Brân I. Harrisson: Lichter einer grauen Stadt/Leseprobe

Prolog

 

 

„Gefallen sie dir nicht?“, fragte ich sie mit einer gewissen Vorahnung. Meine Augen zogen sich zu einem fragenden Blick zusammen. Ich wartete sehnsüchtig darauf, dass sie mir die Anerkennung gab, auf die ich aus war.

Doch auf ihrem porzellanartigen Gesicht zeichnete sich nur Unverständnis ab. Ihre Brauen zogen hohe Wellen, als hätte ich etwas Unfassbares von ihr verlangt, das sie nur schwer begreifen konnte.

„Warum zeichnest du so etwas Düsteres?“, erwiderte sie vorsichtig, ganz so, als könnte ich bei jedem Wort, das sie wählte, zerbrechen.

„Wieso denn düster?“, hakte ich lachend nach und ignorierte ihre Bemerkung. „Die Blumen sind wunderschön! Sieh dir nur den Schwung der Blütenblätter an, den ich in sie bekommen hab, und wie sanft sie sich auf dem Boden abzeichnen. Ich hab noch nie etwas Feineres gemalt!“ Mit Staunen zeigte ich auf die langen Blätter des Blütenstraußes, die aus dem Stillleben rausragten.

Wieder sah ich zu ihr rüber, in der Hoffnung, einen anderen Ausdruck in ihrem schneeweißen Gesicht wiederzufinden. Ich merkte sofort, dass sie sich etwas anderes darunter vorgestellt hatte.

„Aber grau? Warum machst du es nicht bunt? Dann sieht es viel schöner aus“, sagte sie traurig, als hätte ich sie mit dem Gemälde beleidigen wollen.

Doch warum hätte ich es bunt malen sollen? Es gab so viele farbenfrohe Blumen und genügend Zeichnungen von ihnen auf der Welt. Warum wollte sie, dass ich´s wie jeder andere malte? Als wär ich nur ein scheiß Penner, der Portraits am Straßenrand anfertigte?

„Grau ist doch die beste Farbe von allen“, versuchte ich sie zu überzeugen. „Es ist die Mitte zwischen Weiß und Schwarz, dem Guten und Schlechten, Hell und Dunkel. Es ist realistisch, weil nichts auf der Welt gut oder schlecht ist, nicht mal Blumen. Bunt ist nur das, was wir glauben zu sein. Etwas, das wir erfunden haben, damit uns die Trostlosigkeit des Lebens nicht einholt. Wir bilden uns Farben ein, um zu vergessen, dass unsere Existenz keinen Wert und keinen Sinn hat. Deswegen …“

Ich brauchte nicht weiterzureden. Zu oft hatte ich diesen Blick bei ihr gesehen. Sie konnte mir schon längst nicht mehr folgen. Ihre Brauen standen höher als sonst schon. Sie zogen leichte Wellen über ihre schattierten Augenlider. Das war das Zeichen für mich, dass ich aufhören musste zu reden, wenn ich wollte, dass sie bei mir blieb. Denn sie konnte mir nie folgen. Für sie war das, woran ich tagtäglich dachte, nichts als Zeichen einer ankommenden Depression. Und davon wollte sie nichts wissen. Leider verstand sie nie, was ich ihr damit sagen wollte. Dafür reichten die Grenzen ihrer Welt nicht aus.

Ich nahm ihre beiden Hände und presste sie an meine Brust. Dabei versuchte ich, in ihre Augen zu schauen, aber sie hielt den Blick weiterhin nach unten gesenkt. Sie wollte mich nicht ansehen.

Wieso kann sie nichts von mir schön finden, fragte ich mich nicht zum ersten Mal. Ich merkte, wie sie sich bemühte, etwas für sie Wertvolles in dem Bild zu finden, das ich in wochenlanger Arbeit gemalt hatte. Aber sie suchte anscheinend vergeblich, denn sie fand nichts ´Schönes´ in ihm. Und war das etwa der Sinn dahinter? Dass sie so lange darin suchte, bis ihr was daran gefiel?

„Und was sind diese Sträucher da im Hintergrund? Ich dachte, du wolltest Blumen zeichnen.“

„Hab ich doch!“, entgegnete ich lachend, obwohl ich nicht wusste, ob ich es tat, weil ich es lustig fand oder weil ich einfach nur noch verzweifelt war. „Die Gräser haben auch ihre Schönheit. Und wenn sie etwas versteckt ist, dann zeigt es nur, dass wir dadurch eine neue Perspektive einnehmen können, die wir zuvor nicht entdeckt haben. Alles ist schön, wenn du es nur zulässt.“

Ich konnte sie nicht dafür gewinnen, etwas Positives in den für sie furchtbaren Gräsern zu finden. Das musste ich einsehen. Ich bereute die Entscheidung, ihr das Bild zu zeigen. Aber ich bereute nicht, es gemalt zu haben. Für mich war es weiterhin perfekt. Nicht nur, weil ich es gemalt hatte. Für mich strahlte es einfach Ruhe aus. Ich fühlte mich ausgeglichen, wenn ich es betrachtete. Obwohl es fast nur in Grau gehalten war.

