen Körper, die bleiche Haut, die vollen Brüste, die prallen Schenkel, der blonde Busch. Er riss den Blick weg, ergriff einen Eimer und schüttete ihn über sie, ergriff den zweiten und leerte ihn auf Tom. Es half, die beiden Körper zuckten und beugten sich, Lorenz vernahm schwaches Stöhnen. Aber dann konnte er es nicht mehr mit ansehen, die Erbärmlichkeit dieses Anblicks quälte ihn. „Sollen sie doch leben oder sterben“, sagte er und spürte die aufsteigenden Tränen. Er ging in die Hütte, setzte sich aufs Bett, stützte den Kopf in die Hände, verbarg das Gesicht darin. Lange hatte ihn nichts mehr so aufgewühlt. Er kriegte die Bilder nicht mehr aus dem Kopf: Die beiden jungen nackten Menschen am Boden, halb tot, hilflos, verloren. Er wusste, er musste sich um sie kümmern, aber er blieb einfach sitzen, wie gelähmt.

 

Der Tag begann sich zu neigen, das Licht schien bläulich, die Bäume zeigten dunkle Konturen und gingen ineinander über, als bereiteten sie sich vor auf die Vereinigung mit der Nacht. Jana öffnete die Augen. Sie schlotterte. Endlich kam sie auf die Knie. Rundherum drehte sich die Welt. Um ein Haar fiel sie zur Seite. Torkelnd sammelte sie ihre Kleider ein und zog sie an. Tom stöhnte, wand sich, auch er schlotterte. Jana zog ihn am Arm hoch. Er saß da wie eine unsichere schlaffe Puppe, sein Blick verschwommen, kränklich, nirgends verankert. Sie legte ihm den Sweater über die Schulter und reichte ihm die Hose. Sie stolperte, fiel hin, versuchte aufzustehen. Nach dem zweiten Versuch blieb sie liegen und verlor erneut das Bewusstsein. Auch Tom, kaum hatte er es geschafft, sich die Hose überzuziehen, kippte zur Seite und trat weg.

Im Morgengrauen erwachte Lorenz. Erschrocken schlug er die Augen auf. War es ein Traum gewesen? Er schoss hoch und ging auf die Veranda. Nein, dort lagen die beiden, schliefen wie Tote. Wenigstens hatten sie sich angezogen. Also leben sie. Offenbar hatten sie gefroren. Was für ein dummer Gedanke, dachte er. Er holte eine Wolldecke und deckte sie zu. Wieso hatte er dies nicht schon vorher getan? Oder sie ins Haus getragen? Wieso hatte er sie einfach allein gelassen? Er verstand sich selbst nicht. Und was jetzt? Sollte er sie ins Haus tragen? Er entschloss sich, sie einfach mal schlafen zu lassen, ging in die Hütte und setzte Kaffee auf. Dann saß er auf der Veranda, schlürfte an der Tasse, sah hinüber auf die Schlafenden, horchte dem Vogelkonzert. Zahllose Vögel begrüßten mit allerlei Stimmen und Gesang den neuen Tag. Lorenz vermochte jeden einzelnen herauszuhören, und es war ihm, als verstünde er deren Sprache. Für einen Moment vergaß er sogar die beiden jungen Leute. Aber nur für einen Moment. Das Vogelkonzert war heute kein Genuss. Die Ablenkung störte ihn. Sobald sie wach sind, schicke ich sie weg, sagte er sich. Depressive Stadtkinder kann ich hier nicht gebrauchen. Seine unerwartete Härte erstaunte ihn. Woher kam sie? Von der ungewollten inneren Reise zurück in die Vergangenheit, von der Erinnerung an die eigene Krise damals? Er legte den Kopf in die Hände und rieb sich die Stirn. Weg, weg, sagte er sich, weg, bevor der ganze Mist hochkommt! Fort mit euch, ihr Drecksgedanken! Er schielte zur Seite. Die beiden jungen Menschen taten ihm leid, der Anblick tat ihm weh.

