Daniel Mylow: Wenn du mir folgst, werde ich dich töten/Leseprobe

Prolog

 

Es war im Januar 1984, an dem Abend eines ereignislosen Tages, als Ariels Mutter bei ihrer Rückkehr ein Baby in der Wiege vorfand, das nicht ihr eigenes war. Jemand, behauptete sie, hatte es mit ihrem leiblichen Kind vertauscht. Niemand glaubte ihr. Kurz darauf verschwand sie plötzlich.

Fortan glich das Leben im Haus einer Uhr, deren Zeiger stillstanden.  Der zurückgebliebene Vater und seine beiden Söhne waren aus der Zeit gefallen.

Im Herbst des gleichen Jahres starb Ariels Bruder, der vielleicht nie ein Bruder war, an einer Lungenentzündung. Das Fenster im Kinderzimmer hatte die ganze Nacht lang offen gestanden.

Obwohl nie geklärt werden konnte, wer für dieses Unglück verantwortlich war, blieb sein Vater der festen Überzeugung, dass er die alleinige Schuld trug. Am Tag verließ er das Arbeitszimmer nur noch, um zur Universität zu gehen, wo er Seminare für Literatur gab. Er begann zu trinken. Im Haus wurde es still und leer. Nur das Aupair-Mädchen und die Putzfrau hielten eine Welt aufrecht, die in ihrem Innern längst zerbrochen war.

Von Nacht zu Nacht dachte Ariel an den Tag, an dem seine Mutter ihre beiden Kinder verloren hatte. Von Nacht zu Nacht sah er sich in diesem letzten Winter seiner Kindheit oben unter dem Dach am Fenster sitzen. Obgleich er die feste Überzeugung, dass seine Mutter eines Tages zurückkehren würde, nie verlor, geschah nichts.

Der pastellfarbene Kelch des Morgens, der sich im Hinterland über Wälder und Wiesen legte, blieb eine reglose Einbildung. In den Abendschatten voll tintiger Luft blieb Ariels Wunsch ein leeres Versprechen. Niemand kam die Dorfstraße entlang. Niemand öffnete die Tür. Niemand setzte sich an den Küchentisch und nahm das alte Leben wieder auf. So, als wäre nichts geschehen. Vom Eis des Winters ummantelt, schienen seine Gedanken die Räume, in denen er sich bewegte, wie ein Gift zu zersetzen. So blieb ihm am Ende von allem, was er sah, immer nur ein Echo im Leeren, eine unheimliche Addition im Nullpunkt seines Fühlens.

 

 

 

 

 

 

 

 

I

 

Es gab einen Moment, bevor er erwachte, in dem die Stille um ihn herum gläsern wurde. Er war noch ein Teil der undurchdringlichen Finsternis, die ihn im Stollen zu jeder Tages- und Nachtzeit umgab. Das Licht war nicht mehr als ein silbernes Netz unter dem Schatten seiner Lider, nicht mehr als ein vages Versprechen. Aber unter ihm schloss sich das Gedächtnis der Dinge auf, wie er es sich in seiner Kindheit in den unzähligen Stunden des Wartens am Fenster bewahrt hatte. Seine Mutter war jetzt seit vierunddreißig Jahren verschwunden.

 

Es war Nacht und es regnete. Ariel hatte zwölf Stunden geschlafen.  Die vollkommene Dunkelheit seiner Umgebung hatte dazu geführt, dass sich sein Schlaf- und Wachrhythmus völlig umgestellt hatte. So wie das bei Menschen, die lange Zeit in Räumen ohne Licht lebten, der Fall war. Wenn er zwölf Stunden geschlafen hatte, blieb er vierundzwanzig Stunden wach.