Sie ging näher an das Gemälde ran und strich über eine Blüte mit weiten Blättern, der ich ein schwaches Rot gegeben hatte. Das Grau kam jedoch immer noch durch und überschattete es. „Du weißt, dass Rot meine Lieblingsfarbe ist“, sagte sie mit einer Stimme, die ich noch nie bei ihr gehört hatte. Mit schmollendem Mund strich sie immer wieder behutsam über die Stelle, als hätte sie das Grau einfach wegwischen können. Ich stand neben ihr, während mein Herz langsam in Stücke zerbrach. Ich wusste nicht mehr, was ich fühlte. Ob es Wut war oder Mitgefühl. Sie gab mir das Gefühl, dass ich mich entschuldigen müsste, und ich wusste nicht wofür.

„Tut mir leid, dass es dir nicht gefällt“, antwortete ich niedergeschlagen und ließ mich ohne Kraft auf mein Bett fallen.

Sie blickte zu mir rüber. Ihre langen Wimpern hoben und senkten sich, als wollten sie mit mir sprechen. Ich konnte ihre Anwesenheit nicht mehr ertragen.

Als hätte sie gewusst, was ich dachte, erreichte mich plötzlich ein Laut. „Matthew … “ Meine Augenlider schlugen zu, als ich dieses Wort aufgenommen hatte. Ich konnte nicht glauben, es gehört zu haben.

„Du weißt, dass ich es nicht mag, wenn du mich so nennst“, unterbrach ich sie, während ich an die Decke starrte, teils um sie zu ignorieren, teils weil ich auf dem Rücken lag. Ich spürte, wie sie etwas sagen wollte. Wie sie mich die ganze Zeit über ansah. Dass ihr etwas schwerfiel auszusprechen. Im Augenwinkel beobachtete ich ihr Gesicht. Es sah so aus, als hätte sie Schmerzen. Als würde sie tief im Innern etwas stechen.

Ich wartete darauf, dass sie etwas von sich gab. Aber es war, als könne sie nicht. Etwas lag auf ihren Lippen, aber sie hinderte sich selbst daran, es auszusprechen. Ich bekam viel zu spät mit, was sie mir eigentlich hatte sagen wollen.

Nachdem sie ein bisschen länger geschwiegen hatte, richtete ich mich wieder auf. Der ganze Moment ging nicht spurlos an mir vorbei. Ich war zwar blind, aber selbst ich bekam irgendwann mit, dass etwas nicht stimmte. Nur griff ich in den meisten Fällen nicht ein, wenn ich es mitbekam. Warum hätte ich auch? Vielleicht aus Arroganz, vielleicht weil ich es eh nicht hätte ändern können.

In meinem Kopf schwirrte das eine Wort, das sie ausgesprochen hatte, immer wieder umher. Mein Name. Warum hatte sie nicht ´Schatz´ gesagt? Warum hatte sie nicht den einen Namen gesagt, den sie so häufig für mich benutzt hatte. Und wo hatte ich die Zeit her, darüber nachzudenken, während sie an meinem Bett stand und mich mit diesem Blick betrachtete? Noch nie hatte sie mich beim vollen Namen genannt. Noch nie. Der Gedanke brachte mich ins Stolpern. Ein einziges Wort, das eine so große Bedeutung hatte.

Unschlüssig betrachtete sie das Fenster, so, als müsse sie erst die Welt da draußen befragen. Eine andere Welt, in der sie es mir nicht sagen würde. Dann sah sie wieder mich an und erinnerte sich daran, dass das die Realität war, mit mir. Selbst wenn sie traurig war, sah sie wunderschön aus.

„Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir reden.“ Ihre Augen strahlten Entschlossenheit aus. Keine Spur von Trauer zeichnete sich in ihrer braunen Tiefe aus. Ich würde diese Augen vermissen.

Ein letztes Mal betrachtete ich sie. Ausdruckslos. Ohne einen Gedanken im Kopf. Ich empfand nichts. Meine Gefühle verstummten und sie verschwand. Für immer.

 

Kapitel 1

 

 

,,Und wie genau soll ich anfangen? Ich hab das hier noch nie gemacht.“

„Sich jemandem öffnen?“

„Fick dich“, antworte ich trocken.

„Hey, du hast gesagt, dass du wen zum Reden brauchst.“

„Ich weiß, was ich gesagt hab.“

„Fang einfach an. Tu so, als ob ich jemand anderes wär, den du nicht kennst.“

„Dem würde ich so was nicht erzählen.“

„Tu´s einfach.“

„Und dann?“

„Erzählst du mir von dir. Alles. Ich kenn dich schließlich nicht mehr. Also, erzähl mir, wie du heißt, wo du wohnst, dass du ´n Spast bist. So ´n Scheiß halt. Und irgendwann kommst du dann auf ihn zurück.“

„Das ist behindert.“

„Du wolltest es.“

,,Ich weiß …“, ich atme lange aus. „Okay, also … mein Name ist Matthew … Ich bin siebzehn Jahre alt und wohne in einer kleinen Stadt aus Dreck, die keiner kennt. Gut so?“

„Weiter.“

Er schaut mich erwartungsvoll an. Ich verdrehe die Augen.

