Berko Härtel: Max geht auf Reha/Leseprobe

DAS UNHEIL BEGINNT

Tja, lieber Herr Konrad“, teilte ihm sein Onkologe übertrieben fröhlich mit, „angesichts Ihrer Krankengeschichte dürfte eine psychosomatische Rehabilitationsmaßnahme mit mindestens drei Wochen Dauer angebracht sein.“

Was? Max war fassungslos, er sollte auf eine Psycho-Reha?

Dr. Ohnesorge – so muss man als Krebsarzt auch erst mal heißen – schaute ihn lächelnd an, er hatte wohl erwartet, dass Max ihm vor Freude um den braun gebrannten Hals falle. Die gesunde Gesichts- und Hautfarbe hatte der Arzt übrigens vom Cabrioletfahren, es lässt sich anscheinend gutes Geld damit verdienen, die durchgeknallten Zellmutationen in fremden Körpern zu behandeln.

Vor seinem inneren Auge startete Max´ Kopfkino: Filmtitel: Unternehmen Reha – der unheilvolle Weg. Er sah sich in einer Kur-Klinik in einer verlassenen Gegend, von der niemand bis dato weder gehört noch gelesen hatte – außer vielleicht im Zusammenhang mit früheren Atomtests. Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz bestand aufgrund der Fluchtgefahr nicht, man freute sich schon darüber, dass es fließend Wasser und Strom gibt. Selbst Zugvögel landeten hier nur, wenn sie sich verflogen hatten und in der Karte blättern mussten. Die Menschen in dieser Gegend waren allesamt Ureinwohner und sprachen einen unverständlichen Dialekt, damit man sie nicht nach dem Weg zurück in die Zivilisation fragen konnte. Ihre Stammestracht war ein Overall der Marke Blaumann, in dem sie nach Feierabend am Zaun lehnten oder sich am Spaten abstützten, um Flaschenbier zu trinken, das vorher aus tieffliegenden Hubschraubern abgeworfen wurde. Max befürchtete, schon beim Einchecken in der Einrichtung durchzudrehen, er hatte gehört, dass Rehabilitanden die Entschlossenheit ihrer Kasse zur Gesundung durch Aufgabe sämtlicher Persönlichkeitsrechte an der Rezeption zu akzeptieren hatten. Per freiwillig erteilter Unterschrift – andernfalls erfolgt Nachricht an den Kostenträger – hätte er eine nächtliche Ausgangssperre sowie immerwährenden Alkohol-, Nikotin- beziehungsweise sonstigen Genussverzicht zu bestätigen. Das Controlling dieser Grundsätze übernähme die tägliche Blut- und Urinprobe. Unerwünschte Gewichtszunahme wäre durch EDV-gesteuerte und kameraüberwachte Nahrungsabgabe nicht möglich, selbst der Kitt am Fensterrahmen in der Kur-Einzelzelle ist kalorienreduziert und hat keine Kohlenhydrate. In seinem Film sah sein Zimmer aus wie eine Verhörzelle der Stasi, mit Holzstuhl und -tisch sowie einem Bett mit Stahlgestell, weiß lackiert, wie man das aus den Dr. Mabuse Filmen aus den 1960ern kennt. Die Nasszelle braun gekachelt, der Spülkasten für das WC war noch unter der Decke montiert. Zum Spülen musste man an einer herunterbaumelnden Kette ziehen, aber Vorsicht: vorher galt es, unbedingt den Klodeckel herunter zu klappen, wollte man das Bad nicht fluten, denn das Wasser ergoss sich aufgrund der Fallgeschwindigkeit wie ein explodierender Geysir in die Schüssel.

Max stoppte – vorerst – den Film in seinem Kopf. Okay, er hatte in den letzten Monaten einiges über sich ergehen lassen müssen. Mehrere Operationen, bei denen die Chirurgen seinen Körper aufgeschnitten, dann Teile seines Innersten herausgetrennt und anschließend neu angeordnet wieder eingebaut hatten, waren mittlerweile für ihn Tagesgeschäft. Selbst die nachfolgenden Chemotherapien und Bestrahlungen konnten ihn nicht mehr erschrecken, das ständige Übergeben führte zu einem fulminanten Gewichtsverlust, wofür andere strenge Diät halten müssen. Und seit Bruce Willis sind Männer um die fünfzig mit Glatze sowieso die wahren Womanizer. Max und sein Körper hatten quasi eine interne Vereinbarung: Wir schaffen das gemeinsam, und wenn die ganze Chose vorbei ist, widmen wir uns wieder intensiv den wichtigen Dingen im Leben als da wären: Sex, Drugs & Rock ´N Roll. Geplant war, es sich zu Hause im Garten gemütlich zu machen, in der linken Hand ein gepflegten schottischen Single Malt, in der rechten ein kubanisches Zigarillo, und dann wollte er seiner Frau im Bikini bei der Gartenarbeit zuzusehen. Alle zwanzig Minuten würde sie ihre Arbeit unterbrechen, ihm ein Bier aus dem Kühlschrank bringen und ihn zärtlich fragen, ob er sonst noch was bräuchte. Der Grill wäre ständig belegt mit Pferdewürstchen und Rindersteaks, aus den Lautsprecherboxen seiner Anlage dröhnten die Riffs lärmender Schwermetallkapellen.