Jana erwachte. Sie fühlte sich elend. Der Kopf hämmerte, der Magen schien sich zu drehen. Wo war sie? Die vielen Vögel verwirrten sie, so etwas hatte sie noch nie gehört. Die Erinnerung an das Vorgefallene tat sich auf, wie ein zögerlich sich öffnender Vorhang. Sie stützte sich auf die Ellbogen und fuhr mit den Augen die Gegend ab. Tom schlief zusammengerollt wie ein Igel. Plötzlich entdeckte sie Lorenz dort drüben auf der Veranda, sein Blick auf sie gerichtet, als säße er schon seit Stunden so da. Sie kämpfte sich auf die Beine und wollte fragen, wo das Klo war, kriegte aber keinen Ton raus, Mund und Kehle ausgetrocknet. Um ein Haar wurde es ihr schwarz vor Augen. Sie torkelte hinter die Steinruine und kauerte sich nieder. Sie erinnerte sich an den letzten Moment auf dem Sofa. Wie waren sie aus der Ruine gekommen? Hatte er sie gerettet? Als sie zurückkam, schüttelte sie Tom. Er erwachte zögerlich, stöhnte, setzte sich auf, verwirrt und benebelt. Als er Lorenz erblickte, erschrak er.

„Guten Morgen“, rief Lorenz. „Na, gut geschlafen?“

„Wer ist das?“, flüsterte Tom.

Sie zuckte mit den Schultern: „Wohnt wohl hier.“ Auch sie flüsterte.

„Lass uns verschwinden!“, sagte Tom tonlos, und sogleich würgte es ihn. Er kämpfte sich auf die Beine, schwankte hinter die Steinruine, fiel auf die Knie und kotzte. Es würgte ihn spastisch, aber es kam nichts, nur Galle. Dann kam er zurück, geschlagen, kraftlos. Er vermied den Blick des Mannes, doch als er neben Jana auf dem Boden saß, schielte er hinüber. Der Mann beobachtete sie unentwegt. Tom war es mulmig zumute. „Ich mag das Ganze hier nicht“, sagte er leise. „Und diese Type da drüben, der uns die ganze Zeit anstarrt!“ Er machte sich eine Zigarette an und reichte Jana die Schachtel, die sich ebenfalls eine anzündete. „Komm, lass uns verschwinden!“, flüsterte er gepresst.

Lorenz stand plötzlich vor ihnen und musterte sie: „Na, tut es euch leid, dass ihr noch lebt?“

Jana und Tom sahen zu ihm hoch, genauso verwirrt wie verunsichert. Doch sein brutaler Sarkasmus stärkte Jana überraschend. Sie nahm einen tiefen Zug, blies den Rauch schräg aus, sah ihm direkt ins Gesicht, sah etwas, das sie herausforderte, ohne zu verstehen, was und wieso. Seine zusammengekniffenen Augen waren beinahe schwarz, in seinem scharfen Blick wohnte eine ruhige Kraft. Der Anflug eines unsichtbaren Lächelns versteckte sich hinter dem dunklen buschigen Bart.

„Du warst es, der uns gerettet hat, nicht wahr?“, sagte sie.

„Gerettet?“, wiederholte Lorenz und lachte künstlich auf. „Ich hoffe, dass ich euch gerettet habe, ja. Wie auch immer, schaut dass ihr so bald wie möglich von hier fortkommt.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich ab und verschwand in der Hütte.

„Also“, sagte Tom und rauchte nervös, „ziehen wir Leine?“

Jana ignorierte ihn und sah auf den Punkt, wo Lorenz verschwunden war.

„Scheiße, ich will hier weg!“, sagte Tom und warf die Kippe auf den Boden und drückte sie mit dem Absatz aus. „Mag diesen Typ nicht.“

„Und wohin willst du?“, fragte sie mit einem zynisch gleichgültigen Unterton.