„Ich wohn´ mit meiner Ma in ´ner viel zu kleinen Wohnung in ´nem Plattenbau. Sie ist Verkäuferin im Supermarkt und hat sich zur stellvertretenden Managerin hochgearbeitet oder irgendwie so was. Auf jeden Fall muss sie nicht mehr die Kotze von Kindern wegwischen, sondern hat Leute dafür. Trotzdem reicht es nur für unsere mickrige Wohnung.“

Ich überlege. Eigentlich gibt es nicht so viel über mich zu erzählen, denke ich. Jedenfalls nicht viel, was man sonst noch so mitteilen könnte.

„In mein Zimmer passt nicht viel rein, weswegen meine Freunde fast nie bei mir sind, außer zu zweit. Ist vielleicht auch besser so, denn meistens hab ich kein Bock aufzuräumen.“

„Echt jetzt? Das findest du wichtig?“

„Du meintest doch, ich soll dir alles erzählen.“

„Aber nicht so ´n Scheiß.“

Ich presse meine Lippen zusammen und widerstehe dem Wunsch, aufzustehen und ihn einfach sitzen zu lassen.

„Meinen Vater kenn ich nicht. Er hat sich irgendwann von meiner Ma getrennt. Ich hatte aber nie das Bedürfnis, ihn kennenzulernen oder so, weil das schwul wär. Auch sonst interessiert mich sein Leben wenig.“ In meinem Kopf hake ich die Punkte von Dingen auf einer Liste ab, die ich wohl anderen als erstes über mich erzählen würde. „Fast alle bei uns gehen auf die gleiche Schule. Wir haben auch nur zwei. Eine für schlaue Menschen und eine für alles andere. Keine Ahnung, wie ich es auf die für Schlaue geschafft hab. Bei uns gibt es andere Fächer als an den meisten anderen Schulen und auch andere Kombinationsmöglichkeiten. Man kann quasi verscheidende Richtungen wählen. Naturwissenschaften, Sprachen, Sport, Gesellschaftswissenschaften. Ich hab mich damals für Kunst und Kultur entschieden, weil ich Mathe hasse und wenigstens mit Kopfhörern malen konnte. Leider müssen wir trotzdem alle so ´n Scheiß wie Englisch machen.“

„Ich weiß, wie unsere Schule funktioniert, Nami“, unterbricht er mich gelangweilt.

,,Du meintest doch, ich soll alles so erzählen, als würdest du mich nicht kennen.“

„Du sollst mir die wichtigen Teile erzählen“, erwidert er gereizt.

Ich puste genervt Luft aus. Was für ein super Start. „Meine Freunde gingen nicht auf meine Schule. Bis auf einen. Dastyn. Er war mein bester Freund, auch wenn er ´ne Schwuchtel war.“

Ich grinse, er hingegen reagiert nicht.

„Wir waren seit dem Kindergarten befreundet, glaub ich. Auf jeden Fall schon so lang, dass ich gar nicht mehr weiß, wann er mir das letzte Mal nicht auf den Sack gegangen ist. Eine Zeit lang wohnte er, glaub ich, mal mit in unserem Block oder so. Er war auf jeden Fall häufig da. Irgendwie hab ich ihn da kennengelernt.“

Ich überlege kurz. Das ergibt keinen Sinn. Schließlich wohnt er schon sein ganzes Leben lang auf diesem einen Kackdorf und nicht in der Stadt.

„Warte, mir fällt gerade was ein“, fange ich wieder an. „Meine Mutter wollte mich damals nicht in den Kindergarten schicken, oder es war ihr einfach zu teuer oder so. Sie ließ mich deshalb immer ins Obergeschoss zu einer alten Frau gehen, die auf mich aufpasste. Und als sich rumgesprochen hat, dass es wieder eine freie Tagesmutter gab, stand auf einmal der kleine Dastyn da, mit seinen süßen Grübchen.“

Liebevoll kneife ich ihm in die Wange, doch er schlägt meine Hand weg.

„Warum auch immer, wurde er mein bester Freund. Wir haben viel gemeinsam durchgemacht. Ich konnte ihm alles erzählen. Er war der Einzige, der mich verstand, denk ich. Meine anderen Freunde haben mir nie das Gefühl gegeben, dass sie mir zuhören würden – richtig zuhören würden, mein ich. Dastyn hingegen war derjenige, dem ich mein ganzes Vertrauen schenken konnte. Er war ein guter Zuhörer und wusste immer, was zu tun war, auch wenn ich es nicht einsehen wollte. Er verurteilte nicht, er hörte einfach nur zu und war da für mich. Ob Desinteresse an meinen Problemen oder wirkliche Fürsorge, er hielt einfach die Fresse, wenn ich redete. Dastyn war seit jeher die nervige Stimme in meinem Kopf, der ich schon immer mal eine aufs Maul hauen wollte. Und trotzdem hingen wir eigentlich ständig rum. Gleiche Schule, gleiche Hobbys, gleiche Denkweisen. Wir teilten dieselbe emotionale Kälte, die uns so unwiderstehlich macht. Bis heute haben wir auch alles zusammen durchgestanden. Na ja, fast alles. Grundschule, Gymi, Klausuren, Partys. Den ganzen Scheiß halt. Da ist es auch kein Wunder, dass wir dieselben Freunde haben. Irgendwann wurde es einfach nur noch eklig.“

Ich grinse vor mich hin. Es ist so vieles in diesem einen Jahr passiert. Eigentlich hab ich keinen Grund zum Lachen. Ich hab Freunde gewonnen und Freunde verloren. Mir neue Feinde geschaffen und alte besiegt. Es ist schwer, irgendwo anzufangen, weil alles miteinander zusammenhängt. Auch wenn ich es nicht will, mir wird es danach besser gehen. Hoffentlich.