Als er jetzt die Augen öffnete, sah er wie in einen schwarzen Brunnen. Vom Gedächtnis geführt, verschwand mit jedem Augenaufschlag ein Stück Finsternis. Die Umrisse der Stollenwände schälten sich aus dem Zwielicht. Die schmalen Regale mit den langen Reihen der Buchrücken. Ein Tisch und zwei alte Stühle. Der Schlafplatz für den Hund. Die Bettstatt aus glatt polierten weißen Birkenstämmen. Ein Spiegel. Eine Wand voll mit Fotografien. Er tastete nach dem Boden. Bald darauf spiegelte sich das fahle Licht einer Taschenlampe in der Stille.

Er nahm das Gewehr von der Wand. Den daneben an einem Haken hängenden Rucksack zog er sich über die Schulter. Ariel war auf dem Weg zu seinem ersten Mord.

Flaubert hob den Kopf und sah ihn an. Seine Hinterpfote zuckte in der Luft. Für einen Grand Blue de Gascogne war er fast etwas groß geraten. Auch der verräterische Rot-Ton in dem grauweißen Flaumgewölk seines Fells ließ auf eine eher zweifelhafte Herkunft schließen. Der Hund folgte ihm schwanzwedelnd durch labyrinthisch anmutende Gänge. Ein schwacher Luftzug drängte ihnen entgegen. Durch unsichtbare Spalten fielen Gitter aus staubigem Licht.

Ariel blieb vor einer Felswand stehen. Er horchte hinaus in den Regen. Flaubert winselte leise. Als Ariel den Zeigefinger an die Lippen legte, verstummte er.

Am Himmel, zwischen Wolkenfetzen, stand noch der Mond, bleichgemagert zum Rand einer Sichel. Regenfäden streuten in das Weiß. Vögel flatterten auf. Das elastische Schillern ihrer Flügel verschwand zwischen den Torbögen der Bäume.

Über ein großes Steinfeld stieg er den Waldhang hinauf. Nach wenigen Schritten hatte er einen kleinen Felsvorsprung erreicht. Er drehte sich um. Der Eingang des alten Erzstollens, den man im Zweiten Weltkrieg teilweise zum Bunker ausgebaut hatte, war weder von hier noch von einer anderen Seite zu sehen. Zudem galten die meisten Stollen im Hinterland als eingestürzt. Fast in allen Gemarkungen fand man verschüttete Stollen. Es gab Schürfstellen und vereinzelt auch noch Stollenmundlöcher.  Aber das war lange her. Seit dem achtzehnten Jahrhundert grub man im Hinterland nur noch vereinzelt nach Silber. Alle Bergwerke wurden aufgegeben. Die Schächte wurden verfüllt. Jedoch gab es viele Bauern, die Schürfscheine beantragt hatten. Mit dieser offiziellen Erlaubnis suchten sie auch im neunzehnten Jahrhundert noch nach Erz. Sein Vater hatte ihm Eingänge zu Stollen gezeigt, von denen heute kaum jemand wusste.

Es gab in absehbarer Nähe keine Wege. Nur das hohe Gestrüpp welkbrauner Sträucher ragte in die Luft. In der wie festgefrorenen Linie des Horizonts zeichnete sich erst in großer Ferne die Krümmung einer Straße ab.

Ariel legte den Kopf zurück. Flaubert tat es ihm gleich.   Er konnte die Wolken hören, fast wie es ihm sein Vater beigebracht hatte. Und sie in seinen Blicken fangen wie in einer Reuse, bis sie leise verklangen wie eine Melodie.

Bald war es Zeit. Der Hund spürte seine Anspannung. Er  blieb dicht an seiner Seite. Viele Stunden liefen sie durch das Unterholz. Birkenwäldchen wechselten mit Waldstücken, die aussahen wie verwilderte Gärten. Wasser kam zu Wasser in Zuflüssen, die sich aus der Tiefe der Walderde speisten. Umgestürzte Baumriesen, unter Efeudickicht dahindämmernd, bevor sie der Wald ganz bedecken würde, teilten den Wald in unsichtbare Parzellen auf. Er wunderte sich, dass es noch Orte gab, an denen etwas in Ruhe starb. Vielleicht war es auch nur so, dass die Menschen die Natur gar nicht beherrschten. Sie hatten sich nur an sie gewöhnt.