Max hatte eine eigene Betrachtungsweise von Kuren. Aus seiner Sicht war die Gewährung einer Reha-Maßnahme nämlich nicht die Gesundung von Erkrankten, sondern nur ein Wettbewerb zwischen Leistungsverweigerern und Leistungserbringern. Eine Reha kriegt man erst genehmigt, wenn man vorher ausreichend krank war und die übliche Behandlung mit Pillen und Therapie sowie die ungefragten Anrufe von der Krankenkasse es nicht geschafft haben, dass der Patient dem allgemeinen Arbeitsmarkt oder dem Jobcenter im gewünschten Umfang wieder hilflos zur Verfügung steht. So ist sichergestellt, dass sich auch wirklich jeder engagiert ausbeuten lässt und den öffentlichen Kassen nicht auf der Tasche liegt, sondern großzügig in diese einzahlt. Es geht um Geld, der Gesundheitszustand wie geistiger oder körperlicher Verfall stört da nur. Das ist verständlich, denn Maßnahmen wie Leistungskürzungen beim Hartz 4 oder das Abfordern von unbezahlten Überstunden von Beschäftigten greifen nur dann, wenn die Leistungsschmarotzer nicht grinsend mit dem gelben Schein ihres verweichlichten Hausarztes winken.

Die modernen freiheitlich demokratischen Arbeitsmarktanforderungen heutzutage fordern uneingeschränkte Flexibilität vom Arbeitnehmer, zum Beispiel bei der Arbeitszeit und setzen Lohn-, Krankheits- und Urlaubsverzicht voraus. Und um das hier zur Verfügung stehende Restpotenzial maximaler Unterwerfung nicht verstreichen zu lassen, nutzt der infrage kommende Leistungserbringer alle möglichen Schikanen und schickt die faulen Arbeitsverweigerer, wenn gar nichts mehr fruchtet, zu einer Rehabilitationsmaßnahme, die sich gewaschen hat. Dort würde man die gesamte Mischpoke von Hypochondern schon allein durch die Versklavung entmutigen und zum freiwilligen Rentenverzicht bewegen. Ein entwürdigendes Spiel, dem sich Max aber nicht entziehen konnte.

DIE EINLIEFERUNG

Gefühlt stand Max seit einer geschlagenen halben Stunde vor dem Empfangstresen der Kurklinik, ohne dass ihn die Dame dahinter auch nur ansatzweise bemerkt hatte. Nur noch fünf Minuten, und er würde total stoned vorüber kippen, denn ihren Mangel an fraulicher Attraktivität suchte sie dadurch auszugleichen, sich literweise mit Parfum einzureiben. Der süßlich modernde Geruch, der ihn umwehte und fast besinnungslos machte, setze sich zusammen aus Deo für die Frau ab sechzig, gepaart mit Kölnisch Wasser und tonnenweise Haarspray, das ohne Frage nötig war, um den imposanten Dutt auf ihren Kopf in korrekter Lage zu drapieren und anschließend einzubetonieren. Mit mehrfarbig lackierten und mit Ornamenten beklebten Fingernägeln wühlte sie sich derart hoch konzentriert durch einen Karteikasten, dass nicht mal ein Raketeneinschlag in der Lage gewesen wäre, sie von dieser anscheinend immens wichtigen Tätigkeit abzulenken.

Max hatte zwischenzeitlich darüber nachgedacht einen fahren zu lassen, um sich bemerkbar zu machen; dieses Unterfangen schien jedoch angesichts des Überangebots von Geruch aussichtslos.

Schließlich klingelte ihr Telefon. Allem Anschein nach war ihr Mann am Apparat, dem sie sofort lautstark und ohne Widerworte duldend diktierte, was dieser an seinem freien Nachmittag noch alles zu erledigen hatte. Nach Beendigung der telefonischen Befehlsübermittlung sah sie Max an.

Name?“

Max Konrad, hier meine Papiere.“

Vor ihrer mächtigen Oberweite baumelte an einer Kordel eine Riesenbrille mit getönten Gläsern und Strass besetzten Bügeln, die sie sich nun auf die glänzende Nase setzte.

Waren Sie schon in der Verwaltung?“

Nee, bin gerade angekommen und hab gedacht, ich müsste mich hier erst mal melden …“

Das mit dem Denken überlassen Sie ab sofort mal lieber uns, dafür sind wir ja da.“ Sie zeigte mit dem Finger auf eine Tür rechts hinter ihr. „Melden Sie sich mal bei Frau Meier, die rechnet die Tagessätze ab, die Sie als gesetzlich Versicherter dazu zahlen müssen, wenn Sie bei uns wieder auf Vordermann gebracht werden wollen. Ich kann Sie hier erst einquartieren, wenn Sie nachweisen können, dass Sie bezahlt haben.“

Max trotte wie befohlen zur Verwaltung. Dort stand ein Schild mit dem Hinweis: Bitte Nummer ziehen und eintreten, wenn das Licht auf grün wechselt. Die Ampel leuchtete zwar rot, aber die Sitzbänke vor der Verwaltung waren unbesetzt, sodass er auf zügige Abfertigung hoffte. Nach zwanzig Minuten öffnete sich die Tür und Frau Meier von der Verwaltung gewährte Audienz.

