Christoph Rohowski: Kennen wir uns nicht?/Leseprobe

Kennen wir uns nicht?

Danke, dass Sie der Frage nachgehen.

Das charakterisiert Sie schon mal

als aufgeschlossenen Menschen.

Zumindest wäre es Ihnen peinlich,

einen alten Bekannten nicht zu erkennen.

Denn natürlich kennen wir uns.

Ich bin ein Teil von Ihnen.

Die längste Bekanntschaft Ihres Lebens.

Nur haben wir eben noch nie

miteinander gesprochen.

Dabei haben wir sehr oft miteinander zu tun.

In der Regel mehrmals am Tag.

Ja, meistens nur Kleinkram, nichts besonderes.

Aber an einige Momente werden Sie sich bestimmt erinnern.

Zum Beispiel, als Sie Ihren Klassenstar

zum Tanzen aufgefordert haben.

Wie oft hatten Sie das schon gewollt?

Aber nie haben Sie sich getraut.

Die Angst vor einem Korb

– ich habe Sie da durchgeboxt.

Sehen Sie, und schon ist auch das wunderbare Gefühl von damals wieder da.

Also das nach der erfolgreichen Tanzrunde.

Sie waren so stolz auf sich.

Und alle anderen waren neidisch.

Gibt es ein schöneres Gefühl auf der Welt?

Gut, da war viel pubertärer Habitus dabei.

Ich war ja auch mal jung.

Zusammen mit Ihnen.

Wir sind eben beidseitig abhängig

von unserem jeweiligen Entwicklungsstand.

Ich kann keine Wunder vollbringen

– ich kann nur Ihr Potenzial ausschöpfen.

Im besten Fall bin ich Ihnen immer ein Stück voraus.

Sie könnten sich aber auch

von mir gehemmt fühlen

– wenn ich zurückgeblieben wäre.

Offenbar gehören Sie zu den Menschen,

die mich überhaupt wahrnehmen.

Das ist schon mal sehr gut.

Welchen Status haben wir beide erreicht?

Wollen wir darüber reden?

Schön –

Sie haben sich entschlossen,

das Angebot anzunehmen.

Aber Sie wollen natürlich als Erstes wissen,

mit wem Sie es zu tun haben.

Das kann ich verstehen.

Ich kenne Sie in- und auswendig,

während Sie meine Existenz nur erahnen.

Gern würde ich mich vorstellen

– wenn ich einen eigenen Namen hätte.

Ich bin leider zu komplex für einen Begriff.

Aber Sie werden, ganz, ganz sicher,

einen Namen für mich finden.

Denn Sie haben sich ein Bild

von der Welt gemacht.

Und die benennt jede Einzelheit.

Auch mich. Es ist ja nicht so,

dass man nicht wüsste, dass es mich gibt

Aber je undeutlicher die Vorstellung,

desto mannigfaltiger die Begriffe.

Sie reichen von Unterbewusstsein

bis Über-Ich

– multipliziert mit Tausenden Theorien.

Das ist eben eine andere Dimension.

Jeder Begriff oder Name ist eine Abstraktion

vom Ursprünglichen.

Folglich geht dadurch immer etwas verloren

oder wird uminterpretiert.

Das ist kein Vorwurf.

Ohne Verkürzung

käme nichts Praktisches zustande.

Aber einen Namen für mich

gibt das nicht her.

Zumal ich bei jedem Menschen anders ausfalle, der wiederum einzigartig ist.