„Eine ganze Zeit lang hab ich mich verloren gefühlt. Das war anscheinend der Preis, wenn man so verschlossen war wie ich. Nur wusste ich nie, dass ich verschlossen war. Für mich war es ganz natürlich, nur denjenigen etwas anzuvertrauen, von denen ich wusste, dass sie einen nicht verarschen würden. Und das konnte ich eben nur bei meinen drei Freunden, Dastyn, Tim und Niklas. Die anderen interessierten mich nicht. Ich gab ihnen nur das Gefühl, ich würde sie mögen, um keinen Stress zu bekommen und damit mein Ruf nicht unnötig darunter litt.

Dastyn und ich hatten zwei gemeinsame Freunde, mit denen wir eigentlich ständig was machten. Der hübsche hieß Tim und der Sack Stroh Niklas. Ich weiß nicht mehr, wann die dazu gekommen waren. Gefühlt waren die schon mein ganzes Leben da. Aber nur gefühlt.

Niklas war einfach nur behindert im Kopf. Er hatte am meisten Kraft von uns allen und wollte sich immer bewegen, als ob er dauerhaft auf Speed wär. Deswegen war er meistens draußen und fuhr mit seinem Quad gegen Bäume oder maulte sich mit seinem BMX. Niklas hatte die große Gabe, sich immer abzufüllen, wenn wir irgendwo feiern waren oder sonst Alkohol dabei hatten. Selbst wenn es nur eine Flasche Sekt war. Er musste sie auf Ex trinken und danach kotzen. Das Nervige an ihm war, dass er, wenn er betrunken wurde, immer Ärger suchte. Ständig wollte er jemandem wegen irgendwas aufs Maul hauen, ob er´s sich ausgedacht hatte oder nicht. Auch so konnte man ihn nie alleine lassen, ohne dass er mit jemandem Stress anfing, aber das fiel uns irgendwann gar nicht mehr auf. Trotzdem war er nie der Schlägertyp. Er schaffte es nur immer wieder, andere so lang zu provozieren, bis sie die Schnauze voll hatten. Nur leider war Niklas besser im Boxen als sie … Ich mochte Niklas.

Bei Tim dachten wir immer, er sei schwul, dabei hatte er sich einfach nur schwul verhalten. Großer Unterschied. Das war nicht mal böse gemeint. Er sah halt einfach weiblicher aus als wir und war nicht so schwanzgesteuert. Im Nachhinein hieß es nur, dass er sich nicht zum Affen machen oder gefühllos rüberkommen musste, um stark zu sein. Tatsächlich hatten wir ihn dafür ab und zu fertiggemacht. Fertiggemacht ist vielleicht etwas übertrieben, aber er musste sich oft irgendwelche dumme Sprüche von uns dafür anhören, kein Macho zu sein. Nach Dastyn konnte ich mich am besten mit ihm verstehen. Das lag wahrscheinlich daran, dass man mit Niklas über nichts höheres als den Auspuff seiner Maschine reden konnte.

Tim hat auch gemalt. Ich weiß nicht, ob es daran lag, aber er begriff, dass sich das Leben nicht nur auf Essen, Schlafen und Sex reduzierte. Ihn langweilten solche Fragen nach dem Bösen in der Welt nicht. Mit Niklas hätte ich nie darüber sprechen können. Jedenfalls denk ich das … Ich glaub, mit fünfzehn sind Tim und ich das erste Mal nachts rausgegangen und haben angefangen, die Stadt vollzusprayen. Neben irgendwelchen kleinen Bildern haben wir auch oft Botschaften hinterlassen. Alles, was uns so durch den Kopf ging. Den Tag schön trinken, oder: Anarchy for President. Es hat Spaß gemacht, einmal auf eine andere Weise die Stadt zu terrorisieren. Das trifft es tatsächlich ganz gut, denn statt als der nächste Bansky gefeiert zu werden, wurden wir nur zur Lokalgröße. Geschoben hat man es auf die Ausländer.

Neben meinen Jungs gab es noch eine wichtige Person in meinem Leben. Emma. Sie war meine erste Freundin und ich liebte sie sehr. Wir haben uns das erste Mal auf dem Herbstfest kennengelernt. Wir vier und ein paar Freunde waren da. Die Mädels kamen von ganz allein. Darunter war auch sie. Es war irgendwie komisch, denn ich hatte eigentlich keine Ahnung, was ich tat, als ich mich an sie ranmachen wollte. Schließlich hatte ich damals noch keine Erfahrung darin, wie man jemanden für sich gewann. Ein Sex-Date klarmachen, ja. Aber ein richtiges Date mit Aussicht auf Beziehung? Das hieße ja, ich müsse meinen arroganten Arsch unter Kontrolle kriegen und mein ganzes bisheriges Verhalten überdenken. Aber für sie war mir jede Umstellung wert.