Tach, Frau Meier, mein Name ist Max Konrad, ich soll hier auf Kur.“

Fräulein Meier bitte, Herr Konrad, Fräulein. Ich lege da Wert drauf. Nicht jede Frau geht in eine unglückliche Beziehung, um sich in einer von Männern dominierten Gesellschaft unterjochen zu lassen!“

Max war beeindruckt, neben dem Oberstabsfeldwebel an der Rezeption war die Verwaltung mit einer im Kampf erprobten Emanze besetzt, die sich wohl gerade im Fronteinsatz befand.

Sorry, das konnte ich nicht ahnen, ich möchte hier nur meinen Versichertenanteil zahlen“, erwiderte Max kleinlaut. Auf keinen Fall wollte er sich mit Fräulein Meier auf eine Geschlechterdiskussion einlassen.

Aber zu spät, der Zünder war gezogen.

Wenn es darum geht, Frauen auf ihre sichtbaren Geschlechtsmerkmale zu scannen, dann sind die Kerle fix. Ob ich Frau oder Fräulein bin, interessiert euch doch gar nicht. Und warum? Weil die Evolution einfach versagt hat und den Männern nur suggeriert, dass vor allem die körperliche Ausstattung von Frauen zählt, “ schimpfte sie sichtlich aufgebracht.

Max musste insgeheim zustimmen. Dass die Entwicklung der Menschheit im Laufe der Zeit Fehler gemacht hatte, ließ sich kaum bestreiten. Am Tag der körperlichen Ausstattung von Fräulein Meier hatte die Evolution jedenfalls gerade Ruhetag, davon zeugten erhebliche Nachlässigkeiten in den relevanten Bereichen Brust, Bauch und Po der Dame.

Fräulein Meier, ich bin seit fünf Uhr früh unterwegs und würde mich gern etwas ausruhen, bevor die Therapien beginnen“, versuchte Max die Situation zu entspannen.

Ja und, glauben Sie etwa, dass hier ist ein Ponyhof? Jeden Tag kommen hier bekloppte Kerle an, die behaupten, ihre Frauen wären schuld daran, dass die Lampe namens Hirns im Oberstübchen nur noch flackert.“

Aber Sie behandeln doch auch Frauen hier, oder nicht?“, traute sich Max zu fragen.

Großer Fehler! Fräulein Meier zündete umgehend ihr atomar betriebenes Emanzipationstriebwerk.

Na klar, aber das sind doch alles Opfer von den Machotypen, die uns Frauen nur zu Befriedigung ihrer sexuellen Gelüste benutzen. Haben Sie etwa schon mal gesehen, dass James Bond den Müll runterbringt, Staub saugt oder Socken stopft? Der jettet ständig um die Welt, wohnt in teuren Hotels, und wenn er nicht irgendeinen Schurken verfolgt, der die Weltherrschaft an sich reißen will, begattet er internationale Topmodelle. Die landen danach alle in der Psychiatrie und weinen sich aus, weil er ihnen das Blaue vom Himmel versprochen hat, nur um sie ins Bett zu kriegen. Ich kenn´ das doch, das war doch bei Ronnie im Sommer 1976 genauso, das Schwein.“

Max glaubte zu erkennen, dass eine Träne die Wange herunter rann.

Waren doch alle verknallt in den. Wenn der mit seinem Trabbi durch die Uckermark knatterte, standen wir Mädels vorm Haus und lockerten die Träger von der Kittelschürze. Und was denken Sie, mit welcher er dann rüber gemacht ist, hä?“

Fräulein Meier hatte mittlerweile Schaum vorm Mund und drohte zu implodieren.

Keine Ahnung“, erwiderte Max, „ich kenne mich im Osten nicht so aus.“

Na, mit der Mandy aus der Thälmannstraße, die trug immer Doppel-D mit Stahlbügel, obwohl sie in Wahrheit nur Pfirsich hatte.“

Max wollte einen Spaß machen. „Man kann nicht immer Glück haben.“

Fräulein Meier kniff die Augen zusammen und verzog das Gesicht wie John Rambo hinterm Flakgeschütz in Afghanistan.

Zahlen Sie bar oder Karte?“, beendete sie unwirsch das Gespräch.

