Uwe Seidel: Wenn du wieder Land betrittst/Leseprobe

TAG 1 (Freitag, 22. August 2014)

Die fremden Hände auf meinen schmalen Schultern waren kaum zu spüren, als ich vor zwei Ahnentafeln stand, die von den Nachfahren in eigens geschnitzte Holzrahmen gefasst worden waren. Vergilbt die Fotos, graue Schleier vor den Augen, verloren das Leben. Modriger Geruch, wenn man zu nah herantrat. Die Erinnerung an die Vergänglichkeit ließ mich schaudern.

Das sind die Hochzeitsbilder meiner Eltern und Großeltern“, sagte Michl, der Hüttenwirt, lenkte nach dem kurzen Moment des Innehaltens ab: „Du bist aber heute früh raus, Robert.“

Ja, das Gewitter hat mich geweckt.“

Michl nahm die Hände von meiner Schulter. Er stand noch immer hinter mir. Ich drehte mich zu ihm um: „Heute werden wohl so schnell keine Gäste kommen. Ist es in Ordnung, wenn ich mal hoch auf den Gründegg gehe?“

Du und deine Gipfel“, antwortete er, „geh ruhig, ich muss rasch noch zum Vieh. Du frühstückst dann doch mit uns?“

Ich nickte und wartete, bis er hinter der schweren Holztür der Hüttenstube verschwunden war, die, von einer Stahlfeder gezogen, an den schiefen Rahmen krachte. Achtlos und oberflächlich hatte ich gute drei Monate seine Familienbilder übersehen. Erst heute war ich, leicht irritiert vom frühen Aufstehen, durch die Stube spaziert und nah heran an die verblichenen Fotos getreten.

Ich schaute in die Gesichter mir fremder Menschen, die längst von Würmern vertilgt worden waren, entdeckte das Antlitz meiner Großeltern Fritz und Johanna, bevor sie rasch zu Staub zerfielen. Dann erschien mir Vater. Ebenso kurz, als sei er eine Illusion. Vielleicht gedacht als Mahnung: Ich besaß kein Bild von Vater! Nicht eines. Wie zur Entschuldigung nahm ich mir fest vor, zu ihm nach Thüringen ins Saaletal zu reisen, sobald ich die Alm hier im Salzburger Land verlassen hatte, sobald ich nach Dresden heimgekehrt war.

Kurz vor Weihnachten hatte ich ihn das letzte Mal besucht, nach einer Ewigkeit.

Ich saß Tage zuvor bei Mutter auf der Couch, die wie all die Jahre zuvor mein Leben geraderücken wollte. Zur Abwechslung hing einmal der Berufssegen bei mir schief.

Lass das bitte die Anwälte machen“, bat ich sie „und lassen wir das Thema jetzt im Advent.“ Ich nahm mir den soeben verschenkten Rotwein von der Anrichte, entkorkte die Flasche wie einst der Oberkellner auf der Titanic und fragte sie über die Familiengeschichte aus, ohne meinen Grund dafür zu nennen. Ein unbequemes Thema für Mutter, spürte ich rasch. Doch es drängte mich weiter nach Besinnung im warmen Licht der Schwibbögen. Und schon einmal schreckte ich auf: „Gibt es in diesem Haushalt irgendein Foto, auf dem mein Vater zu sehen ist?“

Nein.“ Klar und deutlich.

Mutter hatte diesen Teil ihres Lebens längst entsorgt, umgehend die Bilder des Geächteten aus den Alben entfernt oder, wenn es auf Familienmotiven möglich war, einfach mit der Schere auch von mir getrennt.

Mich machte das im Geiste des bereits verzehrten Rotweins so betrübt, dass ich auf der Fahrt in mein Appartement beschloss, umgehend zu Vater nach Thüringen zu reisen. Am vierten Advent, drei Tage vor Heilig Abend. War er doch der Zuhörer, den ich übersehen, den ich so lange vermisst, seit Monaten gesucht aber schlicht vergessen hatte. Ein schonungsloser, grundehrlicher Kritiker, ein euphorischer Trinker manchmal, ein Weiberheld jetzt seltener, ein Arbeiter bestimmt noch immer. Ein Glücksfall für mich?

Einen spontanen Besuch wagte ich jedoch nicht, meldete mich höflich an.

Gotthard ist da. Jetzt nicht. Aber sonst“, verriet mir seine nun nicht mehr so junge Liebe Doris.

Kurz darauf saß ich im Auto, noch früh am Nachmittag bog ich in Jena von der Autobahn ab ins graubraune Saaletal ohne Weihnachtsschnee, schlängelte auf trockener Straße mit dem Wagen bis nach Uhlstädt, das man inzwischen mit Kirchhasel vereinigt hatte. Reformen braucht das Land …

