Guido Pering: Am Houhai/Leseprobe

Lichter der Stadt

Prolog

Schweigen packt die Stadt des Nordens, die Straßen still und voller Leben. Hinter den Klostermauern der Westberge streckt der Wunschbaum seine Finger in den Himmel, am Ursprung der Besiedlung der weit unten liegenden Ebenen, am Beginn der Zivilisation, auf der sich das Dorf Beijing auszudehnen begann. Bittanhänger mit roten Fäden wehen im Baum, auf roten Plastiktafeln die Wünsche und unstillbaren Begehren der Menschen. Seit ewiger Zeit. Von hier oben fällt die Ruhe herab und lehrt die Menschen das Glück des Augenblicks, das Warten und Hoffen, einen Moment nur, ein Zeitenstopp im Lärm der Stadt. Dann ist es vorbei.

Die Marktfrau füllt die Auslagen mit frischen Gewürzen, der Busfahrer legt den ersten Gang ein und holpert nach vorne, den Wagen dicht gedrängt und voller Kinder, der Kassierer startet den Computer, gähnt in die Augen der wartenden Frau und lächelt ihr dann zu, der Koch setzt das Messer an und pflügt durch Ingwerknollen und Karotten, die Polizistin schwatzt mit der Straßenkehrerin, als kennten sie sich ein Leben lang, der Bettler ohne Beine rollt los, auf seiner Sitzschale aus alten Holzresten, deren Räder bei jeder Umdrehung quietschen, als würde ein Schwein geschlachtet.

Wer von ihnen hat die Unterbrechung gespürt? Dieses Atemholen der Zeit, diesen Moment, in dem alles sich verändert? Die Arroganz der ersten Begegnung, die Bilder im Atelier, gemeinsame Nächte, Rückkehr und Neuanfang, die Stille nach der Explosion. Und dann? Dann war alles anders. Ein kurzer Augenblick völligen Schweigens, eine vollkommene Unterbrechung, eine Befreiung. Die Zeit formt ihre Helden ohne Wahl und reicht ihnen Hindernisse wie Trophäen. Das ist die Geschichte von Ye Yang und Mo, ein Stolperstein im Atem der Stadt, alles hier ist wahr und gelogen zugleich. Nicht mehr oder weniger wie das Leben.

 

Teil I – Die Ankunft

 

  1. Am Houhai I

 

Auf dem Wellenkamm, der sich mit kräftigem Schlag gegen das raue Mauerwerk warf, schimmerte das Licht bernsteinfarben. Bunte Lichtkegel spiegelten sich auf der Wasseroberfläche des Houhai, des hinteren Sees, blitzten sekundenschnell auf ihre Netzhaut und hinterließen ein Gefühl von Lähmung. Ye Yang legte die Hände auf die steinerne Brüstung und stemmte sich hoch, dehnte sich, um besser atmen zu können. Warm lag der Sommer auf ihrer Haut wie eine schützende Hülle.

Sie rieb sich über die Augen, die müde brannten und deren Blick sich verlor im Farbenspiel des nächtlichen Sees. Wie ein gefallener Zauberer fächerte sie Erinnerungsstreifen auf, in Illusionen von einem anderen Leben, einer Idee, wie es weitergehen könnte. Sie verengte den Blick und fixierte die Oberfläche des Sees, suchte ein Ziel, einen Fluchtpunkt, einen Ausweg. Erdrückend fraßen sich die Ereignisse der letzten Stunden in einen Entwurf von Zukunft, die ihre sein sollte, es war dieser eine Moment, der alle Gewohnheiten infrage stellte, die Tradition, den Alltag der Jahre, der gesammelt ein Leben ausmacht, all das trübte sich ein unter dieser Schmach, einem Menschen begegnet zu sein, der sich der herrschenden Norm von Ruhe und Eintönigkeit verweigerte, der anders war und dachte und der von ihrer Familie nicht anerkannt wurde.

