Daniel Büttrich: Dornenkrone, Lorbeerkranz/Leseprobe

Graf Dracula erfindet sich neu

 

Workshops waren eines meiner Hobbys. Für mich war die Teilnahme an ihnen eine Chance, interessante Menschen kennenzulernen und neue Ideen zu gewinnen. Workshops für Autoren, Workshops für Yoga, Workshops für Whisky-Tasting, Workshops für Hobbygärtner, Workshop Astronomie und Kosmologie, Workshop Allgemeine Relativitätstheorie. Ich ver-diente seinerzeit meinen Lebensunterhalt als Schriftsteller. Workshops boten mir die Chance, die menschliche Komödie, die gelegentlich ins Tragische übergeht, ideal zu studieren.

 

Eines Tages besuchte ich den Workshop ´Sich neu erfinden in der Mitte des Lebens – Design your life!´

Ich erwartete, Teilnehmern in meinem Alter zu begegnen: Zwischen Mitte 40- und Mitte 50-jährige Menschen auf der Suche nach Impulsen für ihr von Ritualen und Gewohnheiten träge gewordenes Leben. Doch erstaunt stellte ich fest, dass die meisten Teilnehmer entweder zwischen 20 und 30 Jahre, oder um die 70 Jahre alt waren. Waren die jungen Teilnehmer derartig pessimistisch, angesichts des Klimawandels und anderer globaler Katastrophen, dass sie mit einer Lebenserwartung von maximal 60 Jahren rechneten? Und waren die Alten so fit und zuversichtlich, dass sie glaubten, ein biblisches Alter weit jenseits der 100 erreichen zu können? Mitte des Lebens, das hieß für mich unter normalen Umständen, sich in einem Alter zwischen 40 und 50 zu befinden. So wie ich. Ich fand schließlich eine plausible Erklärung: Es musste sich um Studenten und Rentner handeln, die mit ihrer freien Zeit nichts Sinnvolleres anzufangen wussten.

 

Mein Sitznachbar kam mir von Beginn an bekannt vor.

„Sind Sie Schauspieler?“, fragte ich ihn.

„Nein, ich bin arbeitslos“, antwortete er.

Der Kursleiter war ein neoliberaler Hyper-Optimist, der mich an die Duracell-Hasen aus der Werbung erinnerte. Bereits seine Vorstellung ging mir auf die Nerven. Er schwadronierte davon, sich selbst im Leben unzählige Male neu erfunden zu haben. Nach einem BWL-Studium war er als Investmentbanker ins Berufsleben eingestiegen. Dann hatte er eine Hundert-achtzig-Grad-Wende eingeschlagen, indem er Sozial-pädagogik studierte. Den Beruf als Sozialarbeiter schmiss er nach ein paar Monaten, um als Aussteiger für zwei Jahre nach Indien zu gehen. Nachdem er wieder zurückgekehrt war, schlug er sich zunächst als Tankstellenmitarbeiter durch, eröffnete irgendwann einen kleinen Zeitungskiosk, der jedoch bald wieder schließen musste. Er ließ sich in einem Tantra-massagestudio ausbilden, um für ein Jahr als Tantramasseur seine Dienste anzubieten. Als er dabei bemerkte, wie gut er verwitweten Frauen bei der Verarbeitung ihres Verlusts helfen konnte, wurde er selbstständiger Trauerbegleiter. Und nun stand er vor mir als Workshop- und Seminarleiter. „Ich bin nebenher auch Glücksforscher“, fügte er hinzu.

Für den Paukenschlag des Morgens sorgte aber mein Sitznachbar. Um die eigene Stimmung zu illustrieren, sollte jeder nach dem Fangen eines Hacky Sacks, den sich die im Kreis sitzenden Teilnehmer zuwarfen, am Flipchart ein Smiley-Gesicht malen. Mein Sitznachbar bekam den Ball an den Kopf geschmissen. Nachdem er nicht reagierte, hob jemand den Ball auf und warf erneut. Wieder gegen seinen Kopf! Auch dieses Mal erfolgte keine Reaktion.

Was für ein komischer Kauz, dachte ich.

Als ich meinem Sitznachbarn behutsam mit dem Finger auf die Schulter tippte, erschrak er. „Ich treibe in einem Meer der Verwunderung.1 Ich war in Gedankenstarre. Der Kreislauf, wissen Sie. Ich bin ein wenig blutleer, entschuldigen Sie. Wo bin ich? Was muss ich tun?“

„Sie befinden sich in einem Workshop. Und Sie werden zum Einstieg gebeten, Ihre Stimmung auf das Flipchart zu zeichnen“, antwortete ich.

Daraufhin malte er einen leicht lächelnden Smiley mit roten Tropfen an den Mundrändern auf das Flip-chart.

„Aha“, sprach der Kursleiter. „Sehr ausdrucksstark! Sehr vielschichtig! Das ist ja geradezu tiefenpsycho-logisch. Sie weinen aus dem Mund. Eine starke Metapher!“

„Nein, das sind Blutstropfen!“, meinte der Sitz-nachbar.