Auf einer kleinen Kuppe bog ich innerorts rechts ab, der Weg zu Vaters Fachwerkhaus wurde immer schmaler. Die Gebäude standen eng gegenüber – wie auf Zuruf. Die Fassade seines Elternhauses hatte er in ein dunkles Eigelb getüncht, die Holzbalken waren im Kontrast mit einem frischen Kastanienbraun gestrichen. Hierher in die Heimat meiner Urgroßeltern war er geflüchtet, als Mutter den angeblich trinksüchtigen Eroberer und Fremdgeher rausgeworfen hatte. Kurz vor meinem Schulanfang; den leeren Platz beim Kaffeeklatsch mit den Überbleibseln der Verwandtschaft werde ich nicht vergessen. Ich mochte Vater, da er das Gegenteil der auf strenge Erziehung ausgerichteten Mutter war. Gewiss, so manche Nacht torkelte er betrunken über die Dielen, dass es einem Angst werden konnte als Kind. Er riss schon mal die Fenstergardine ab, beim Versuch, sich im Fallen festzuhalten. Einmal kippte er mit dem Stuhl, auf dem er nach seiner nächtlichen Heimkehr eingeschlafen war, so unglücklich um, dass Mutter den Notarzt rufen musste, da das Blut der Platzwunde nicht zu stillen war. Als er schließlich behandelt wurde, kramte er einen Zettel aus der Hosentasche und verplapperte sich: „Ich muss noch meine Karla anrufen.“ Das war Mutters beste Freundin. Und danach mit beiden vorbei.

Vater hatte ein durch nichts erschütterbares Gemüt. Ausgeglichen, immer konstant gelaunt, gutmütig. Wenn er einen Wunsch nicht erfüllen wollte, erklärte er, meist bei einem Bier, warum. „Schön, dass es dich gibt“, sagte er zum Abschied vor über dreiunddreißig Jahren und fügte hinzu: „Bleib tapfer, mein Sohn.“

Heute würde mir auffallen, dass er dies zu meinem großen Bruder nicht gesagt hatte.

Als ich sechzehn war, besuchte ich ihn das erste Mal bei einer gefühlten Weltreise mit dem gerade stolz erworbenen Moped auf seinem eng verschachtelten Hof, der mir bei jeder Wiederkehr noch winziger erschien. Ich verirrte mich später mit Sarah zu ihm, um mit meiner neuen Braut anzugeben. Er verliebte sich wahrscheinlich noch mehr als ich, stellte ihr aber nicht nach. Viele Jahre später tauchte er urplötzlich in Dresden auf, um seine Enkelin Anne kennenzulernen. Und noch einmal kam ich im Schlipsanzug, als ein Termin im nahen Jena geplatzt war.

Nun wieder einmal Ankunft: Ich schob wie gewohnt den Riegel des mannshohen Hoftores zur Seite, öffnete die uralte Holzpforte und balancierte ein paar Schritte über die unregelmäßig fallen gelassenen Steinbodenplatten zur Haustür. Es gab hier noch nie eine Klingel oder Glocke; auch ich war jederzeit willkommen. „Vater!“, rief ich, einmal, ein zweites Mal.

Keine Antwort. Es war wie immer. Er steckte irgendwo, ich begann zu suchen. Gleich links öffnete sich die Tür zu seiner Bücherstube. Ich musste den Kopf einziehen, um mich nicht am Balken zu stoßen. Durch drei kleine Sprossenfenster drang nur karges Licht in den Raum. Auf dem schmalen Holztisch klebte eine Kaffeetasse, leicht verkeimt mit Satzresten. Kein Aschenbecher, kein Bier. Auf dem winzigen Canapé lag zerwühlt eine Wolldecke. Die rechte Wand war komplett mit Büchern isoliert, nur eine Art kleines Fenster blieb übrig als Platz für einen Computerbildschirm. Im Kachelofen auf der Flurseite knisterte Holz unter zwei, drei Kohlen, die untere Eisentür war einen Spalt geöffnet. Vater konnte nicht weit sein.

Die schmalen Stufen nach oben knarrten wie eh und je. An den holzgetäfelten Wänden hingen Schwarzweißfotos, jeder Rahmen schien auf einem anderen Trödelmarkt ersteigert. Drinnen steckte die Zeit seiner Vorfahren und derer von Doris, einmal unterbrochen von einem vielleicht dreijährigen Knaben. Ich mochte das Foto nicht, wie ich so mit einem aufgeblähten Bauch nackt vor einer Zinkbadewanne stand und aus einer Plastikgießkanne bedeutungsvoll Wasser in den Trog goss. Ich wandte mich ab von meiner Kindheit.

Gleich rechts lag die Küche, klassisch mit Eckbank, gut sortiert, klinisch rein. Wenige Schritte weiter all die Stuben winzig, plüschig und finster. Der krasse Gegensatz zu meinem einstigen Architektenhaus. Dort klare Linien und Strukturen, Glas, das Licht des Lebens, Wärme vom Fußboden. Hier gemütliche Enge, hineingepresste Möbel. Auffällig nur: Keine Spur vom nahen Weihnachtsfest. Und kein Vater.

Vorsichtig schritt ich die Stufen hinab, schaute noch im vergleichsweise hochmodernen Bad im Erdgeschoss nach und wusste nun, dass ich Vater gegenüber der Straße in seiner Werkstatt finden würde. Dort am Leimofen der alten Tischlerei saß er. Ein gealtertes Männlein, grauer Vollbart, schmale Statur. Vater las Zeitung, rauchte. Er blickte auf, setzte die Brille ab, zerdrückte die Zigarette nervös im Ascher, als hätte ich ihn bei einer Straftat ertappt.