Was hatte sie erwartet? Offene Arme, Neugier, ein langsames Abtasten, all das, ja, aber nicht diese Arroganz, dieses abwertende abschätzige Lächeln, das keiner Erklärung bedurfte, so unerwartet für sie, und dann seine Flucht, die zerstörend wirkte und noch weiter wirken würde. Alles nur eine Randnotiz der Geschichte? Ohne Ankündigung? Die Vorstellung: die eigene Familie frei von Vorurteilen? Der Trugschluss einer Verliebten und Geblendeten. Warum waren Kulturen so eingeschränkt und grausam dem andersartig Gleichen gegenüber, dachte sie. Die Frage hatte sie immer schon beschäftigt, und jetzt, mit brennend geröteten Augen, die nichts wollten außer Schlaf und Vergessen, war die Frage so existenziell in ihr Leben getreten, wie ein Knüppel, dem man nicht ausweichen konnte, der sie in ihrer Naivität getroffen hatte, ein Menetekel, ein Fluch, ein Teil ihres Lebens.

Ye Yang hob die Hände zu einer raumgreifenden Bewegung, die Innenflächen nach oben geöffnet, rief sie sich die Großmutter in Erinnerung, die Kräfte der Rebellion der jungen Jahre, die Bestätigung in den fast blinden Augen kurz vor dem unvermeidlichen Sturz in die befreiende Tiefe des Todes, und so, wie die Bilder sich in ihr öffneten und ein Lächeln wie eine weite Landschaft entfalteten, festigte sich ihre Stärke und Kraft und Zuversicht. Alles konnte passieren, aber niemals würde sie ihren Weg von anderen bestimmen lassen, das Gesicht konnte man verlieren, den eigenen Zweifeln nachhängen, aber immer kämpfen, nicht nachgeben, und wenn doch, dann nur, um stärker zurückzuschlagen. Der Kampf wurde vor der Haustür der Tradition geführt. Kämpfen, widerstehen, kämpfen, nicht resignieren, neue Wege finden und immer widerstehen. Langsam glitten die Hände zu Boden und brachten Schicht für Schicht Ruhe in den angespannten Körper. Auf ihrer glatten Stirn zeichneten die Lichterketten der Restaurants vom Ufer gegenüber bizarre Runzeln, vergänglich im Moment des Entstehens. Sie schob die halblangen schwarzen Haare zurück, als wolle sie einen Pferdeschwanz binden, öffnete alles wieder und schüttelte den Kopf. Die breite flache Nase, die an Frauen aus der inneren Mongolei erinnerte, leuchtete im Licht der Laternen der Uferpromenade, die sich am Wasser hinabschlängelten.

Nicht aufgeben, festhalten an den eigenen Zielen, leben, ohne sich zu betrügen. Hier am Wasser wusste sie, dass Staunen die Welt regiert, die Neugier, die unbändige Sehnsucht nach Leben, prall und satt, getragen vom Willen, sich jeden Tag neu zu erfinden, Leben gebend und Leben verabschiedend, mit all der Trauer und der Schwermut, die sie seit ihren ersten bewussten Gedanken begleitete, mit all der Hoffnung, zu der sie fähig war, leben und erleben, staunen und sich mitteilen, teilen des Staunens über alle Grenzen der Länder und Kulturen hinweg.

Ye Yang beobachtete die Menschen und versuchte zu verstehen. Sie studierte Kunstwissenschaften und schlug den Beruf der Galeristin ein, weil die Künstler sperrig waren, verwegen waren und gut rochen, nach Moschus und Freiheit, sie schloss sich ein in Räume mit dunklen Sichtbetonwänden, an denen Bilder unbekannter Künstler hingen, verstaubt und immer wieder ausgetauscht. Sie lernte zu schweigen, weil sie staunen wollte, über Dinge, die man allzu schnell übersieht, über all das, was sich verbarg und nur in kurzen Atempausen an die Oberfläche schwemmte, weil sie Dinge sehen wollte, die nicht mit dem Alltag übereinstimmten, den die anderen für sie vorgesehen hatten.