Das Herbstfest war im Prinzip nur ein Jahrmarkt mit Fressständen und Autoscootern, aber wie jedes Jahr gingen die Jungs und ich hin. An einem Burgerstand trafen wir dann ein paar Mädels, die Dastyn und Niklas kannten, also stellten wir uns zu ihnen. Doch unter ihnen war auch sie, Emma. Wir kamen etwas unbeholfen ins Gespräch und trennten uns irgendwann von den anderen. Ich schoss ihr eine Rose am Schießstand und auf dem Hügel mit dem Spielplatz hatte ich meinen ersten richtigen Kuss aus Liebe und nicht aus Bedürfnissen. Es war ein echt schöner Abend. Damals müssen wir sechzehn gewesen sein.“

Kurz denk ich noch an sie und den Abend und frage mich, ob ich so was Schönes je wieder erleben werde. „Emma war das beeindruckendste Mädchen, das ich je gesehen hab“, sage ich dann.

Er sitzt die ganze Zeit stumm neben mir und starrt in die Dunkelheit.

„Für mich war sie alles. Wunderschön, süß und verdammt schlau. Fast nur Einsen auf dem Zeugnis. Das hieß aber nicht, dass sie lernte. Em wusste einfach, wie man sich bei Lehrern beliebt machte. Wenn sie bei mir war, kuschelte sie sich auf der Couch an mich. Wenn wir einschliefen, deckte sie mich zu und küsste mich morgens wach. Die Zeit mit ihr war wirklich die schönste, die ich je erlebt hab. Em wusste, wie man mich zum Lachen brachte und wie man mit mir umging, wenn ich schlecht drauf war. Und ich hab das alles weggeworfen … Ich hatte schon lange gemerkt, dass sie irgendwas bedrückte. Sie wollte es nur nie zugeben. Em war in diesem Punkt so verschlossen wie ich, aber sie sprach mit mir. Auf ihre Weise. Ich merkte es nur nicht. Lange Zeit verdrängte ich, dass die Zeichen für uns wirklich so schlecht standen. Ich weiß nicht, was mit mir los war. Ich wusste, dass sie darüber nachdachte, die Beziehung zu beenden, aber ich war mir einfach zu sicher und redete mir ein, es wär alles gut zwischen uns … Bis sie auf einmal nicht mehr an meiner Seite lag und ich sie verloren hatte … Sie hat meine Bilder nie verstanden.“

Mein Mund fühlt sich trocken an. Es ist, als ob mein ganzer Körper sich sträuben würde. Doch das ist mir egal. Ich zwinge mich, nicht an Em zu denken, und rede weiter, um mich davon abzulenken. „Ich denk, ich hab sie geliebt. Es ist komisch, das von einem Jahr Beziehung zu behaupten. Aber es ist eine lange Zeit. Und es ist noch mehr Zeit, wenn man darüber nachdenkt. Ich war so glücklich, als wir uns auf dem Hügel am Spielplatz küssten … Unser zweites Date in einem Restaurant. Sie war die Erste, die es nicht komisch fand, dass ich kein Fleisch esse. Auch wenn sie versucht hat, es mir immer wieder anzudrehen.“

Meine Augen werden feucht. Ich unterdrücke es. Ich kann darüber einfach nicht mehr nachdenken. Es geht nicht. Emma war alles für mich und ich hab sie einfach fallengelassen … Der Gedanke an sie schmerzt jedes Mal, aber ich kann nicht nur an der Vergangenheit hängen. Ich muss mich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Am besten, ich wechsle das Thema, überlege ich. Wir werden nachher oft genug auf sie zu sprechen kommen …

„Mit zehn Jahren fingen wir an zu skaten. Also, Dastyn, Niklas, Tim und ich. Dastyn versuchte es zumindest. Wir liebten es und seitdem waren wir nur noch im Skatepark. Wir verbrachten ganze Sommer da, lernten Tricks, erzählten dummes Zeug und brachen uns Knochen. Es war toll. Der Skatepark war eigentlich nur ein öffentlicher Platz, an dem man ein paar Pipes aufgestellt hatte. Aber es war das Beste, das wir in dieser miesen Stadt kriegen konnten. Oft saßen wir oben auf der Halfpipe, umringt von Bäumen und sahen dem Sonnenuntergang entgegen. Da oben war man vor allem geschützt, nichts konnte einem etwas antun. Geschützt vor der Stadt, den Menschen, Verpflichtungen. Es war nur eine Art Spielplatz, aber er gehörte uns. Man sah über Felder voll hohem Gras, Apfelbäumen, die im Frühling blühten, bis irgendwann entfernt Bahnschienen kamen. Dahinter nichts außer ein paar Häusern, Wald und dem Horizont. Es war der perfekte Ort, um runterzukommen.