An einer halb entwurzelten Eiche blieb er stehen.

Es blieb nicht viel zu tun. Er schraubte das Zielfernrohr auf die Fassung. Vorsichtig setzte er das Gewehr in die Krümmung einer Astgabel. Der Hund legte sich zu seinen Füßen. Mit der Schnauze stupste er in geäderte Blätter. Es hatte aufgehört zu regnen. Der Wind wurde übermütig. Er trieb schwere dunkle Wolken vor sich her.  An ihren Rändern schimmerten sie. Ein Herbstmosaik aus Licht. Ariel zog den Kragen seiner Jacke bis hoch zu den Ohren.

 

Nirgendwo anders als hier hatte er Stunde auf Stunde mit seinem Vater hinter den Baumstämmen gesessen. Von Zweigen verborgen sahen sie zu, wie der Morgen heraufkam. Ein wandernder Riss, der eine pulsierende Helle hinter sich herzog, und mit ihm die Tiere des Waldes. Obgleich sein Vater immer ein Gewehr bei sich trug, schoss er nie. „Das ist Sünde, auf Tiere anders anzulegen als mit dem Fernglas“, sagte er. Dennoch ging er niemals ohne Gewehr in den Wald. Den Grund dafür sagte er ihm nie. Sein Vater war zwar Professor für Literatur, aber viel lieber wäre er Naturforscher oder zumindest Förster geworden. So wie sein Großvater. Und dann warteten sie.

So wie jetzt. Er trug dabei immer ein Buch bei sich. Joseph Conrads Herz der Finsternis. Es wies, ganz winzig am Rand der Buchinnenseite, noch die Initialen seines Vaters auf.

Nachdem sein Vater zu trinken begonnen hatte, waren sie nur noch selten in den Wald gefahren. Ariel war fünfzehn, als man seinen Vater in ein Heim für Alkoholkranke brachte. Ihn gab man in die Obhut eines Onkels seiner Mutter, der sich seit einem abgebrochenen Studium als erfolgloser Erfinder bemühte. Dabei zehrte er das Erbe seiner Eltern allmählich auf. Wie in seinem Elternhaus, so fand er auch hier eine große Bibliothek vor. Er las, was in seine Hände kam: Faulkner, Balzac, Dostojewskij, Nabokov, Stifter und Thomas Mann. In diesen Büchern war etwas, das ihm ein Gefühl dafür gab, wie die Welt schon lange vor den Menschen geklungen haben musste.

Wenn er mit seinem Vater durch den Wald gelaufen war, hatte er ein ganz ähnliches Gefühl. Dieses Gefühl war von sündhafter Dunkelheit. Er spürte in ihm die Schönheit eines Augenblicks, der zu groß war, um darin jemals zu Hause zu sein.

Als sein Onkel bei einem seiner Versuche, mit einem selbst gebauten Flugapparat den Ärmelkanal zu überqueren, tödlich verunglückte, gab man ihn in ein Internat. Dort zog  sich Ariel mehr und mehr zurück. Das Lesen war sein stilles Universum, sein Gesang. Also las er immer weiter, um in den Augen der Bücher langsam unterzugehen. Er schien immer leichter zu werden, leichter als Papier. Ein Überlebender, gleichgültig gegen Zufall oder Glück.

 

Ein plötzlicher Laut ließ ihn zusammenfahren. Der Hund zog die Lefzen hoch und sah ihn an. Es pochte und rauschte hinter seinen Lidern. Das Waldlicht lag wie kaltes Wasser auf den Ästen. Zwischen den wie mit Rost beschichteten Blättern verschwand ein Schatten. Er riss das Gewehr hoch. Und dann war alles wieder still: Die sanft ansteigende Lichtung vor ihm. Das verdorrte Holz der Sträucher. Der Schweif schmaler Pfade im Gras. Seine zitternde Hand auf dem Kopf des Hundes.