Doris hat mir schon erzählt, dass du angerufen hast!“

Vater freute sich. Er stand nicht auf, als ich ihm die Hand reichte, aber mir schien, als hätte sein Augenweiß einen feucht leuchtenden Schimmer.

Setz dich, mein Junge!“, bot er mir einen Holzhocker an, faltete die Zeitung auf das halbe Maß und schob sie an den Rand des Tisches. Den Aschenbecher ließ er auf dem Steinfußboden verschwinden.

Was ich an Vater am meisten mochte: Er fragte nicht, warum ich gekommen war.

Ach, ich freu mich!“, sprach er und entschied: „Komm, wir gehen in den Konsum und holen einen Kasten Bier!“

Hast du nichts im Haus?“, wunderte ich mich.

Na ja … weißt du … ich hatte letztes Jahr paar gesundheitliche Probleme. Gelegentlich höre ich jetzt auf Doris, manchmal auf den Arzt. Schlimmes Raucherbein, verstehst du. Ich bin fast sauber. Nur zur Zeitung eine Zigarette. Und keinen Alkohol mehr!“ Er stand auf: „Komm, wir gehen!“ Als ich mich erhoben hatte, umarmte er mich: „Junge, ich freue mich so! Los, heute saufen wir einen!“

Ich stiefelte ihm hinterher. Im Haus holte er noch seine Geldbörse, da er darauf bestand, Gastgeber zu sein. Auf dem Weg erinnerte er sich, dass es ja keinen Konsum mehr gab. Er klingelte bei einem Kumpel, von dem er wusste, dass er Bier vorrätig hatte.

Mein Sohn ist da“, frohlockte der Vater.

Die Flaschen klirrten im Kasten, weil wir nicht im Gleichschritt liefen, kurz wankten, ohne einen Schluck getrunken zu haben. Die Leute aus dem Dorf mit Stadtrecht grüßten recht freundlich. „Ich setze mich für eine Umgehungsstraße ein, das schätzen die Uhlstädter.“

Und wo ist Doris?“

In Rudolstadt bei ihrem Enkel. Sie kommt kurz nach fünf mit dem Zug zurück. Du weißt schon.“

Ich kannte keinen Fahrplan und ebenso nicht die Gewohnheiten von Doris, jedoch seine: „Hm, ich bekomme Appetit vom Alkohol“, räusperte ich mich in Erinnerung, dass Vater zum Bier nichts aß.

Ach, warte.“

Er ließ mich vor der Holzpforte mit dem Bierkasten stehen und kam mit einer ungarischen Salami zurück: „Das reicht doch?“

In der Werkstatt heizte Vater den Leimofen ein. Dann begannen wir. Das erste Bier schweigend. An der Wand hing zwischen den vergilbten Fotos ein Bild, das ich nicht kannte. Vater mit einem Fähnchen, darauf ein rotes Ahornblatt.

Wann warst Du in Kanada?“

Schon vor drei Jahren, hat alles Doris organisiert.“

Ich nahm mir ein Messer und schnitt die halbe Salami in Scheiben: „Ist es schlimm mit deinem Raucherbein?“

Ach was, ich geh zu Mia. Du kennst doch die Physiotherapeutin. Da bin ich aber mehr wegen dem Rücken.“

Ich kannte auch Mia nicht. So selten, wie ich bei Vater war, so oft spielte er mit seiner Fantasie: ´Du weißt doch, der Henry in Partschefeld …, das war die Erna aus dem Unterdorf, die kennst du ja … das hat Gustavs Bruder gesagt, mit dem wir hier auch oft gesoffen haben …´ Es schien, als sei ich auch in Abwesenheit immer Teil dieser, seiner Gemeinde gewesen.

Ich bin nicht mehr mit Sarah zusammen“, schockierte ich.

Vater, der gerade zum nächsten Schluck angesetzt hatte, hielt inne. Die Flasche immer noch schräg zwischen den Lippen. Er schien zu überlegen. Dann setzte er ab: „Scheiße!“

Beide schauten wir auf das Bier. Der Leimofen drohte vor Hitze zu platzen. Vater runzelte die Stirn, fischte sich eine Zigarette aus dem Schubfach des Tisches: „Ist sie fremdgegangen?“

Wie kommst du auf sowas?“

Na, sie hat so was.“

Stimmt“, gab ich ihm zögernd recht, nahm von der Salami: „Aber ich auch. Wir hatten beide eine Affäre.“

Du?“

Ich schluckte, weil er es mir nicht zugetraut hatte.

Vater streckte mir seine Bierflasche entgegen: „Ach ich freue mich so, Junge, dass du gekommen bist. Endlich wieder mal einen echten Grund zum Saufen.“

Auf dein Wohl, Vater!“

Er gab es sofort zurück: „Na wenigstens hast du eine andere, mein Sohn!“

Meine Umschreibung: „Bin nah dran“, quittierte er mit einer abfälligen Geste: „Nah dran, was ist das denn wieder? Ja oder nein?“

Ja“, log ich optimistisch.