Zu Hause hab ich drei Boards, ein altes Longboard, das Staub fängt, ein neues, das ich momentan benutze, und einen Cruiser. Dann natürlich noch allen möglichen Scheiß. Trucks, Wheels, Pads. Keine Ahnung, wo ich das Geld dafür her hatte, aber meine Ma gab mir oft was dazu. Sie ist echt toll. Die Anderen waren da aber auch nicht besser. Wir waren danach verrückt, uns die Beine zu brechen. Was auch oft genug geschah. Früher hatten wir immer unsere Gameboys mit auf Touren genommen und waren raus aus der Stadt gefahren. Meistens lagen wir dann an einem See oder kletterten auf Bäume, während wir gegeneinander auf den Dingern kämpften.

Seit Jahren fahre ich immer mit dem Board zur Schule. Man könnte schon sagen, Skaten ist ein Teil meines Lebens. Genau wie die Kunst. Ich weiß nicht, wann ich angefangen hab zu zeichnen. Aber irgendwann fand ich mehr und mehr Gefallen daran. Bis jetzt konnte ich leider noch nichts verkaufen. Wenn ich das überhaupt mal schaffen sollte. Meine Ma sagt zwar immer, wie stolz sie auf mich ist und dass sie alles fürchterlich schön findet, was ich male, aber richtig befriedigen tut es mich nicht. Denn immerhin glaube ich, dass sie auch nicht weiß, was ich mit meinen Bildern ausdrücken will. Für sie ist es eben nur schön. So gesehen, bedeuten ihre Worte nichts. Aber bis jetzt war ich da immer ziemlich auf mich gestellt. Meinen Freunden und auch ihr fehlt jeglicher Blick für Kunst – abgesehen von Tim. Das, was etwas Dahingekritzteltes von einem Meisterwerk unterscheidet. Obwohl die sich gar nicht unterscheiden müssen. Das ist der Blick, den man dafür haben muss. Kunst hat so viel mehr zu bieten als nur hübsch zu sein oder etwas, das man sich hinhängt, um es zu haben. Aber sie verschließen sich davor … Sie wollten mir alle helfen, aber sie konnten es nicht, weil sie nichts davon verstehen. Dann wüssten sie nämlich, dass ich nur ein Karikaturist auf einer Promenade bin. Ich weiß ja selbst nicht mal, ob ich davon was verstehe. Ich wünschte, dass irgendwann mal jemand kommen würde, der mich versteht. Mit dem ich richtig reden könnte. Aber … “

Ich stocke und überlege kurze. Einen Augenblick lang, in dem ich an ihn denke, lächle ich sogar, dann fahre ich fort: „Tatsächlich gab es da mal jemanden …“

Nachdenklich schaue ich eine Weile auf den Boden. Ich bin mittendrin. Jetzt kann ich nicht mehr umdrehen.

Ein letztes Mal sehe ich ihn an. Ich weiß, dass er mir beisteht. Obwohl so viel schiefgelaufen ist. Es tut mir leid, dass ich ihn umgebracht hab. Und auch das, was später passiert ist. Meine Worte werden ihn zwar nicht wieder zurückholen, aber … Ach, scheiß drauf.

 

Szene 1.2

 

Luca traf ich zum ersten Mal bei der Probe des Weihnachtskonzerts. Ich kannte ihn schon vorher etwas durchs Zocken. Er war sogar gar nicht mal so schlecht. Ich weiß nicht mehr so genau, wie es dazu kam. Das Einzige, was ich sicher weiß, ist, dass wir einmal zufällig in einem Team waren. Damals war unser Team so schlecht, dass wir ständig verloren, was mich richtig wütend gemacht hatte. Luca war der Einzige, mit dem ich die Missionen erfüllen konnte, weil er wenigstens nicht ganz so schlecht war wie der Rest meines Teams, also hab ich mich mit ihm die ganze Zeit über die anderen lustig gemacht. So kamen wir ins Gespräch. Ich erfuhr, dass wir auf dieselbe Schule gingen und er, dass ich der geilste Typ mit dem längsten Schwanz in der Stadt war. Und irgendwie hatte ihn meine Art nicht verschreckt.

Zuerst unterhielten wir uns nur ganz normal übers Zocken, später dann auch über Schule oder Alltägliches. Aber nie über Relevantes oder Wichtiges. Schließlich kannten wir uns nicht und ich war anderen gegenüber generell misstrauisch. Und ehrlich gesagt, wollte ich auch nicht mit ihm befreundet sein oder mit ihm über meine Probleme sprechen. Wir waren nur zwei Typen, die miteinander zockten. Mehr nicht. Viel mehr wusste ich über ihn auch nicht, außer, dass er ein paar Klassen unter mir ging. Für mich war er der, den ich fragte, wenn sonst keiner Zeit hatte. Und nichts weiter. Ich konnte ja nicht ahnen, dass sich daraus mehr entwickeln sollte.