Es war Zeit.  Er kauerte sich tiefer hinter den Stamm. Flaubert tat es ihm gleich. Der Geruch modriger Erde presste sich ihm entgegen. Ein Geruch, der sich einem Stück Schwärze gleich in ihn eingeschrieben hatte: Das war die Erinnerung an einen Sommertag in seinem letzten Jahr im Internat.

Nach dem Abendessen war er damals oft noch mit einem Buch in den Wald gegangen. So auch an jenem Abend vor über zwanzig Jahren.  Als er die Lichtung über einem halb überwachsenen Steinbruch erreicht und sich unter die Birkengruppe am Rand einer steil abfallenden Felswand gesetzt hatte, schlug er sein Buch auf. Gedichte von Keats, daran erinnerte er sich.  Er hatte zu lesen begonnen.

 Der Tag und seine Süße sind dahin. Er stockte. Etwas war anders. Er konnte es sehen. Im frühen Licht des Abends. In seinem Innern. Aber erst als ein Vogel flatternd aufflog, sah er auf. Ein Seil spannte sich vom Dachfirst einer Eiche bis hinab über den Grund der Felsen. In der Schlinge hing der Kopf eines Jungen. Auf seiner Hose zeichnete sich ein nasser Fleck ab. Sein schiefer Gesichtsausdruck deutete ein Lächeln an.

Ariel starrte nach oben. Sein Atem, der einzige Laut. Über seinem Kopf, über dem Birkenwäldchen der helle Schwarm der Wolken. Er presste sein Gesicht in das halb entwurzelte, violette Auge der Erde. Der modrige Geruch legte sich auf sein Gesicht, während er würgte und keuchte und nach Atem rang.

Der Junge im Wald, erinnerte er sich, war damals der einzige im Internat, zu dem er so etwas wie eine scheue Zuneigung gefasst hatte. Er brauchte nicht lange, um festzustellen, dass sie allein waren unter all den anderen. Auch wenn sie nie ein Wort miteinander gesprochen hatten.

Tief aus der Erde roch es nach fauligem Wasser. Es war beunruhigend, wie nah gekommen er sich plötzlich seinem eigenen Leben fühlte. Und wie weit fort in diesem Augenblick die Möglichkeit eines anderen Lebens war.

 

Noch immer spürte er den modrigen Geruch. Das war die Gegenwart: Die Landschaft war verstummt. Regenwolken zogen  dünne Wasserschlieren auf den Himmel.

Es war schon lange nicht mehr so, dass er mit jedem Bild auch notwendig ein anderes Bild verband. Als wäre das Leben nichts als ein bloßer Mechanismus, den man aufzieht. Eine endlose Wiederholung, in der man nicht einmal untergehen konnte. Das war es nicht.

Es war vielmehr so, dass ihn die Vagheit seiner Erinnerungen, wenn man es überhaupt so nennen wollte, beunruhigte. Als wäre jeder Augenblick nur die Spiegelung eines Lebens, von dem er nichts mehr wusste oder noch nichts ahnte. Irgendwie tröstete ihn die Vorstellung, eines Tages in einem Foto von sich selbst aufzuwachen. Er würde in einen Spiegel sehen und in das Gesicht eines Fremden  blicken. Dann würde alles von Neuem beginnen. Und er würde sich fragen, woher er das alles kannte: Das rasch Verfliegende des Lichts. Den Blütenschnee eines letzten Frühlingstags. Das weiße Licht des Sommers. Die Blätterberge am Straßenrand. Die kalte Luft, die sich in der Starre der nahenden dunklen Wintertage spiegelte.  Und die Sünde.

Nichts sagt uns, dachte er, dass das alles nur ein Zufall ist.