Und meine kleine Anne?“

Die große Anne lebt bei ihrer Mutter.“

Und was ist bei deiner Neuen so nah dran?“

Sie ist verheiratet und will sich unser Kind nehmen lassen.“

Ach du Scheiße …“

Vater, bitte nicht bei Marie. Nimm ein anderes Wort.“

Er wühlte im Bierkasten, gab mir ein Zeichen, dass ich austrinken soll. Graue Rauchschwaden der Zigarette flüchteten sich gen Decke der alten Tischlerei – vorbei am Schummerlicht einer schwachen Glühbirne. Vater kratzte sich im Genick, schaute erst auf die morsche Tischplatte, dann voller Kraft zu mir: „Mein Junge, also ein Kind habe ich keiner gemacht, bei meinen Ausflügen.“

Fern dem Willen, mir von einem Charmeur das Liebesleben ohne Nachwehen erläutern zu lassen, wechselte ich das Thema: „In meiner Firma kriselt es, am liebsten würde ich aufgeben.“

Vater schreckte auf: „Deine gute Firma?“ Er vermied das Fäkalwort, ausnahmsweise. Vater schob einen kleinen Schrank zur Seite, öffnete eine winzige Klappe und zauberte eine Flasche Whisky hervor. „Meine stillste Reserve. Den gab´s mal zum Sechszigsten. Hier, lies!“

Talisker, achtzehn Jahre, fast sechsundvierzig Prozent“, staunte ich.

Den trinken wir jetzt bei all der Scheiße. Ja, Scheiße, mein Sohn!“

Es fehlte an Gläsern, nicht aber an verdreckten Kaffeetassen. Ich spülte zwei davon in einem Emaille-Waschbecken aus, lief rasch zum Auto, kam mit dem Weihnachtspräsent zurück. „Bitte, Vater, ich habe dir Nachschub mitgebracht. Kannst du gleich in dein Versteck schieben.“

Er musterte die Flasche, drehte sie mehrmals ungläubig hin und her: „Oh, ein Hibiki! Aus Japan! Gute Idee, mein Junge.“

Schon nach der ersten Tasse begann für mich die Leichtigkeit des Seins. Redselig schwärmte ich von Marie, begann eine Liebesgeschichte zu dichten, bis draußen in der Finsternis Schritte über den Kies knirschten. Vater gelang es noch, den Aschenbecher zu tarnen. Der Gestank blieb.

Doris trat ein, elegant in einen Wintermantel verpackt, das graue Haar mit einer bunten Bommelmütze bedeckt. Ihr prüfender Blick schwenkte vom Bierkasten auf dem Werkstattboden herauf zu mir und rasch zu Vater hinüber. Sie kam näher, als würde sie ermitteln wollen, wieviel Promille da am Leimofen saßen: „Gotthard, du trinkst?“

Ich stand auf, um Doris zu begrüßen. Sie gab mir die Hand, kurz, weich, schaute nicht unfreundlich herüber, argwöhnisch aber allemal.

Stell dir vor, Robert und Sarah sind getrennt und seine Firma läuft auch schlecht!“

Ein guter Grund zum Trinken“, schimpfte Doris und fragte, ob ich all den Alkohol angeschleppt hätte.

Ich nickte. Sie schnappte sich den Rest der Salami und verließ uns mit den Worten: Wir sollen dann in die Bücherstube gehen. Dort stünde in einer halben Stunde unser Abendbrot bereit.

Das machen wir, meine liebe Doris“, versprach Vater außergewöhnlich brav. Als sie außer Hörweite war, ergänzte er: „So ein Glück, dass ich meine Doris habe.“

Wir sagten dann lange nichts.

Lass uns rüber gehen, Vater.“

Den Kasten, bereits schwer erleichtert, nahmen wir mit, den Whisky auch. Der Tisch in seinem Arbeitszimmer war nüchtern gedeckt. Brotscheiben in einem geflochtenen Korb, Butter, ein Teller mit Leberkäse, Kochschinken, Blutwurst. Keine Salami. Dazu eine winzige Schüssel mit Minigurken. Vermutlich Missernte. Oder etwas ganz Besonderes aus dem Spreewald. Den Tisch aber dominierte eine große Teekanne. Es waren Tassen eingedeckt. Keine Gläser.

Den müssen wir jetzt mal trinken“, erklärte Vater, der Doris nicht beleidigen wollte.

Tatsächlich kontrollierte sie uns kurz darauf, unter dem Vorwand, ob wir noch einen Wunsch hätten.

Wie geht es Anne?“, fragte Doris, schon leicht gebeugt im Türrahmen. Erst jetzt fielen mir ihre Altersfalten im Halsbereich auf.

Ein keckes Mädchen inzwischen. Wir treffen uns einmal in der Woche zum Fastfood. Da darf sie sonst nicht hin. Von Sarah aus.“

Und was machst du jetzt, so allein?“

Das wollte ich Vater heute Abend auch fragen.“

Schon in Ordnung. Ich lasse euch die Geheimnisse. Und Robert: Achte bitte darauf, dass Gotthard nicht so viel trinkt.“ Ihr Blick senkte sich herab zum Bierkasten: „Na ja, der ist eh fast leer.“

Vater wartete noch einen Moment, bis ihre Schritte im Obergeschoss verhallten, öffnete dann das Straßenfenster, nahm die Tassen und schüttete den Tee aus. Unter der zerwühlten Wolldecke auf dem Canapé fischte er den Whisky hervor und erklärte den neuen Inhalt der Teetassen zum Verdauungsschnaps.