Am Tag, an dem die Probe fürs Weihnachtskonzert war, ging ich schon relativ früh zur Schule, weil ich mich mit meiner Ma gestritten hatte. Worum es überhaupt ging, weiß ich nicht mehr. Über irgendwas Belangloses jedenfalls. Es reichte immerhin dafür aus, dass ich keine Lust mehr hatte, zu Hause bei ihr zu bleiben, und einfach losgefahren war. Die Probe war abends nach dem Unterricht, sodass es wenigstens nicht ganz so kalt draußen war. Trotzdem brauchte ich Handschuhe und eine Mütze. Der Fahrtwind riss tiefe Furchen in mein Gesicht. Schon lange wollte ich mir eine Ski-Maske kaufen, aber ich war chronisch pleite.

Da es noch relativ früh war, saß ich auf dem Geländer an der Schule und wartete darauf, dass einer meiner Jungs kommen würde, aber anscheinend war ich der Einzige, der pünktlich eine halbe Stunde vorher erschienen war. Aus Langeweile sah ich mich um. Nichts hatte sich verändert, aber ich konnte die Leute beobachten, die im Laden nebenan einkauften. Hauptsächlich Asoziale aus den Blöcken. Deshalb war der Verkaufsschlager des Ladens auch Bier und Kippen. Nach fünf Minuten kamen sie wieder mit vollen Kästen raus. Und das neben einer Schule. Mich ging ihr Leben eigentlich nichts an, aber an dem Tag war mir so langweilig, dass ich mich mit irgendwas beschäftigen musste. Und was gab es besseres, als Menschen von oben herab zu behandeln? Aber eigentlich war es nicht mein Ding, sondern ihres, also starrte ich aufs Handy und scrollte meinen Insta-Feed durch.

Ich überlegte gerade, mir mein Board zu schnappen und noch etwas ziellos durch die Stadt zu cruisen. Doch irgendein Spast kam auf direktem Wege auf mich zu und hielt mich davon ab.

„Hey“, sprach mich jemand auf einmal mit einer quietschigen Stimme an, während ich noch auf mein Handy starrte.

Ich schaute hoch und sah einen kleinen Jungen mit Rucksack vor mir, den ich eindeutig nicht kannte. Allein schon des Alters wegen.

„Hey, ähm … kennen wir uns?“, fragte ich ihn mies gelaunt.

„Ja, klar kennen wir uns“, sagte er und lachte dabei. „Ich bin´s. Luca!“

„Wer?“, hakte ich noch mal nach. Ich kannte keinen Luca, und schon recht nicht jemanden, der noch bei Mutti im Bett schlief. Ich gab mich nämlich nicht mit Jüngeren ab.

„Wir kennen uns vom Zocken“, versuchte er mir erneut klarzumachen.

Ich hatte keine Ahnung, wer er war, aber irgendwann machte es dann doch Klick. Es war dieser komische Junge, mit dem ich immer gezockt hatte, wenn niemand sonst Zeit hatte. Ich hatte nie daran gedacht, dass ich ihn mal im Reallife sehen würde.

„Ah, hi, Luca. Sorry, hab dich gar nicht erkannt“, meinte ich scheinheilig, während ich im Kopf die Möglichkeiten durchging, woher er mein Gesicht kannte. Mir fiel ein, dass er mir wahrscheinlich auf Insta folgte und daher wusste, wie ich aussah. Trotzdem war es komisch, ihm auf einmal im echten Leben zu begegnen.

„Nicht schlimm“, sagte er lachend. „Ich habe dich auch nur an deinem Board erkannt.“

„An meinem Board?“ Ich sah es mir noch mal an, konnte aber nichts feststellen, das auf mich gedeutet hätte.

„Ja, das eine Mal, als wir zusammen gespielt haben, hast du es mir mal beschrieben. Und du meintest auch, dass du es selbst angemalt hast. Deswegen sieht es auch nicht wie ein verarbeitetes aus.“

„Fuck, stimmt.“ Ich strich mir mit der Hand übers Gesicht. „Sorry, ich bin heute etwas fertig.“

„Nicht schlimm. Das passiert jedem mal“, erwiderte er, als wär es das Normalste auf der Welt.

Mein Board war auf der Rückseite schwarz und hatte hellblaue Muster darauf, die die Form einer Blüte bildeten, ganz wie ein Mandala. Es war mein ganzer Stolz. Ich musste ihm mal ein Foto geschickt haben. Daran hatte er mich also erkannt.

„Ja, ähm, warum bist du eigentlich hier? Wir haben doch gar keine Schule mehr“, wollte ich von ihm wissen. Es fühlte sich so komisch an, gerade ihn zu treffen, wenn ich noch nicht mal eine Ausrede hatte, um ihm aus dem Weg zu gehen. Mir waren das zu viel Zufälle auf einmal. Als hätte das Schicksal gewollt, dass ich ihn traf. Doch genau dafür war ich nach dem Streit mit meiner Mutter überhaupt nicht bereit.

„Oh, ich bin wegen des Weihnachtskonzerts hier“, sagte er freudestrahlend.

Ich fand seine Art zum Kotzen. Sie passte nicht in mein pessimistisches Weltschema. Seit wann durften Menschen fröhlich sein?

„Ah, spielst du was?“, fragte ich ihn und bereute meine Frage gleich wieder.