„Wohin? Mann, ist doch egal. Einfach mal weg! Dann sehen wir weiter.“

„Gute Idee“, sagte Lorenz, der plötzlich wieder auf der Veranda stand. „Und schmeißt bitte die Kippen nicht auf den Boden!“

Tom starrte auf die Kippe. Er hob sie auf, schaute sich nach einem Mülleimer um und stopfte sie schließlich in die Zigarettenschachtel, und diese wiederum in die Hosentasche, wo schließlich auch die Hände landeten. Unentschlossen trat er von einem Bein aufs andere, guckte zu Boden, dann zum Himmel hoch. Er hasste es, wenn ihn jemand verunsicherte. Er machte ein paar unschlüssige Schritte, dann fand er sich über den Brunnenrand gebeugt. Tief unten glänzte das Wasser, darauf spiegelte sich dunkel der Himmel, sein Kopf zeichnete eine Silhouette. Er lehnte sich an den Brunnen und rieb sich die Augen. Auch wenn er sich wahrhaftig zerschlagen fühlte, gab es etwas, das heimlich in ihm jubelte: Er lebte! Der Albtraum war vorüber. Im Stillen dankte er dem Mann, dass er sie gerettet hatte. Nichtsdestotrotz, er wollte weg. Irgendwas hier stimmte nicht. Aber wohin? Zurück? Sein Augenmerk fiel auf den Blecheimer, der auf dem Brunnenrand ruhte, an einer dicken Kordel befestigt, die an einem eingeschlagenen Haken festgeknotet war. Er hatte Lust, den Eimer hinunterzuwerfen und Wasser hochzuziehen. Es war eine archaische Lust, die aus einer unbekannten Ecke kam und im Prinzip nichts mit dem Brunnen zu tun hatte. Allein, er war zu schlapp, die Glieder rührten sich nicht, sie vermochten die Lust nicht in Handlung umzusetzen. Und möglicherweise hätte der Typ etwas daran auszusetzen. Neben dem Brunnen standen drei hölzerne Getränkekästen mit gläsernen Wasserflaschen. Tom hatte Durst, doch er wagte es nicht, nach einer Flasche zu greifen. Er wusste ja nicht einmal, ob es Trinkwasser war. Bestimmt Brunnenwasser. Und all das Ungeziefer da drin? Doch dann erinnerte er sich, dass der Mann zuvor auf der Veranda aus einer solchen Flasche getrunken hatte. Sein Blick schweifte umher. Der Mann war verschwunden. Er nahm eine Flasche und leerte sie. Das Wasser schien in Ordnung. Er stellte die leere Flasche zurück und fischte sein iPhone aus der Lederjacke und versuchte, sich zu lokalisieren. Es gab keinen Empfang, und gleich darauf war der Akku leer. In der Aufregung gestern hatte er vergessen, das Ding aufzuladen. Wie hatte er nur so doof sein können? Er sah zu Jana hinüber. Sie saß im Schneidersitz am Boden, leer vor sich hinstarrend. „Jana, kann ich mal kurz dein Handy benutzen? Mein Akku ist alle. Will wissen, wo wir sind.“

Sie reagierte nicht, Tom wiederholte die Frage.

„Hab ich zu Hause gelassen“, murmelte sie gleichgültig.

„Was? Bist du bescheuert?“

Sie ignorierte ihn. Es war ihr egal, alles war ihr egal. Auch dass sie gelogen hatte. Sie fühlte sich zum Kotzen, müde, leer. Die Nachwirkung vom Alkohol und den Pillen saß in jeder Pore. Am liebsten hätte sie sich hingelegt und geschlafen, endlos, für immer. Sie hasste den Mann dafür, dass er sie gerettet hatte. Sie legte sich auf den Boden, rollte sich zusammen, schloss die Augen.

„Mann, was machst du?“, hörte sie Toms Stimme. „Lass uns abhauen, verdammt!“

„Geh doch“, murmelte sie.

„Scheiße! Was willst du noch hier? Und dieser Typ? Oh fuck! Der ist doch crazy, Mann, hast du das nicht gesehen?“

„Lass mich in Frieden! Ich will schlafen.“

Tom war in zwei Schritten bei ihr. „Steh auf!“ Er zerrte sie am Arm.