Was ist denn schief gegangen in der Firma? Das klang doch letztes Mal so gut?“, fragte er, bevor er die Tasse ansetzte.

Ich zögerte. Wie erkläre ich die Tücken des Finanzpokers auf diesem Erdball einem ahnungslosen Arbeiter im beschaulichen Saaletal?

Vater blickte mich fordernd an.

Mein Partner ist schwer krank geworden und wir haben da in Dresden so ein Anlageprodukt verkauft, das wertlos wurde.“

Ach von Infinus?“

Ich staunte nicht schlecht: „Das weißt du?“

Junge, ich lese doch Zeitung!“ Das klang noch stolz. Der nächste Satz schon nicht mehr: „Was denn, und da hängst du wohl mit drin? Im größten Finanzskandal Deutschlands?“

Nur indirekt. Bin eher Opfer.“

Hast du diesen Mist auch gekauft?“

Nein, verkauft.“

Oho, mein Sohn ist also einer dieser Schweinehunde, die den Leuten ihre Ersparnisse aus den Taschen gezogen haben?“

Das war nicht mein Ziel, Vater! Das schwöre ich dir. Wir sind alle getäuscht worden. Es gibt in diesem Skandal nur Verlierer. Außer dem Insolvenzverwalter.“

Mein Ankläger goss Whisky nach: „Wieviel haben deine Kunden denn verloren?“

Ab fünftausend aufwärts. Manchmal auch über eine Million.“

Vater kippte nach hinten, die Stuhllehne hielt dem Druck des Entsetzten stand. Er rief nach Regress und Verantwortung, machte sich Luft, schimpfte auf die Sippe der Vermögensverarscher und verstand nicht, solch einen Betrüger im eigenen Hause zu haben. Doch auch mein Puls hatte die medizinische Höchstgrenze längst überschritten, ich wehrte mich vehement gegen Vaters Fallbeil: „Ich konnte doch nichts dafür! Die Leute lechzen nach Zinsen. Sie haben mir all die Jahre immer wieder ihr Geld aufgedrängt …“

„… ach die wollten sozusagen betrogen werden?“, unterbrach mich Vater mit spürbar schwerer Zunge. Dann kam er ganz nah heran mit seinem unangenehm rauchigen Ausstoß: „Und was verdienst du, wenn du einem Arglosen so eine Mille abschwatzt?“

Ist doch egal jetzt.“

Wieviel, Robert?“

Knapp zwei Prozent.“

Junge, ich rechne doch nicht um diese Zeit. Genauer!“

Um die Zwanzigtausend.“

Er schüttelte den Kopf, nippte nur noch am Alkohol: „Du bist ja ein richtiges Kapitalistenschwein!“

Nein, Vater!“ Ich drosch verbal auf ihn ein, verhaspelte mich im Verteidigungszyklus, belagerte ihn mit den Erfolgen meiner Firma. Und vergaß das Wichtigste nicht: Nur bei den Geldanlagen von Infinus lagen wir daneben.

Du redest dich raus wie ein Politiker.“

Ich nahm es hin.

Von oben rief Doris, mahnte zur Ruhe. Wir beide atmeten durch, Vater öffnete das Fenster, schwerfällig nahm er wieder Platz, drehte sich die nächste Zigarette: „Na wirst du … kannst du die Firma wenigstens retten, oder nicht?“

Nun füllte ich Whisky nach: „Uns rennen einfach die Kunden weg. Die Presse hilft kräftig nach. Ich muss Leute entlassen. Das erste Mal im Leben. Meine eigenen Kollegen. Ich kann sowas nicht, Vater. Das wäre vielleicht etwas für Karsten. Du erinnerst dich an diesen Weiberheld, der dir so sympathisch war?“

Ach dieser Draufgänger, so wie ich! Dein Mitbegründer?“

Genau der. Er ist ein Totalausfall. Ausgerechnet jetzt …“

Vaters Augen wurden immer schmaler, er bat mich, das Fenster zu schließen, fragte, noch während ich stand: „Ihr seid also nicht pleite? Ich denke, es gibt nur Verlierer?“

Mittlerweile nervte mich der Moralapostel: „Wenn ich entlassen muss, mein Partner schwerkrank ist, die ganze Firma vielleicht den Bach runter geht, ist das wohl keine Niederlage?“

Und, Robert, was willst du nun machen?“

Vielleicht wollte ich das heute von dir wissen. Aber das ist Quatsch. Ich weiß derzeit nur, dass ich Marie will. Natürlich habe ich was zur Seite gelegt. Es reicht, wenn ich bescheiden lebe.“

Vater nebelte mich wieder ein, paffte den Rauch wohl absichtlich über den Tisch in meine Richtung, als ich mich zu ihm setzte. Er, der ewig aufrichtige Sozialdemokrat, begann einen Vortrag über den schmarotzenden Imperialismus. Am meisten regte ihn auf, dass sein eigener Sohn ausgesorgt hatte, anstatt noch zwanzig Jahre sinnvoll ans Werk zu gehen.

Zeig mir mal deine Hände!“

Vater hielt mir seine Schwielen unter die Augen, wollte meine Babyhaut dann doch nicht sehen: „Arbeiterhände, mein Sohn. Ich muss heute noch rackern, damit wir vielleicht die Heizungsanlage erneuern können!“

Ich kann dir das Geld gern geben …“

Was denn, ich baue mir eine neue Heizung vom Geld deiner ruinierten Kunden?“, schimpfte er beleidigt.