„Blutstropfen. Hahahaha! Guter Joke. Sie dürfen mitlachen, meine Damen und Herren! Graf Dracula zum Morgenkaffee, als Muntermacher, nicht wahr? Sie Komödiant.“

„Ich bin Graf Dracula! Und ich bin fast 500 Jahre alt. Ich bin hier, um neue Stimulationen für mein weiteres Leben zu erhalten. Es werden ja vielleicht weitere 500 Jahre sein, die ich auf der Erde verbringen werde“, erwiderte Graf Dracula.

Die Teilnehmerinnen des Workshops verließen augenblicklich ihre angestammten Plätze und stellten ihre Stühle an die äußersten Ränder des Seminarraums. Eine Teilnehmerin sprang sogar vor Schreck aus dem Fenster. Da der Kursraum sich im ersten Stock befand, blieb sie unverletzt.

„Meine Damen!“, rief Graf Dracula. „Ich bitte Sie, Ihr Entsetzen ist unbegründet und beruht auf einem großen Missverständnis. Schuld hat hauptsächlich Christopher Lee. Seine Darstellung als Dracula in sieben Filmen der Hammer Studios hat meinem Ruf extrem geschadet. Blutsauger, Frauenverschwender, Sexist, mit dem Teufel im Bunde. So einer soll ich angeblich sein. Das trifft alles nicht zu! Nicht im Geringsten! Es trifft nicht zu! Nicht mehr! Ich gebe zu, in den ersten Hundert Jahren meines Lebens einige Fehler gemacht und Dinge getan zu haben, die moralisch verwerflich sind. Ich habe damals – mein Gott, ist das lange her – die eine oder andere junge Frau auf mein Schloss mitgenommen. Warum? Nicht, um sie zu vergewaltigen und auszusaugen, sondern da ich mit Einsamkeit zu kämpfen hatte, in diesem riesigen, leeren und grauenhaft öden Gebäude! Diese Frauen sind freiwillig mit mir gegangen. Oft kamen sie aus ärmlichen Verhältnissen. Der Weg ins Schloss war für sie eine berufliche und intellektuelle Aufstiegs-möglichkeit. Sie wurden von mir gut behandelt und in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gefördert. Alle Frauen! Ohne Ausnahmen! Ich bin ein Gentleman der alten Schule. Ich habe ihnen jeden Wunsch von den Lippen abgelesen. Ich gehorchte ihnen, nicht sie mir! Sämtliche sexuellen Handlungen, die sich freilich auch gelegentlich ereigneten, beruhten auf Freiwilligkeit. Wollten die Frauen wieder gehen, durften sie das Schloss umgehend verlassen. Freiheitsberaubung? Nicht bei mir! Ich habe die Frauen außerdem nicht aktiv angerührt. Es sei denn, sie bestanden darauf. Wenn eine mehr von mir wollte als ein bisschen Küssen und Schmusen? In Ordnung. Ich tat es. Und wenn eine der Frauen unbedingt Vampirin werden wollte, wenn sie darum bettelte, gebissen zu werden, habe ich ihr ausnahmsweise Blut abgesaugt. Hin und wieder kamen zum Beispiel ausländische Touristinnen vorbei, die in mich verliebt waren, ungefähr auf dieselbe Weise, wie junge Frauen heutzutage in Popstars verliebt sind. Sie sagten: If you want blood, I `ll give you some. Damit ließen sie mir keine Wahl. Das waren jedoch ganz seltene Einzelfälle. Tatsächlich habe ich mich in den vergangenen 200 Jahren von Insekten ernährt. Ich habe mich gewissermaßen nachhaltig ernährt. Ich war schon früh meiner Zeit voraus. Unter dem Strich: Ich bin ein bescheidener, anspruchsloser Graf Dracula geworden. Schon lange verfüge ich über kein Schloss mehr. Ich lebe im Sozialen Wohnungsbau und erhalte Hartz IV. Kein Schloss, keine Beziehungen. Nur Insekten! Vor der staatlichen Stütze habe ich beruflich einiges probiert in meinem langen Leben: Kellner im Weinsalon, Mitarbeiter im Callcenter, Pflegehelfer, Hundesitter. Keiner dieser Gelegenheitsjobs war von langer Dauer. Jetzt wünsche ich mir einen sinnvollen Beruf in Festanstellung. Und mehr menschliche Kontakte gegen die Einsamkeit. Deswegen bin ich hier in diesem Workshop. Und noch etwas: Wenn Sie mich nach dem Satan fragen, weil sie mich verdächtigen, ein falsches Spiel zu spielen und in Wahrheit weiterhin mit dem Beelzebub unter einer Decke zu stecken, dann sage ich Ihnen freimütig: Ich bin zum orthodoxen Christentum konvertiert. Kein Scherz! Ich zeige Ihnen im Zweifel gerne das behördliche Dokument. Wie das kam? Nachdem der Satan immer aufdringlicher missioniert und mich zu bestimmten Ritualen gezwungen hatte, schmiss ich ihn kurzerhand aus meinem Schloss in Transsylvanien. Lebenslängliches Hausverbot! Seitdem habe ich nie mehr von ihm gehört. Das ist ewig her.“

Applaus brandete auf. Was für eine erfrischende Rede! Ich war begeistert von diesem Mann.