„Lass mich, Mann!“, fauchte sie.

Er ließ von ihr und tat ein paar Schritte. Zorn stieg in ihm hoch, ein Zorn, der ihn schon ein Leben lang begleitete, der aber nur selten den Ausgang fand, und wenn, dann wollte er alles niederreißen und zerstören. Er las einen Stein auf und schmetterte ihn gegen die Hausruine. Der Stein prallte ab, knapp an Jana vorbei. Sie reagierte nicht, offenbar war sie eingeschlafen, oder es war ihr egal. Tom fluchte gepresst vor sich hin und warf den Kopf hin und her. Er setzte sich auf den Brunnenrand und machte sich eine Zigarette an.

Lorenz trat aus der Hütte, einen altmodischen Rucksack am Rücken, ausgetragene Bergschuhe an den Füßen. Er verriegelte die Tür und stapfte an Tom und Jana vorbei. „Wenn ich zurück bin, seid ihr weg!“ Mit entschiedenen Schritten verschwand er im Wald.

Sie sahen ihm nach, bis der Wald ihn verschluckt hatte. Als das Knirschen seiner Schuhe nicht mehr zu hören war, breitete sich eine mächtige Stille aus. Der Vogelsang war verschwunden. Die Sonne brach herein, und mir ihr schaltete sich das Zirpen ein. Mit jeder Minute wurde es lauter. Die ganze Lichtung war schließlich ein einziges, lautes Zirpen, eine Art monotone Tonschleife. Jana lag am Boden und ließ sich davon forttragen. Es war ihr, als zirpte es in ihrem Schädel. Die wärmenden Sonnenstrahlen fühlten sich wohlig an, ließen sie einschlummern. Die Stunden zerrannen. Tom saß an den Brunnen gelehnt. Eine matte Schwere drückte ihn nieder, darin Leere und Hoffnungslosigkeit. Noch nie im Leben hatte er sich dermaßen einsam gefühlt. Er rauchte eine nach der andern. Als die Schachtel leer war, legte er sich auf den Boden. Er musste sich einfach hinlegen, sonst wäre er umgekippt. Und sogleich übermannte ihn der Schlaf.

 

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Der Wald lichtete sich, Lorenz kam auf eine hügelige Weidelandschaft und schritt auf Simons Gehöft zu. Die Gebäude befanden sich am Waldrand, zu den Weiden hin standen einige Nussbäume und Linden. Hier arbeitete Lorenz an ein, zwei Tagen in der Woche.

Simon hielt eine große Herde Schafe, die regelmäßig gemolken und hin und wieder geschärt werden mussten. Die meiste Arbeit für Lorenz aber wartete in dem Sägewerk. Es war Simons Haupteinnahmequelle. Vor der Sägerei stapelten sich endlose Reihen von Baumstämmen, auf hohen Regalen trockneten Bretter und Leisten in allen Größen und Maßen. Mit Simons Familie hatte Lorenz wenig zu tun. Er grüßte und wechselte ein paar freundliche Sätze, wenn man sich überhaupt zu Gesicht kam. Anfangs hatte er sich öfters in ein Gespräch verwickeln oder sich gar zum Essen einladen lassen, und es schien so, als würde hier eine neue Freundschaft wachsen. Aber als sich gewisse Dinge, die er nicht mochte, zu wiederholen begannen, zog er sich zurück. Simon und seine Familie waren vorerst enttäuscht. Doch sie nahmen Lorenz so, wie er war, eigenbrötlerisch, undurchschaubar, ein bisschen wie von einem anderen Planeten. Hauptsache er war zuverlässig und arbeitsam. Simon wäre alleine nicht zurecht gekommen, obwohl er von früh bis spät wie ein Ochse schuftete. Jede Arbeit, die er Lorenz auftrug, erledigte dieser schnell, sauber, perfekt. Simon wusste, was er an diesem Mann hatte. Nicht nur, dass er wenig Lohn für seine wertvollen Dienste verlangte, sondern auch weil Simon kaum jemanden finden würde, der Wissen, Erfahrung, geschickte Hände, einen starken Körper und Verstand besaß.