„Ja, ich kann Klavier spielen. Herr Criceto hat uns gefragt, ob noch jemand was fürs Konzert machen könnte. Immerhin ist es ja für die Schule und so. Und warum bist du hier?“

„Ich darf heute singen,“ sagte ich voller Begeisterung. „Der vorletzte Jahrgang singt immer auf dem Weihnachtskonzert, um Geld für die Abi-Kasse zu sammeln. Und leider muss ich da mitmachen, weil er mich sonst durchfallen lässt.“

In der Elften gab es viel fürs nächste Jahr zu organisieren, da wir – hoffentlich – unseren Abschluss machen würden. Neben dem Veranstaltungsort musste auch das Catering, das Fotoshooting, die Party und Sonstiges finanziert werden. Nebenbei mussten wir auch noch die Mottowoche und die Abi-Zeitung organisieren. Und für all das brauchte man Geld. Deswegen war es bei uns an der Schule Tradition, dass wir vor Weihnachten ein Konzert gaben, dessen Gewinn in unsere Kasse einfloss.

„Dann werde ich nur auf dich achten, wenn ihr singt“, sagte er irgendwie unschuldig.

Ich glaub, er wollte, dass es süß klang. Macht das die heutige Generation, fragte ich mich. „Wie du meinst“, entgegnete ich ihm trocken.

Ich nahm meinen Cruiser und war drauf und dran loszufahren, weil ich mich nicht länger mit ihm unterhalten wollte. Aber der Junge ließ einfach nicht locker.

„Ist das ein Longboard?“, fragte er mich mit großen Augen und deutete auf das Board, das am Geländer gelehnt war.

„Nein, ein Cruiser. Die sind kürzer als Longboards. Damit fährt man weite Strecken. Kennst du dich etwa damit aus?“, fragte ich ihn skeptisch.

„Nein, aber ich hab ein Longboard zu Hause, das ich zum Geburtstag bekommen habe. Damit fahre ich relativ viel, aber momentan ist es mir noch zu kalt und ich bin auch nicht wirklich gut, was Tricks und so angeht.“

„Du musst ja auch nicht unbedingt Tricks können“, entgegnete ich besserwisserisch. „Aber ich könnte dir ein bisschen was beibringen, wenn du willst. Ich bin relativ gut darin“, ließ ich ihn angeberisch wissen und machte provokant einen Ollie vor seinen Augen, als wär es das Einfachste auf der Welt … War´s auch.

„Wow, das wäre echt cool! Ich würde wirklich gern auch mal so etwas können!“ Seine Augen leuchteten. Er muss wirklich von mir beeindruckt gewesen sein.

„Klar, sag mir einfach, wann und wo und ich bin da.“

So viel Großherzigkeit an einem Tag war ich eigentlich nicht gewohnt. Und schon gar nicht einem Fremden gegenüber. So richtig weiß ich auch gar nicht mehr, warum ich ihm das angeboten hatte. Irgendwas an ihm gab mir ein gutes Gefühl. Vielleicht wollte ich auch einfach noch mehr Lob und Anerkennung hören. Oder ich wollte schon immer mal jemandem was beibringen. Auf jeden Fall war da etwas an ihm, das ihn vertrauenswürdig erscheinen ließ. Zumindest etwas.

„Ja, gern“, antwortete er. ,,Kann ich deinen Cruiser vielleicht mal ausprobieren?“

„Tu dir keinen Zwang an“, entgegnete ich großzügig, „aber lass ihn heile!“

 

„Was war denn da mit dir los? Du hast ihn sogar auf dein Board gelassen?“

„Ich weiß auch nicht, warum ich gedacht hab, das sei eine gute Idee, aber irgendwie hab ich ihm vertraut.“

„Dass ich das von dir mal hören würde.“

„Du kannst froh sein, dass ich dich überhaupt erwähnt hab.“

 

Genau weiß ich nicht, was ich in ihm sah, aber er hatte irgendwas an sich. Vielleicht war er wirklich wie eine Art kleiner Bruder für mich. Oder ich hatte an dem Tag einfach sozialen Kontakt vermisst. Egal, was es war. Auf mein Board darf nicht jeder. Das steht fest.

Luca stieg auf und fuhr ein bisschen auf dem geteerten Boden rum.

„Warum bist du eigentlich schon so früh da?“, fragte ich ihn dann doch. Es war immerhin noch eine halbe Stunde Zeit, bis die Probe offiziell losging. Normalerweise reichten fünf Minuten vorher locker aus. Auch wenn Herr Criceto davon immer genervt war, wenn man kurz vor Beginn in seinen Unterricht trudelte.

„Das bin ich immer. Ist so ein Tick von mir“, antwortete er konzentriert. „Ich hasse es, zu spät zu kommen, deswegen bin ich immer mindestens zwanzig Minuten vorher da. Aber lieber eine Stunde zu früh als eine Minute zu spät.“

Er fuhr ein paar Mal im Kreis und schaute dabei permanent auf den Boden. Es sah gar nicht schlecht aus, wie er fuhr. Es war nur ungewohnt, jemandem dabei zuzusehen, wie er meinen Cruiser benutzte.