Mit der entsprechenden Quittung der wohl von Männern arg stiefmütterlich behandelten Dame aus der Verwaltung sah sich nun die Blockwärterin hinter der Rezeption in der Lage, Max sein Zimmer zuzuweisen. Bevor er jedoch den Schlüssel ausgehändigt bekam, musste er den Erhalt einiger Unterlagen und Formulare bestätigen, und zwar einmal in Blockbuchstaben und dann noch mal mit Unterschrift. Speziell die signalrote Hausordnung hatte es in sich; die dreißig Seiten Text im Format DIN A4 waren auf Kartonage gedruckt, mit Klarlack versiegelt und zusätzlich in Kunststofffolie eingeschweißt. Der redaktionelle Inhalt erklärte sich schnell: Gefordert wurden unter anderem die Aufgabe von sonst allgemein geltenden Bürgerrechten, der Verzicht auf Widerworte gegenüber Reha-Ärzten und Angestellten, dem uneingeschränkten Vergöttern der Therapeuten und die unbedingte Beachtung der Ruhe- und Essenszeiten. Letzterer Satz war sogar zweimal dick in Rot unterstrichen. Das Ganze ließ sich eigentlich auch in zwei Paragrafen ausdrücken: Paragraf 1: Sie als Patient sind eine Made ohne Rechte! Ihre Meinungen, Absichten, Gewohnheiten, Wünsche oder Neigungen interessieren uns nicht. Sie haben sich ohne Ausnahme unserer Hausordnung unterzuordnen. Die Hausordnung ist größer, schöner und wichtiger als Bibel, Koran oder Tanach. Wer gegen diese Hausordnung verstößt, wird dereinst, wenn seine Zeit gekommen ist, für seinen Frevel im ewigen Feuer des Hausmeisters schmoren. Paragraf 2: Wenn Sie das nicht akzeptieren und umsetzen, verständigen wir umgehend den Kostenträger Ihrer Maßnahme und Sie müssen die Rechnung für Ihren Aufenthalt bei uns komplett selbst zahlen.

Max hatte ähnlich lautende Formulare schon öfter unterschrieben. Im Krankenhaus, beim Facharzt oder vor Operationen. Eine Behandlung, ohne dass man als Patient den Operateur von allen möglichen Verantwortlichkeiten für sein Tun schriftlich freistellt, gibt es heutzutage nicht mehr. Wenn zum Beispiel ein Automechaniker die Bremsanlage repariert, reicht ein kurzes ´Passt schon´, die Rechnung gilt ja gleichzeitig als Garantienachweis. Falls der Kunde dann vom Hof fährt und sich fünfhundert Meter weiter aufgrund defekter Bremse um einen Baum wickelt, zahlt die Werkstatt mindestens die Bestattungskosten. Das nennt man Verantwortungsbewusstsein und entlastet die Hinterbliebenen. Wenn allerdings ein Arzt Hand anlegen muss, zum Beispiel bei einer Darmspiegelung, muss man vorher gegenzeichnen, dass man auf den Einsatz sämtlicher Mittel zur Regressforderung verzichtet, falls die Kamera beim Durchleuchten der Darmwände diese gleich mehrfach perforiert hat. Praktisch könnte ein Chirurg jede Operation mit einer gebrauchten Heckenschere erledigen, um die Kosten für eine aufwendige Sterilisierung zu sparen. Zur Verantwortung kann er dafür aufgrund pauschal erzwungener Freistellung nicht gezogen werden. Und ist es immer gleich grobe Nachlässigkeit, wenn neben einer Niere auch die Leber mit extrahiert wird? Ein menschlicher Körper im aufgeschnittenen Zustand ist ein ziemliches Durcheinander, das viele Blut und die kilometerlangen Därme erschweren den Überblick. Schnell fällt man als Arzt nach einer 24-Stunden-Schicht in den Sekundenschlaf, und zack, wird im Eifer des Gefechts ein gesundes Organ abgetrennt. Was soll´s, dumm gelaufen, sagen da die Mediziner, wo geschnitten wird, geht auch mal was schief. Es ist zudem medizinisch erwiesen, dass man auch mit nur einer Leber erfolgreicher Alkoholiker werden kann.

Neben der Haus- und Hofordnung hatte Max noch einige Infos über den Sinn und Zweck der Behandlung erhalten. Durch tägliches Beckenbodentraining verringert sich zum Beispiel der Harndrang um die Hälfte, was zu enormer Wasserersparnis durch weniger Spülung führt. Der angebotene Kochkurs überzeugt durch praktische Ernährungstipps wie dem Hinweis, dass man fehlendes Sonnenlicht und den damit einhergehenden Vitamin-D Mangel durch den Verzehr von roher Robbenleber ausgleichen kann, da diese Innerei voll von Vitamin-D ist. Der Sportkurs wird durch eine kompakte ehemalige Weltmeisterin im Gewichtheben geleitet, deren physische Präsenz und baumstammgroße Oberarme jedes Widerwort gegen die körperliche Leibesertüchtigung schon im Ansatz erstickt. In den Gesprächskreisen und Gruppentherapien offenbart sich den Teilnehmern die nackte Wahrheit menschlicher Tragödien mit nachfolgenden Schuldgefühlen, wenn die Beladenen von ergreifenden Schicksalsschlägen wie dem unangemeldeten Freitod des geliebten Wellensittichs berichten, der aufgrund massiver Depressionen direkt in den glühenden Toaster geflogen ist, um seinem unfreiem Leben wenigstens ein würdiges Ende zu setzen.