Das Staunen der Welt ist mächtig, ruhelos zieht es die Suchenden in den Bann, ein Sog, Antworten zu formulieren, auf Fragen, die immer wieder neu gestellt und nie beantwortet wurden, als wären die Künstler die einzigen, die die Spiegel hinter den Spiegeln aufhellen und durchleuchten konnten und mit ihrem Wissen und ihren Ahnungen Gegenbilder entwickelten, die nur selten einen Weg in die breite Öffentlichkeit fanden. Aber die notwendig waren, wie der Kitzel des herbstlichen Blätterwaldes in der Nase.

Dies war ihr innerer Auftrag, der Urgrund und ihre Berufung, der neugierige Blick hinter die Achsen der Welt, um als Koordinatensystem denjenigen nahe zu sein, zu denen man nicht gehörte, der Kaste der Künstler, der Magier hinter den Spiegeln, denen die Verzerrung und Verfremdung Mittel der Wahrheit waren. Nur selten, in wenigen stillen Momenten und unbeobachtet, hatte sie selber gewagt, sich in diese Rolle zu denken, dieses Denken in Farbe und Form umzusetzen. Doch die Fesseln der Tradition banden sie, mächtig und dominant, und wie selbstverständlich trug sie den Ballast der Jahrhunderte mit sich, den man Kultur nannte.

Hinter dem Grüngrau der Uferböschung verteilten sich die am See gelegenen Hutongs und ließen die Menschen klein wirken. Mo war ein Arschloch. Er war eine Versuchung, die vor fünf Monaten in ihr Leben getreten war, es verändert hatte, als wäre ein Wirbelsturm über sie hinweggefegt, hätte sie nach oben geworfen und dann im gleichen Moment in ungeahnte Tiefen gezogen. Mo war eine Offenbarung der Freiheit, ein Fest und ihr erster Freund im Alter von 23 Jahren.

 

  1. Mo´s Ankunft

 

Er konnte nachträglich noch nicht einmal sagen, warum er sich in der Ankunftshalle des Flughafens, noch an der Zollabfertigung, den Namen Mo gegeben hatte, einfach Mo, als käme dieser unbekannte Klang angeflogen aus inneren Lautsprechern, die mit lautem Klacken angeschaltet wurden. Mo, das neue Synonym für sorgloses Leben, Heinrich Brecher hat das Leben gewechselt, nennen Sie mich Mo. Das bin ich, Mo, der ruhelose Künstler. Der Diener des Augenblickes, der Sklave des Fortschritts, Mo, das bin ich. Der Maler und Schöpfer von Collagen aus Papier, Ton und Fotos, der Künstler, unflätig, arrogant und voller Begierden, Mo, nennen Sie mich einfach Mo.

Der Taxifahrer kniff die Augen zusammen und las die handgeschriebenen Zeichen, spuckte aus und wies mit der flachen Hand auf den Beifahrersitz. Die Luft im Inneren des Wagens roch rauchig und verbraucht. Tankstellen und Hochhäuser, bizarre Stromleitungen, Rohre, die im Endlosen zu verschwinden schienen, zogen an ihm vorbei. Alles schien offen und frei, frisch wie der erste kalte Wassertropfen nach einer glühend heißen Tropennacht.