Es sind jetzt nicht alle arm, Vater. Ich weiß doch auch nicht, was so viele Menschen ins Wagnis treibt. Ohne die Gier solcher Leute wäre ich ein Nichts!“

Du bist ein …“ Vater brach ab. „Ach, ich begreife das alles nicht mehr“, nuschelte er, sattelte um in seinem Stimmungsbarometer, vielleicht um ein gutes Motiv zu haben, sich noch einen Rest Whisky zu reichen: „Du hast also vorgesorgt. Gut, mein Junge. Und schön, dass du da bist. Ich freue mich so, dass ich mit dir einen saufen kann. Ich verstehe nur nicht, warum du Sarah nicht mitgebracht hast, meine wunderschöne Sarah …“

Sie heißt Marie“, korrigierte ich Vater.

Er stierte gerade aus, nickte dann ab und an; in der rechten Hand glühte schwach seine Zigarette, der Ascheturm drohte in jedem Moment einzustürzen. Vater atmete erschöpft, senkte immer mehr den Kopf, bis er von einem Moment zum anderen eingeschlafen war. Ich schob den Ascher unter die Zigarette und die angetrunkene Bierflasche zur Seite. Ich musterte ihn, erblickte mein Ebenbild in gut fünfundzwanzig Jahren, körperlich ruiniert, ausgelaugt von meinem Betrügerleben. Und verriet ihm leise die Geschichte mit Marie.

Als Vater die längst erloschene Zigarette aus der Hand fiel, hievte ich ihn auf sein Canapé, schob die Wolldecke bis zum Kinn.

Weißt du“, überraschte er mich mit schwerer Stimme, „als du an diesem Tag der Razzia unbedingt mit ihr ficken musstest, obwohl sie nicht wollte, da hat sich deine Marie auf eine Entscheidung eingelassen. Sie hat das Kind riskiert, um einen von euch Männern loszuwerden.“ Vater öffnete nicht erst seine Augen, um zu schauen, wie ich reagierte. Ich war ebenso betrunken, suchte mir nach dem schweren Aufstieg ins zweite Geschoss einen Platz zum Schlafen.

Morgens schlurfte ich schwer gezeichnet hinab ins Bad. Als ich die Tür zur Bücherstube öffnete, lag Vater immer noch im sauerstoffarmen Raucherdunst, so, wie ich ihn verlassen hatte. „Marie hat das Kind riskiert, um einen von euch Männern loszuwerden“, wiederholte ich leise, „das klingt ja so, als wolle sie sich nicht für einen, sondern gegen einen entscheiden.“ Vater juckte mein Widerspruch nicht.

Beim Zähneputzen gelang es mir nicht, den Kopf zu senken. Noch immer drehte sich die Erde wild. Ich suchte nach einem Becher und überlegte, wann ich so einen angeblichen Wassersparer letztmalig genutzt hatte. Vermutlich am Morgen des Umzuges in meine Singlewohnung, legte ich mich fest. Nach dem Spülvorgang füllte ich den Becher wieder, trank, füllte nach, trank. Es wurde nicht besser.

Schwerfällig schleppte ich mich in die Küche zu Doris, sank wie ein Übergewichtiger auf die Eckbank nieder, schob den Wurstteller zur Seite.

Hast du deinen Vater gleich mit geweckt?“

Er hört nicht auf mich, Doris.“

Na dann muss ich eben gehen. Eine Sauerei, eure Sauferei. Der ganze Adventssonntag ist verdorben.“ So wie sie erst einmal grimmig schaute, wechselte sie wieder in den Tonfall einer freundlichen Gastgeberin: „Du möchtest doch bestimmt Kaffee?“

Nicht mal ein deutliches Nicken wagte ich, um erhöhten Kopfschmerz zu vermeiden, schaute lediglich zu, wie sie die Tasse füllte. Irgendwann bemerkte ich auch, dass sie gegangen war. Ich döste unbeweglich vor mich hin, wartete unruhig darauf, dass es mir besser ging. Als Doris mit der Botschaft kam, dass Vater erledigt sei, trank ich vom längst kalten Kaffee und ging zu ihm in die Bücherstube.

Ach, mein Junge, du bist ja noch da.“ Er zog sich die Wolldecke über den Kopf und drehte sich weg zur Wandseite. Ich fröstelte auch und versuchte mich nach ewiger Zeit darin, einen Kachelofen anzuheizen. Das gelang mir auch, Doris brachte als Dank ein Brötchen und Kaffeenachschlag, öffnete ein Fenster. Wir setzten uns an den Tisch und schauten gemeinsam auf den verhüllten Vater.