Aber auch den kulturellen Anforderungen wurde Rechnung getragen. Das abendliche Unterhaltungsprogramm der Klinik hat sich zum Ziel gesetzt, das intellektuelle Niveau unter dem der Teletubbies zu halten. Neben Bingo und Sticken mit Hildegard, kommt jeden zweiten Abend die Oberschwester der Grünen Damen in den Festsaal der Anstalt und hält lustige Vorträge zu Themen wie Arbeiten trotz Inkontinenz oder Überstunden leisten mit künstlichem Hüftgelenk oder Mindestlohn – Geißel der Menschheit. Anwesenheitspflicht für die Insassen besteht bei den Veranstaltungen der Rentenkasse, in denen der Berater schonungslos darüber aufklärt, welche finanziellen Auswirkungen das heuchlerische Verweigern von Arbeit hat, nur weil mal ein Lungenflügel fehlt oder eine Niere abhandengekommen ist. Nicht umsonst hat ja der Schöpfer davon zwei Organe eingebaut.

Kein Wunder also, dass eine mehrwöchige Kur immer erfolgreich endet, denn selbst Einbeinige hüpfen die Einhundertmeter-Strecke unter zehn Sekunden, nur um den heiß begehrten Entlassungsschein in den Händen halten zu können. Einige besonders Drangsalierte bewerben sich schon während der Kur um einen Minijob in einer asiatischen Jeans-manufaktur, um früher rauszukommen und spenden ihren dabei erzielten Hungerlohn gerne dem Verband für in Not geratene Rentenkassen.

Mittlerweile hatte der Rezeptionsdragoner einen Schließer beauftragt, Max auf sein Zimmer zu bringen und ihm vorher das Info-Brett zu zeigen.

Das Info-Brett gehört zur Grundausstattung jeder Kurklinik. In einem überdimensionierten ehemaligen Post-Sortier-Schrank sind – je nach Bettenzahl – Hunderte Schließfächer, die von außen mit den Zimmernummern versehen sind. Auf der Rückseite des Schrankes befindet sich direkt das Büro der Verwaltung, die somit direkten Zugang zu den Schließfächern von hinten hat. Die Verwaltung plant den therapeutischen Tagesablauf der Insassen, der mittels ausgedruckter Liste in den Schließfächern den Kurenden mitgeteilt wird. Jeder Patient hat diese Liste immer und ständig mit sich zu führen; sie ist quasi der einzig mögliche Legitimationsnachweis beim Aufenthalt im Kur-Trakt. Sie ist der Legitimationsnachweis, wenn ein Beladener durch menschenleere Flure tapst und auf einen Bediensteten trifft, der ihn natürlich sofort stellt. „Hey, Sie, wo willst` hin? Zeich ma` deine Liste.“

Wer jetzt anfängt, hastig in seinem Turnbeutel nach dem blöden Zettel zu wühlen, macht sich verdächtig. Da helfen auch keine Erklärungen. „Ich komme grade von Hydro-Jet, das hat aber länger gedauert als geplant, weil das junge Ding, dass die Fixierungen wieder aufschließen musste, noch eine rauchen wollte.“

Mensch, Opa, Sie wissen doch, dass der Ablaufzettel wichtig ist. Der muss immer am Mann sein. Ohne den kann ich nichts machen und muss dich dem Sicherheitsdienst übergeben.“

Ich weiß auch nicht, gerade hatte ich den doch noch … Ah, hier isser ja, war in der Trainingsjacke.“

Gerade noch rechtzeitig, der Blockwärter hatte schon die Handschellen parat.

Der Tagesplan hat aber auch noch eine zweite Funktion, er dient dem lückenlosen Nachweis der Teilnahme an den Behandlungen, denn nach Ende der Stunde zeichnet der durchführende Therapeut gegen und dokumentiert damit die Anwesenheit. Das ist immens wichtig, denn damit kann die Klinik gegenüber dem Kostenträger nachweisen, was sie mit den Kurenden alles so angestellt hat.

Auf dem Weg zum Zimmer erhielt Max weitere Instruktionen von seinem Begleiter. „Am besten ist, jede volle Stunde mal in das Schließfach gucken, ob sich irgendwas im Ablaufplan geändert hat. Lohnt aber erst nach elf Uhr, vorher trinken die Mädels noch Kaffee. Tja, Bürokraft müsste man sein“, seufzte er, „unsereins hat solche Vorteile ja nicht. Die haben ´ne teure Maschine mit immer frischem Kaffee, wir Arbeiter dagegen müssen unseren Muckefuck mit der Thermoskanne von zu Hause mitbringen.“

Max wurde misstrauisch.

Aber im Prospekt steht doch, dass es hier auch ein tolles Bistro gibt, mit frischen Croissants und reichlich Kaffeevariationen.“

Na, Sie sind wohl das erste Mal auf Kur, oder? Der Kaffee im Bistro ist doch komplett kastriert, also total koffeinfrei, zudem nehmen die auf zehn Liter Kaffee nur zwei gehäufte Löffel. Dagegen schmeckt selbst Caro-Kaffee wie Champions-League. Wenn die den Bekloppten hier tatsächlich richtigen Kaffee servieren würden, was würde wohl passieren? Die kriegen doch alle ´nen Herzkasper, so richtigen Stoff können die doch gar nicht mehr ab.“

Wieso das denn?“, fragte Max.