1Zitat von Bram Stoker

 

 

Der Geier

 

Sein Spiel war brutal. Er spielte kontrolliert defensiv, makellos und wartete auf einen Fehler seines Gegen-übers. Sobald das geschah, legte er dem Gegner, metaphorisch gesprochen, die Schlinge um den Hals und zog fest zu. Den langsamen Tod durch Ersticken zelebrierte er genüsslich. Den vor sich liegenden Kadaver des Gegners auf dem Spielbrett weidete er hingabevoll aus, labte sich an den Innereien, bis der Konkurrent die weiße Fahne schwenkte und aufgab oder Schachmatt gesetzt wurde. Seine Spielweise trug ihm rasch in Spielerkreisen den Spitznamen ´Der Geier´ ein.

Begeistert verschlang ich die Analysen seiner Schachspiele in den Fachzeitschriften. Kometenhaft war der ´Geier´ in kürzester Zeit in die Weltspitze des Schachs aufgestiegen und zu einer ernsthaften Gefahr für Magnus Carlsen geworden. Urplötzlich jedoch verschwand der von Statur her kleine Südfranzose eines Tages von der Bildoberfläche der Schachszene. Auf der Suche nach den Gründen für sein Verschwinden recherchierte ich fieberhaft. Ich befürchtete zeitweise sogar, dass der ´Geier´ sich das Leben genommen haben könnte, und googelte, glücklicherweise erfolglos, nach einer Todesnachricht.

Irgendwann, als ich mich nur noch gelegentlich durch die Retrospektive seiner alten Schachpartien an den ´Geier´ erinnerte, sah ich im Fernsehen eine Dokumentation über die französischen Pyrenäen. Interessiert verfolgte ich das Porträt eines Hirten, der durch die Produktion von Schafskäse den Lebens-unterhalt seiner Familie sicherstellte. Und auf einmal tauchte er auf: Der Geier! Der Sprecher der Dokumentation stellte ihn als Freund des Schafhirten vor, der vor langer Zeit professioneller Schachspieler gewesen sei und sich schließlich, aus Sehnsucht nach einem ehrlichen Leben in der Natur, für den Kauf eines Landhauses in den Pyrenäen entschieden habe. Dort betreibe er einen Handel mit Schafskäse, während seine Frau, eine Japanerin, ein kleines Gewerbe mit handwerklicher Kleinkunst führe. Außerdem habe der ´Geier´ in den Pyrenäen Brutplätze für die nicht zuletzt durch rigide und herzlose Verordnungen der Europäischen Union vom Aussterben bedrohten Bartgeier angelegt, zu denen er eine besondere Zuneigung und Verbundenheit spüre, wie er bei einem Glas Rotwein vor der Kamera bekannte. Mein Herz schlug höher vor Freude! Ich entschloss mich, meinen nächsten Urlaub in den französischen Pyrenäen zu machen. Unter Geiern!

 

(Ähnlichkeiten mit lebenden Personen, beispiels-weise mit dem französischen Gegenwartsschriftsteller Michel Houellebecq, sind beabsichtigt)

 

 

Populationskontrolle

 

Die Tötung von 30 Nasenbären in einem bekannten deutschen Zoo, die noch vor Jahren für einen medialen Aufschrei gesorgt hätte, war den Medien nun nicht einmal mehr eine Randnotiz wert. Man habe mit der Tötungsaktion einer Verordnung der Europäischen Union über die Prävention und das Management der Einbringung und Ausbreitung invasiver gebietsfremder Arten Folge leisten wollen, so der Zoodirektor. Er betonte, dass er die Verordnung sorgsam gelesen und selbstverständlich registriert habe, dass unter dem Begriff ´Management´ sowohl tödliche als auch nicht-tödliche Maßnahmen, die auf die Beseitigung, Populationskontrolle oder Eindämmung einer Population einer invasiven gebietsfremden Art abzielen, erlaubt seien. Er habe sich aufgrund der rasanten Vermehrungsrate der Nasenbären nach reiflicher und gewissenhafter Überlegung, sowie in enger Abstimmung mit seinem Mitarbeiterstab und den Behörden für die tödlichen Maßnahmen entschieden. Zudem sei im Ergebnis mehr Platz für einheimische Arten vorhanden. Der Zoodirektor wies darauf hin, dass mit dem Einschläfern der Nasenbären eine einfühlsame Methode des Tötens gewählt worden sei. Er sprach in diesem Zusammenhang von einem humanen Vorgehen.