Die Adresse, die er ansteuerte, war einer spontanen Laune entsprungen. Zhang Jongan, der emigrierte Künstlerfreund aus der Kölner Szene, erwähnte bei seiner letzten Vernissage diesen magischen Ort inmitten der Stadt, erzählte vom See, der stündlich die Farben wechselte und an dem sich Paare so offen begegneten wie sonst nur selten in Beijing. Aufmerksam hatte er zugehört und eine Vorstellung entwickelt, die ihn anzog, als wäre da ein Ort für seine Sehnsüchte, ein Füllhorn exotischer Anregungen, inmitten der schleichenden Trägheit seines Alltags. Nichts gab es zu verlieren. Nur wenig Anerkennung, Frauen für Tage, eine Handvoll Freunde, die nur mit ihrem eigenen Leben beschäftigt waren, Suchende nach Ausdruck und Form und Bedeutung, Interpretation. Sie alle lebten zwischen Träumen und Stipendien und Ausstellungen, die nur selten über die Vororte hinaus bekannt wurden. Ein Leben, das er nicht missen wollte, unabhängig, ohne Verantwortung, aber auch ohne Höhepunkte, einzig Ausdruck künstlerischer Freiheit. Nur wer frei und ungebunden blieb, konnte der Erstarrung entkommen. Mo genoss den Luxus, unabhängig zu sein vom Erfolg im Kunstbetrieb. Sein ererbtes Vermögen reichte noch lange Jahre, die verstorbenen Eltern hatten vorgesorgt, nicht für ihn, aber das war jetzt, viele Jahre nach dem verhängnisvollen Unfall, unbedeutend.

Der Taxifahrer steuerte zügig und fast ohne zu bremsen durch den dichten Verkehr, als gäbe es keine Hindernisse, als wäre alles hier in diesem dichten lauten Treiben ein buntes Spiel, unterlegt mit dem sonoren Klang dieser kaiserlichen Stadt, diesem Rauschen, so klar wie chaotisch, in dem sich alle Töne sammelten und überlagerten, in einem einzigartigen Klangteppich.

Es war sein zweiter Besuch in dieser Stadt. Beim ersten Mal hatte ihn eine staatliche Künstlerdelegation durch die offizielle Stadt geführt, in den Distrikt 798, den vom Staat geduldeten künstlerisch Bereich, über dem immer ein wachsames Auge thronte. Auch das Gelände des Today Art Museums besichtigten sie und diskutierten mit den hiesigen Künstlern. Sein Freund Zhang Jongan hatte nur gelacht, als er ihm von dem Besuch berichtete. Niemals, niemals wieder – er wiederholte das Wort mehrfach und angewidert – werde er diesen Boden betreten, wo nur Staatskünstler ein angepasstes und kontrolliertes Leben führten.

Der See, an dem sich die Farben brachen, inmitten der Stadt, ein Bild glitzernd changierender Wellen, er sah alles deutlich vor sich, als der Fahrer ruckartig bremste und mit knarzender Stimme fluchte. Der Stau, den er umfahren wollte, war überall, ein sich ausbreitendes, hartnäckiges Geschwür. Und die Polizeikontrolle wenige Hundert Meter weiter hellte seine Stimmung auch nicht auf. Die Beamten der taktischen Spezialeinheiten, martialisch und durchtrainiert in ihren schwarzen Uniformen, standen zusammen und ignorierten die Umgebung. Der Verkehr floss weiter. Mittendrin fühlte er sich sicher, beschützt.

An einer kleineren Kreuzung bog der Fahrer in eine enge Seitenstraße ein. Der Straßenfeger wich seitlich aus und ließ ihn passieren. Die Straße war zu großen Teilen aufgerissen. An den Rändern türmten sich abgefräster Asphalt und Schotterreste zu kleinen Hügeln. Die Bauarbeiter standen in Gruppen zusammen und rauchten. Ihre Gesichter wirkten im blassen Licht des Morgens leblos. Der Taxifahrer grüßte kurz, fuhr im Schritttempo vorbei und stellte an der nächsten Ecke fest, dass der weitere Verlauf der Straße gesperrt war. Der kehlige Fluch des Fahrers hallte in Mo´s Kopf wieder. Er hatte das Gefühl, dass sie sich kopflos verfahren hatten. Mit einem Ruck fuhr der Wagen wieder an, holperte um zwei weitere Ecken und ließ ihn vor seinem gebuchten Hotel aussteigen.