Na ist doch logo. Hier gibt es doch nur gewaltfrei gepflückten Tee und laktosefreien Kakao, selbst das Wasser wird vorher von einem Schamanen heiliggesprochen. Nach drei Tagen Aufenthalt bei uns ist ein menschlicher Körper Giftstoffe doch gar nicht mehr gewohnt und verweichlicht.“

Max fasste leichtes Vertrauen, sein Begleiter schien ein Mann zu sein, der auch mal fünf grade sein lassen konnte.

Wie ist das denn mit Alkohol auf Kur“, wollte er wissen.

Auf dem Gelände hier gib es nix, das kannst du vergessen. Auf dem Weg zum Dorf kommt nach fünfhundert Metern auf der rechten Seite der Kiosk von Margot, da gibt´s Stoff und Zigaretten. Aber erst nach 18 Uhr, wenn die Behandlungen gelaufen sind. Sonst kommen die Leute ja schon hackevoll zum Frühstück.“

Max hatte irgendwie das Gefühl von Licht am Ende des Tunnels.

DIE EINGANGSUNTERSUCHUNG

Tags drauf hatte sich Max um 7:45 Uhr zu einer ärztlichen Untersuchung einzufinden. Bevor Kurpatienten am Gesundungsprozess teilnehmen dürfen, muss die Klinik erst mal prüfen, ob der Teilnehmer überhaupt krank und was zu tun ist, damit er nicht noch kranker wird. Die aufnehmende Ärztin, ein junges Ding mit bemerkenswerter Hakennase, präsentierte sich äußerst professionell.

Tja, fünfundneunzig Kilo bei einer Körpergröße von einsfünfundachtzig ist zwar nicht adipös, aber dick. Ein wenig abspecken kann nicht schaden, nicht wahr“, murmelte sie vor sich hin, ohne den Blick vom vorliegenden letzten OP-Bericht zu nehmen. „Ziehen Sie sich mal aus, das muss ich mir mal genauer anschauen.“

Dass eine junge Frau, dazu auch noch Akademikerin, Max schon bei der ersten Begegnung aufforderte, sich zu entkleiden, war ihm noch nie passiert, aber er tat, wie ihm geheißen.

Die Unterhose hätten Sie allerdings anlassen können. Trinken Sie Alkohol?“, fragte Frau Doktor und musterte Max mit abschätzendem Blick.

Was hätten Sie denn da?“

Herr Konrad, Humor ist was Schönes für nach Feierabend, aber hier nicht angebracht“, herrschte sie ihn an. „Sie sind hier, weil wir Sie wieder auf Vordermann bringen sollen, da müssen Sie schon ernsthaft mitmachen.“

Ein bis zwei Bier am Tag, und manchmal abends einen Whisky, wenn Freunde kommen“, antwortete Max kleinlaut.

So, so, wenn das mal stimmt, bei der Plauze. Wie sieht´s aus mit Sport und Rauchen?“

Mach ich beides“, gab Max stolz zu Protokoll. „Nur dass ich beim Rauchen keinen Sport mache und beim Sport nicht rauche. Klappt beim Schwimmen nämlich nicht.“

Auch der Witz kommt nicht an, unbeeindruckt zitierte die Ärztin aus dem Bericht.

Da haben Sie aber mehrere Hauptgewinne gezogen“, sagte sie, während sie die ärztlichen Begriffe seiner Erkrankung leise vor sich hinmurmelte, „Mannomann, was haben Sie denn nicht? Irgendwelche Rezidive?“

Max hatte wie die meisten Menschen Schwierigkeiten das medizinische Vokabular in verständliches Deutsch zu übersetzen und verstand nur Bahnhof.

Masern mit sechs und Blinddarm mit zwölf Jahren, außerdem Hornhautverkrümmung und eine Tendenz zu einwachsenden Fußnägeln, wenn Sie weitere Erkrankungen meinen.“

Frau Doktor wurde nun handgreiflich.

Holen Sie mal tief Luft“, forderte sie ihn auf und setzte das Stethoskop an, „das rasselt ja wie ein Kettenbagger in der Zeche. Mal Luft anhalten.“

Das konnte Max schon seit der Kindheit gut, im Schwimmbad hatte er mit den Jungs gewettet, wer beim Tauchen am längsten die Luft anhalten konnte und meistens gewonnen. Bis zu dem Zeitpunkt, als ihn der Bademeister einmal bewusstlos aus dem Wasser ziehen musste.

Die Ärztin hatte mittlerweile am Schreibtisch Platz genommen, murmelte vor sich hin und notierte auf einem Formular. „Zweimal täglich Emsal Inhalation, dann scheppert das nicht mehr so. In jedem Fall Bewegungstherapie, Logopädie und Beckenbodentraining. Ich denke, Hydrojetmassage und Stressbewältigung nach Jakob können auch nicht schaden. Wieso sind Sie so rot im Gesicht?“

Sie hatte kurz zu Max aufgeschaut, der stolz immer noch die Luft anhielt.