Er liebt dich sehr, Doris.“

Ja, das erzählt er jedem.“

Er weiß zumindest, was er dir zu verdanken hat.“

Das nützt mir auch nichts, wenn er sich noch tot säuft.“

Ich biss in das Brötchen, in der Hoffnung, mein Magen würde Nahrung wieder akzeptieren: „Beim nächsten Mal weiß ich Bescheid, ich achte darauf.“

So war das nicht gemeint, Robert. Ich weiß doch, wie sehr er sich auf dich gefreut hat. Aber er findet eben immer wieder einen Grund. Bei jedem Kumpel, der hier auftaucht.“

Zu mir hat er gesagt, er trinke sonst nichts mehr, wegen dem Raucherbein.“

Ja, und tröstet sich mit noch mehr Zigaretten.“

Mir war bewusst, dass ich nicht helfen konnte. Nicht bei einem Kurzbesuch aller paar Jahre. Ich wusste auch nicht, ob Vater anders getickt hätte, wäre er in Dresden geblieben. Wie in Beton gegossen blieb er der Alte.

Kennst du überhaupt die Geschichte von damals?“, fragte ich Doris.

Mit deiner Mutter?“

Ja, und mit Sebastian.“

Er hat es mir sofort erzählt. Gleich am ersten Abend, nachdem wir uns kennengelernt hatten. Schien ihn sehr gewurmt zu haben. Ich hatte sogar Angst, er würde noch zu sehr an euch hängen. Aber das war nicht so. Nur an dir. Das weiß ich. Er hat wegen Sebastian lediglich einen Satz gesagt. So ungefähr: Die ist ja selbst fremdgegangen, was schmeißt sie mich da gleich raus.“

Und bei dir, hat er sich gebessert?“

Robert, da hat mir die Natur geholfen“, wagte Doris einen Seitenhieb der Erleichterung. „Er ist halt älter geworden.“

So mit der Zeit“, beendete ich den Gedanken.

Vater räkelte sich auf dem Sofa, lugte unter der Decke hervor: „Meiner Doris bin ich immer treu geblieben, merkt euch das!“ Im nächsten Moment stand er auf, lief an uns vorbei mit der Bemerkung: „Ich bade jetzt“.

Mit Doris ging ich hinunter an die Saale spazieren, milde zehn Grad und Sonnenschein luden uns ein. Ich ließ mir die vielen Jahre erzählen, die ich mit Vater verpasst hatte. Mich schauderte es bei dem Gedanken, dass ich ihn so allein gelassen hatte. Aber auch er mich. Doris konnte mir nicht sagen, warum. Wo er doch sonst so gerade heraus war. „Nur bei dir wirkte er so gehemmt, obwohl er zum Beispiel noch Jahre jedem erzählen musste, dass sein Sohn jetzt eine richtig hübsche Braut hat und eine eigene Firma und er jetzt Großvater geworden ist und so weiter.“

Wir hatten inzwischen gewendet, nahmen Reißaus vor der nahenden, frühen Dämmerung und versuchten, den vierten Advent einzuholen. Ein gebackener Kuchen, Kaffee, die zwei Kerzen als Überbleibsel vom Vorjahr. Alles eingedeckt in der guten Stube.

Robert ist ein Kapitalistenschwein“, frotzelte Vater mit einem Grinsen, machte rasch alles wieder wett: „Schön, dass du gekommen bist.“

Er rauchte vor seinem Haus, als ich damals die schmale Gasse, die zu seinem Hof führte, verließ.

Frühstück!“, erinnerte Michl mit einem lauten Ruf, der alle Nächtigungsgäste geweckt hätte, hätte es diese gegeben.

Ich stieg eine halbe Treppe tiefer in die warme aber ungemütlich in Neonlicht getauchte Almküche, knabberte vom Brot und schlürfte vorgesüßten Tee, den ich nicht mochte. Innerlich aufgekratzt, war ich in Eile, packte mir eine Jause für unterwegs ein, ging in meine Kammer, um mich für den Aufstieg zu rüsten. Rasch verließ ich die Hütte, stand schon am Gatter, als ich innehielt. In der Hütte klingelte das Telefon. Das war ungewöhnlich so früh am Morgen. Verwundert lief ich nicht weiter, hielt mich an einem Pfahl fest. Ich verharrte wie verwurzelt am aufgesperrten Tor des Weidezauns, lauschte dem Klang, als könne ich daran feststellen, wer sich so zeitig hierher verirrt hatte. Ich verdrängte schnell den so häufigen Gedanken, man hätte mich hier oben nun doch entdeckt. Nein, beruhigte ich mich, sie haben dich nicht gefunden. Dann würden sie nicht anrufen.

Noch immer durchbrach das Telefonläuten die Stille und Einsamkeit der abgeschieden gelegenen Weißalm, hoch gelegen im salzburgischen Ellmautal, nur knapp unter der Baumgrenze. Ich überlegte, ob ich zurückgehen sollte. Es könnten Gäste sein, die eine Übernachtung für die nächsten Tage buchen wollten. Dann aber nahm wohl einer der Hüttenbesitzer endlich ab.