Von hier aus, auf dem schmalen Gehweg stehend, wirkte alles wie auf den Fotos im Internet. Ein niedriger grauer Bau inmitten von neu gebauten Hutongs für wohlhabende Bürger. Der Eingang zum Hotel wirkte breit und einladend. Zwei Fabeldrachen bewachten den steinernen Rundbogen, in dessen Mitte sich die gläsernen Schiebetüren lautlos öffneten und ihn einließen. Die Rezeption leuchtete neongrün, der Boden, auf dem er sich der Frau hinter dem Empfangstresen näherte, stammte aus einer anderen Zeit. Schwere Steinplatten mit anthrazitfarbener Maserung empfingen ihn, grob verlegt und abgetreten, darüber alte massive Deckenbalken, zwischen denen bunte Lichterketten wie Lichtinstallationen schwangen.

Die Frau mit den grünen Augen, die ihn aufmerksam beobachte, war vielleicht vierzig Jahre alt und begrüßte ihn in gutem Englisch. Ihre Freundlichkeit wirkte echt. Entspannt lehnte sie an der Rezeptionstheke, redete und hörte zu, gab ihm Tipps für die ersten Tage. Zwischendurch kam ihr Sohn aus den hinteren Zimmern, klammerte sich an ihre Beine, ließ sich hochheben, und nachdem er feststellte, dass die Erwachsenen nur redeten, verschwand er wieder hinter dem Bambusvorhang, wo ihn eine ältere Frauenstimme freudig empfing.

Familienbande, dachte er, für die meisten Menschen überlebenswichtig, nichtig und störend für die anderen. Zu denen zählte er sich. Mit Stolz konnte er sagen, dass er jedem Versuch anderer Menschen, sich ihm anzunähern, widerstanden hatte, allen, die ihn einfangen wollten, jeder Bindung, die zu eng wurde und die er erstickte, mit der abgeklärten Überzeugung des wahren unabhängigen Geistes. Er war sich sicher, dass dies der einzige gangbare Weg für ihn war.

Der Schlüssel, den er in seinen Händen hielt, war an eine ovale Holzleiste angehängt, flach gearbeitetes und lasiertes Wurzelholz, dem die Spuren der Jahrzehnte anhafteten und das seine Fantasie anregte. Er betrat das Zimmer und fühlte sich gleich wohl. Ein einfaches Bett aus dunkelbraunem Holz, der passende Schreibtisch mit Lehnstuhl, ein Fenster in einen stillen Hof, das Bad mit Dusche und Toilette, alles war da wie beschrieben; und doch wirkte es auf ihn harmonischer, als er es sich vorgestellt hatte.

Dieses kleine Hotel, am Rande des Houhai gelegen, war sein neues Zuhause und empfing ihn so selbstverständlich wie die Umarmung eines alten Freundes. Er legte sich aufs Bett und fiel in tiefen traumreichen Schlaf. Wie eine an Schnüren aufgezogene Kette von Ereignissen überfielen ihn die Bilder der vergangenen Tage, bruchstückhaft und verschleiert. Er tauchte ab in tiefes, schweres Grau, bis er schweißgebadet aufwachte und auf die Uhr sah. Er war mehrere Stunden weggedämmert. Der Hof leuchtete im fahlen Licht eines smoggeschwängerten Nachmittags, eine Wetterlage, die er schon von seinem ersten Besuch her kannte. Eine kalte Dusche, Zeit zum Essen und aufzubrechen in eine Stadt, die er kennenlernen wollte. Für drei Wochen hatte er sich eingemietet. Es sollten ein Jahr, drei Monate und sieben Tage werden. Und wäre das Unglück nicht über Ye Yang und ihn hereingebrochen wie ein ungebetener Sturm, sein erster Aufenthalt an diesem Ort wäre noch länger geworden, von seinem zweiten Leben ganz zu schweigen.

 

 

 

  1. Kunst und Geschichte

 

Es war einer dieser diesigen, vor Hitze flirrenden Tage in Beijing. Er wachte auf und trat in den kleinen Raum mit den verwitterten Holzbänken ein, der für die Mahlzeiten zur Verfügung stand und den Rest des Tages ungenutzt blieb. Das Frühstück bestand aus Süßkartoffeln, scharfer Nudelsuppe und verschiedenen Gemüsesorten und brannte in seinem Magen. Hastig aß er und brach auf, die Stadt zu erobern.