Haben Sie doch gesagt, ich soll“, prustete Max, nachdem er seinen Sauerstoffmangel ausgeglichen hatte. „Früher habe ich mal knapp drei Minuten geschafft.“

Die Ärztin schüttelte den Kopf. „So wie Sie drauf sind, auf jedem Fall einmal die Woche Therapie beim psychologischen Leiter, darunter geht bei Ihnen gar nichts.“

BEGRÜSSUNGS-EMPFANG DER KLINIKLEITUNG

Im Anschluss an die ärztliche Eingangsuntersuchung hatten sich Max und die anderen neuen Kurgäste zur offiziellen Begrüßung in der Aula einzufinden. Rund zwanzig Neuankömmlinge trudelten so nach und nach ein und suchten sich einen Sitzplatz, natürlich möglichst weit entfernt vom Rednerpult, neben dem ein Folienprojektor auf einem kleinen Tisch stand. So einen technischen Dinosaurier hatte Max das letzte Mal in der Schule gesehen, also vor rund fünfunddreißig Jahren.

Max erinnerte sich daran so genau, weil sein damaliger Französischlehrer Herr Ratenow so einen Projektor exzessiv dafür nutzte, den Schülern die französische Geografie beizubringen, und zwar in dem er ihnen die Frontverläufe in der Normandie im Zweiten Weltkrieg auf eine Folie malte und an die Wand projizierte. Das Militärische lag dem Mann am Herzen, er hatte noch in der Wehrmacht gedient, und derart gestaltete sich auch sein Unterricht.

Konrad, komm mal nach vorne und zeichne mal die Städte Rouen, Le Havre und Caen in die Karte ein.“

Max tat wie befohlen, aber natürlich hatte er nicht den blassesten Schimmer, wo diese Orte auf der Folie zu finden waren und machte einfach willkürlich drei Kreuze.

Mensch Konrad, seit wann gibt es Städte im Atlantik? Was soll aus dir bloß werden. Wahrscheinlich reicht´s grade mal für Ordonanz im Stab. Moin Dieu, so was hat´s früher alles nicht gegeben.“

Wer dann allerdings clever war, konnte trotzdem eine gute Note bekommen.

Herr Ratenow, Sie konnten sich im Krieg alles vor Ort angucken und deshalb so gut merken. Die Chance habe ich heute nicht.“

Oui, da ist was dran. Heute schaffen es Infanteriesoldaten ja höchstens noch bis in die Lüneburger Heide und schmeißen mit Platzpatronen.“

Genau, deswegen will ich nach der Schule auch zur Luftwaffe, vielleicht habe ich Glück und werde auf einen Stützpunkt nach Frankreich versetzt.“

Jetzt musste man als Schüler nur noch unterwürfig die Augen aufschlagen.

Konrad, du bist mir ja einer“, freute sich Lehrer Ratenow, „da ist ja doch noch Licht im Oberstübchen. Obwohl, wer weiß, ob du überhaupt den Weg nach Frankreich findest, bei deinen Geografiekenntnissen. Hinsetzen, drei!“

Max wunderte sich darüber, was ihm seit Antritt seiner Kur alles wieder so in den Sinn kam.

Als erste erschien die Hausdame Frau Hinger zur Begrüßung, in wallenden bunten Gewändern, wie sie eigentlich früher nur von den Hippies in den 1970er Jahren getragen wurden. Unter dem rechten Arm hatte sie ihre Folien für ihre Rede geklemmt, in der linken Hand trug sie eine übergroße Hello-Kitty-Tasse, aus der der Faden des Teebeutels baumelte. Max war gespannt, wie sie ihre Utensilien auf dem Pult abstellen wollte, ohne den Tee zu verschütten.

Meine Güte“, stöhnte sie, „gibt es denn keine Kavaliere mehr? Sie müssen das Dilemma doch sehen.“ Sie schaute sich um und deutete aufgrund Nichtnutzbarkeit ihrer Hände mit der Nase auf einen Herrn, der ihr am nächsten saß. „Jetzt kommen Sie mal her und nehmen mir bitte was ab, sonst werden wir ja nie fertig.“

Der Mann schaute sich unsicher um, ob er auch tatsächlich gemeint war, und erhob sich schweren Herzens. Langsam und mit Bedacht, einen Fuß vorsichtig vor den anderen setzend, bewegte er sich auf einen Rollator im Gang zu, den Max eben erst erblickt hatte. Auch die Hausdame bemerkte ihren Fauxpas.

Ne, dann doch nicht, bleiben Sie mal besser sitzen. Bis Sie hier vorne sind, habe ich ja Eistee.“ Sie beugte sich über das Rednerpult und öffnete ihren rechten Arm, in der Hoffnung, dass die Folien auf das Pult fallen – was sie natürlich nicht taten, sondern segelnd auf dem Fußboden landeten. „Herrgott, das darf doch alles nicht wahr sein“, fluchte sie leise, aber immerhin so, dass alle es hören konnten.

Statt jetzt aber die Tasse mit dem dampfenden Tee abzustellen und dann erst die Folien aufzuheben, bückte sie sich nach unten und versuchte mit der linken Hand, die Teetasse auszubalancieren und mit der rechten Hand die Folien aufzuheben. Das klappte natürlich nicht ohne einen großen Schluck Tee zu verschütten.

Zweiter Versuch: Wieder ging es nach unten, wieder konnte sie die Tasse nicht balancieren. Um das Rednerpult hatte sich mittlerweile eine schöne gelbliche Pfütze gebildet, und das Gesicht der Hausdame war angesichts ihrer körperlichen Anstrengungen hoch errötet, als der Chefarzt die Aula betrat und auf Tisch zusteuerte.