Ich ging bergauf einen kleinen Schritt weiter, drehte mich um, schloss das Tor und sicherte es vor unbefugtem Öffnen mit einer Drahtschlinge, die ich über die jeweils äußeren Lattenspitzen des Almzaunes legte. Ich fühlte nun deutlich den nahen Abschied, denn ich blickte wie auf Nimmerwiedersehen zum Hüttenflachbau, der bei wolkenfreiem Himmel viel früher als die Häuser im Tal in die Sonnenstrahlen des Tages getaucht wurde. Heute schlich sich aufgewühlter Morgennebel ganz nah in grauen Schwaden die Grashänge empor, nahm immer wieder für Sekunden die Fernsicht nach Großarl und weiter zu den im August sattgrün bewachsenen Skihängen bis hinüber zu den Dreitausendern der Hohen Tauern. Auch der Blick in die Ferne zum Großglockner war getrübt. Noch klammerten sich mächtige Wolken der letzten Nacht am höchsten Gipfel des Landes. Ich schwenkte meinen Blick hinüber zu den feuchten Bänken des Gästegartens und anschließend auf die regengetränkten Verbenenpflanzen. Das Wechselspiel der weißen, roten und violetten Blüten leuchtete dominant von den Fensterbänken der Hütte, im Kontrast zu den ausgeblichenen, ergrauten Holzschindeln der Außenwände. Mit einem Seufzer der Zufriedenheit wollte ich abdrehen und wie geplant hoch zum Hausberg auf den Gründegg steigen, den ich schon häufig erklommen hatte. Bezwungen, um aus der Gipfelperspektive mein verlottertes Leben schön zu denken. Doch aus dem niedrigen Holzrahmen des Bauernhauses schritt in diesem Moment die schlanke Silhouette des Hüttenwirts. Michl schaute verwundert, als er mich wie mit dem Boden verwachsen hier stehen sah: „Herrjeh, Robert, du bist ja noch da!“

Ich ahnte, seine Verwunderung hatte mit dem Telefonläuten zu tun.

Das Klingeln hat mich aufgehalten!“, rief ich zurück.

Eiligen Schrittes tippelte er zu mir, wollte sofort etwas sagen, blieb jedoch ebenso wie zur Salzsäure erstarrt stehen.

Haben sie mich doch gefunden?“, fragte ich.

Er schüttelte den Kopf, atmete tief ein, wieder aus, überlegte. Dann vermied er den Blickkontakt, senkte sein Haupt: „Ach, wenn ich gewusst hätte, dass du noch da bist. Es war deine Marie.“

Obwohl mir die Stimme versagte, fragte der gefasste Teil in mir: „Marie? Meine Marie?“

Michl schaute zu mir hoch: „Ich habe gesagt, du seist schon fort.“

Ich packte die Drahtschlinge, öffnete das Tor, lief in die Hütte zum Telefon. Obwohl ich es wusste, nahm ich das alte Modell des Drahtloshörers, wendete das Plastikgehäuse hin und her und fand doch keinen Menüknopf, der mir die Anrufnummer zeigte. Der Hüttenwirt war mir gefolgt, stand da mit fragender Mine, blickte ebenso enttäuscht auf das Telefon.

Und sie hat nichts weiter gesagt?“, flehte ich, setzte mich mit quarkigen Beinen auf den nächstgelegenen Stuhl: „Michl, bitte, gar nichts?“

Der Hüttenwirt drehte sich zu mir, polierte zwei kleine Gläser, füllte sie mit Zirbenschnaps aus dem Flaschenrondell der Selbstgebrannten, druckste weiterhin herum. Es schien, als wolle er Maries Worte aufweichen. So wie man Butter Minuten vor dem Frühstück aus dem Kühlschrank nimmt, damit sie geschmeidig über das Brot fließt: „Sie hat nur noch gemeint, dann schreibe ich ihm.“

Ich nahm das Beruhigungsmittel an, stand auf, stellte mich an den Tresen. Michl prostete mir zu: „Also guten Morgen hat sie auf alle Fälle auch gesagt. Und diese Stimme …“

„… das weiß ich selbst!“, moserte ich, stierte auf das Gläserregal.

Und zuerst hat sie gefragt, ob sie auf der Weißalm gelandet ist. Ich habe bejaht und dann hat sie nach dir gefragt.“

Ich sackte mit jedem Wort ein wenig mehr zusammen.

Ach, jetzt weiß ich es wieder genau: ´Ich bin die Marie.´ Das war ihr erster Satz. ´Ist ein Robert Kwasny aus Deutschland bei Ihnen auf der Hütte?´ Genau so hat sie es gesagt.“

Ich hielt ihm das leere Schnapsglas mit gestrecktem Arm hin. Er füllte über den Rand nach, die wertvolle Zirbe tropfte auf meine Finger: „Ehe ich es vergesse: Ich wollte natürlich wissen, ob ich dir was ausrichten soll.“

Und da hat sie nur geantwortet, dass sie mir schreibt? Sie hat nicht gefragt, wie es mir geht?“

Nein, sie wollte nichts weiter wissen.“

Wirklich?“

Wirklich.“

Michl schloss die Augen und ließ den nächsten Zirbengeist in seinen Magen fließen. Nach dem „Ahhh“-Ritual grinste er verschmitzt: „Ich hätte so gern mit ihr noch eine Stunde geplaudert. Du hast mir nie von ihrer bezaubernden Stimme erzählt.“

Als er das sagte, war die zunehmend verleugnete Sehnsucht nach ihr endgültig zurück. Ich bin die Marie. Dieser Satz klang für uns beide wie eine lang erwartete Liebeserklärung.

Ich gab Michl das Zeichen für meinen Aufbruch, blieb jedoch noch einmal bedeutungsvoll stehen: „Es geht wieder los. Es geht wieder los mit Marie.“