Nicole ging Lorenz für gewöhnlich aus dem Weg, seit sie einst mit versteckten Avancen an ihn herangetreten war, nachdem sie ihm ihr Herz ausgeschüttet hatte. Sie gab sich launisch und unzufrieden mit ihrem Leben. Gaston und Philippe, ihre zwei Buben, fürchteten sich ein wenig vor Lorenz, aber in der Furcht steckte auch heimliche Bewunderung. Lorenz kam aus einer anderen Welt, die ihnen verborgen blieb. Zudem war er stets offen und ehrlich, sein Blick ruhig, klar und sicher. Das kannten sie nur von Großvater, und ebenso wie dieser lachte auch Lorenz über Dinge, die andere zur Weißglut trieb. Für Lorenz hingegen waren die beiden Buben langweilig. Waren sie nicht in der Schule, verbrachten sie die meiste Zeit mit Gamen. In Philippe, dem Jüngeren, der seiner Mutter und vor allem seinem Großvater nachschlug, sah er zwar Potenzial, doch es wurde erstickt durch den älteren Bruder, der Simon nachschlug. In dessen Adern floss robustes Bauernblut, während Philippe von zarter, empfindsamer Natur war und lieber mit dem Kopf als mit den Händen arbeitete.

Simon war ein vierschrötiger Mann mit einem rotbäckigen Bubengesicht, darin ein verwässerter, leicht duckmäuserischer Blick. Er war jedoch gutherzig, freundlich und respektvoll zu allen, auch zu Lorenz. Simon war im Grunde genauso empfindsam wie Philippe, doch diese Seite vertrug sich schlecht mit seinem Dasein, also schüttete er sie oft mit Bier zu. Er und Lorenz waren aus verschiedenem Holz geschnitzt, Simon eine einheimische Eiche, Lorenz ein exotisches Hartholz mit unbekannten Eigenschaften. Simon vermochte nicht in Lorenz hineinzusehen, er hatte bloß ein Bild von ihm. Aber er vertraute ihm und mochte es, mit ihm über persönliche Dinge zu sprechen, wenn sie während einer Pause ein Bier tranken. Oft stand der Haussegen schief, und Simon wusste dann weder ein noch aus. Lorenz war ein guter Zuhörer und schien immer alles zu verstehen, vor allem wenn Simon von Nicole sprach, mit der er ständig in den Haaren lag.

Die Arbeit im Sägewerk fiel Lorenz heute schwer. Die Bretter, die sie eben gesägt hatten und nun auf die Regale schichteten, wiegten mehr als gewöhnlich. Dauernd funkten Gedanken dazwischen. Es waren die beiden jungen Leute, sie geisterten unentwegt in seinem Kopf. Vor allem das Mädchen erschien wieder und wieder vor seinem inneren Auge, wie es zusammengekrümmt am Boden lag, nackt, hilflos, eingepackt in eine schneeweiße Haut. Gegen Feierabend wurde Lorenz von einer nervösen Spannung erfasst. Er konnte es kaum erwarten, wieder zu Hause zu sein. Indes, er vermochte seiner inneren Regung keinen Namen zu geben, sie ähnelte einer Sinuskurve, rauf und runter, einmal im positiven Bereich, einmal im negativen. Er wünschte, die beiden jungen Leute wären verschwunden, wenn er zurückkäme, wünschte, alles wäre nur ein Traum gewesen und die Ruhe wieder eingekehrt. Und gleichermaßen wünschte er das Gegenteil, wünschte vor allem, das Mädchen noch einmal zu sehen. Sie hatte irgendwas in ihm gereizt, hatte einen geheimen Eingang gefunden, den er jahrelang verborgen gehalten hatte. Die ganze Angelegenheit machte ihn kribbelig und reizbar.