Frau Hinger, wie sehen Sie denn aus, ist Ihnen nicht gut?“, fragte er sichtlich besorgt und trat mit Schmackes in die Tee-Pfütze. „Ach du meine Güte, jetzt ist es doch schon so weit“, sagte er und schlug die Hände vor seinem Gesicht zusammen, „ich hatte Ihnen ja schon bei der letzten Untersuchung zu Inkontinenz-Schlüpfern geraten. Mit einer schwachen Blase ist eben nicht zu spaßen!“

Die Hausdame wurde angesichts der Rückschlüsse, die ihr Chefarzt zog, stinkesauer und explodierte augenblicklich: „Walter, du Depp, was sabbelst du da, du kannst doch meine Untersuchungsergebnisse hier nicht öffentlich kundtun“, fauchte sie zurück. „Das ist Bachblüten-Tee und nicht, was du denkst. Hilf mir lieber mal.“

Walter, der Chefarzt, tat augenblicklich wie ihm geheißen, bückte sich und fischte die nassen Folien aus der Teepfütze. Gelbliche Flüssigkeit tropfte dabei auf seine weißen Tennissocken, die in ebenfalls weißen Sandaletten steckten.

Die Folien sind hinüber“, stellte er schulterzuckend fest. „Was nun?“

Dann gehst du jetzt in mein Büro, da liegen noch welche, die holst du jetzt!“, ordnete sie in resolutem Ton an. Zudem fügte sie, sichtlich vergnügt, noch den rhetorischen Konter an: „Und wechsele deine Strümpfe, das sieht aus, als ob du dir auf die eigenen Füße gepinkelt hast.“

Max war begeistert, diese Slapstick-Einlage hätten Dick und Doof auch nicht besser hingekriegt, für so eine Vorstellung muss man anderswo Eintritt bezahlen.

Nachdem die Hausdame die neuen Folien gezeigt hatte, die sich übrigens inhaltlich zu einhundert Prozent mit der Hausordnung befassten, war der Chefarzt mit seinem Vortrag an der Reihe. Leider hatte er vergessen seine gelblich gesprenkelten weißen Socken zu wechseln, er trug zudem eine rote Brille mit riesigen Gläsern, sodass seine Augen um ein Vielfaches vergrößert wurden und er aussah wie Mesut Özil auf Crack. Seine Frisur glich der von Albert Einstein, und als ob das nicht alles schon genug sein könnte, trug er im rechten Ohr noch einen großen kreisrunden goldenen Ohrring. Niemals im Leben hätte Max geglaubt, dass eine Person, die so rumlief, Chefarzt in einer Klinik sein könnte.

Der Chefarzt mit Namen Dr. Walter Helsinki konzentrierte sich in seiner Ansprache auf anthroposophische, esoterische und vegane Aspekte. Die Menschen kümmern sich seiner Ansicht nach im normalen Alltag viel zu wenig um ein ausgewogenes Zusammenspiel von Geist, Körper, Umwelt und Universum. Stattdessen konsumieren wir ungehemmt Fernsehen und Internet, was unweigerlich dazu führt, dass unsere Synapsen verkümmern und deshalb unser Gehirn auf Erbsengröße schrumpft. Das Hirn war übrigens bei den Dinosauriern ähnlich groß, die Folgen kennen wir alle: Sie sind ausgestorben. Schlimmer noch, der massenhafte Verzehr von Fleisch, Pizza und Hamburgern entzieht unserem geschundenen Körper bedauerlicherweise das Chakra. Das bräuchten wir aber unbedingt, um die Verbindung der Energiekanäle zwischen unserem physischen Körper und unserem Astralleib aufrechtzuerhalten. Helfen könnte eigentlich nur die Umstellung auf vegane Ernährung wie Wasser, Tee, rohes Gemüse und allenfalls lauwarme Suppe. Auch das energetische Aufnehmen von Lichtnahrung durch die Sonne oder das Herausfiltern von Kalorien aus der Umgebungsluft durch stoßartige Schnappatmung wäre ein Weg. Leider hat sich diese Erkenntnis noch nicht bei den Kostenträgern durchgesetzt, sodass auch in dieser Reha-Maßnahme konventionelle Speisen wie panierte Schnitzel, Bratkartoffeln und Currywurst mit Pommes gereicht werden müssen.

Ein hörbares Aufatmen folgte unweigerlich im Saal unter den Anwesenden!

Dr. Helsinki beendet seinen Vortrag noch mit einer außerordentlichen Erkenntnis aus seinem mythologischen Kosmos. Musik, speziell asiatische Klangschalen und von Hand geschnitzte südamerikanische Holzflöten, erzeugen Töne, die die Verbindungen im Körper festigen. Wer allerdings ständig an Sex denkt, hätte jedoch Pech, denn der dauernde Gedanke daran verhindere den geistigen Zugang zu dieser Art von Musik.

Max konnte dem nur zustimmen, Klangschalen und Blockflöten hatten ihn jedenfalls noch nie erregt, der Gedanke an Sex dagegen schon.