Die Bauarbeiten im Viertel wanden sich durch die verschachtelten Straßenzüge wie eine Schlange. Mit jedem Meter frischen Asphalts vollendeten sich zeitgleich die Renovierungen der wohlhabenden Hutonghäuser, nicht selten vollständige Neubauten. Einigen Häusern hatten die Architekten Glasfronten verordnet, die zur Straße zeigten und wie Schaufenster wirkten. Das Viertel veränderte sich grundlegend. Wer Geld hatte, kaufte sich die alten Gemäuer als repräsentatives Eigentum und baute sie nach westlichen Standards um. Es regierte die Vorstellung von dem, was sein sollte, und nicht vom dem, was wirklich war. Die Menschen träumten sich in ein Leben, das sie nicht führen konnten. Das war hier nicht anders als in Köln.

Die Wahrnehmung dieser Gleichzeitigkeit von Alltag und Flucht in die Illusion war die Grundlage seiner künstlerischen Arbeit. Das Prinzip war einfach und wiederholte sich, es war, als hätte er damit von Beginn an eines seiner Lebensthemen gefunden. Er erinnerte sich an die ersten Collagen im Kunstunterricht, Zusammenstellungen aus Fotos, Skizzen, Zeitungsartikeln und Filzstiftschraffierungen, die seltsam bieder wirkten; und erst auf den zweiten, vielleicht dritten Blick prangerten sie das Grauen eines eintönigen Lebens an, subtil und verfremdet.

Auch in den Jahren an der Kunstakademie änderte er seine Themen nicht, als wäre er unfähig, sich anderen Sujets zu stellen. Nur die Medien, mit denen er arbeitete, vervielfältigten sich. So war er dankbar für jede neue Technik, die seine Professoren ihn lehrten, und für jedwede Anregung. Stift, Pinsel, Computer, die alte Leica, Meißel und Schaber, eine Stahlfeder für Kalligrafien, alles fand Platz in seinen Arbeiten. Kritiker warfen ihm vor, beliebig zu sein, chaotisch und inhaltsleer – er selber nannte es Freiheit. Es war ein besonderer Ausdruck, mit dem er Bildwelten entwarf, sie mit Fotos ergänzte, Farbschattierungen in die Komposition mischte, den Pinsel durch die schleimig-zähe Brühe auf der Leinwand zog. Er überhöhte den Alltag durch ein Band aus monotonen Wiederholungen, eine minimalistische Tristesse, die er tief in sich spürte und aus der er nicht ausbrechen konnte. Ein Gefangener zwischen Inspiration und Unzufriedenheit. Und es gab Tage, da erkannte er seine Entfremdung, sein dilettantisches Wirken, fast körperlich, das Zittern der inneren Stimme, das er hasste, wie nichts anderes auf der Welt.

Am Ende der Gasse empfing ihn die weit in die Häuserreihen ragende Großbaustelle an der U-Bahn-Station, die sich tief in graubraune Erdschichten fraß. Der Dunst des frühen Tages verblasste. Er stieg die Treppen hinab und fuhr in die Innenstadt. Neben hochgewachsenen Han-Chinesen und zwei jungen Touristenpaaren blickte er auf Frauen aus dem fernen Westen Chinas. Sie glichen im Aussehen einer Kommilitonin, mit der er manchmal in der Mensa zusammen gegessen hatte und die aus Chongqing stammte. Sie hatte ihm damals erzählt, von einem Leben zwischen Land und Stadt, über Eltern und Verwandte in einfachen, aber guten Verhältnissen, die von den Beijinger Großstädtern als Menschen zweiter Klasse, wenn nicht als noch minderwertiger angesehen wurden. Eine Nacht hatten sie gemeinsam verbracht und sich ohne Mühe voneinander getrennt.

Die klein gewachsenen Frauen mit der fliehenden Stirn beäugten ihn aufmerksam. Nahm er einen Anflug von Lächeln war? Auch wenn er sich das nur einbildete, glaubte er, die Menschen zu kennen, ihr Leben, ihre Wünsche und ihren festen Willen, ein gutes Leben zu führen. Unmerklich nickte er den dreien zu, dachte an den Körper der Kommilitonin, und als er wieder auf die gegenüberliegenden Sitze blickte, saß dort ein Mann mit gelben Zähnen, der ihn freundlich angrinste.

Ihre Statur war kräftig, fast gedrungen gewesen, erinnerte er sich. Obwohl er im ersten Moment einen Hauch von Zartheit erwartet hatte, zeigte sich ihr Körper ausgezogen weder zart noch zerbrechlich, sondern selbstbewusst und eins in dieser ihm seltsam anmutenden asiatischen Ruhe, die ihm schon immer ein Rätsel schien; genauso selbstverständlich bewegte sie ihren Körper, während sie sich liebten. Und dann war es wie immer: Schnell war alles vergessen. Frauen an seiner Seite traute er nicht. Sein Selbstschutz ließ sie nur an seiner Oberfläche kratzen, bis sie aufgaben. Halbwertzeit: sieben Wochen. Perspektive: keine. Grund: Angst. Oder Aussichtslosigkeit? Außer bei seinen engsten Freunden war er verrufen als unzuverlässig und arrogant. Diesen Ruf pflegte und genoss er und ließ keinen öffentlichen Auftritt aus, um diesen zu bestätigen. Nur einmal in seinem bisherigen Leben war diese Überheblichkeit gemildert worden, das war die Zeit, als er am Fotozyklus ´Wachsender Stolz´ arbeitete, die ihm eine intime Sicht auf werdendes Leben erlaubte. Doch schon auf der Eröffnungsveranstaltung der Ausstellung begann das depressive Gift wieder zu wirken und zog ihn tief in den Zweifel zurück. Wären damals nicht seine Freunde gewesen, er wäre hoffnungslos abgestürzt. Die unzähligen kurzen Affären vertieften seine Zerrissenheit nur. Das wusste er und setzte sie fort wie ein Süchtiger.

Er atmete tief ein. Die nächste Haltestelle spuckte ihn aus in eine lärmende Welt. Durch die Gänge wehten Musikfetzen aus knarzenden Kassettenrekordern. Wie in Trance passierte er die Verkaufsstände an den Rändern der U-Bahn-Station, nahm die Rolltreppe und trat ins Freie.

 

  1. Familiengeschichten

 

Ye Yang entstammte einer alten Kaufmannsfamilie, die angeblich schon Marco Polo durchs Land begleitet hatte. Das war natürlich nur ein Märchen, aber der geschäftstüchtige Ye Song, ihr Vater, wurde nicht müde, eben diese Geschichte immer wieder zu erzählen und mit jeder Wiederholung weiter auszuschmücken, als wäre er selbst dabei und der eigentliche Führer von Marco Polo gewesen. Aber wer weiß, vielleicht war es ja so, dachten die Leute und lästerten, nicht ohne Bewunderung, über die Familie des schmächtigen Mannes, dessen einziges besonderes Kennzeichen der leichte Buckel auf seiner Nase war. Sonst wirkte er so unscheinbar, dass sich das Gerede nicht lohnte. Anders seine Tochter. Ye Yang war ein störrisches Mädchen, das auch schon mal mit der Faust austeilte, was besonders bemerkenswert war, weil sie nach außen eher bleich und zerbrechlich wirkte, mit hochgezogenen Schultern, einem oft eingezogenen Kopf, einer Schildkröte gleich. Ihr Blick war meist offen und neugierig, doch in den blassbraunen Augen zeigte sich ein Schatten von Traurigkeit, Spiegelungen einer Welt, in die man nicht hineinwachsen mochte, in der Heranwachsen und Schule eine Last waren, eine fragende Anklage an eine Welt, die erobert werden wollte und in weiten Teilen noch unsichtbar war. In der Schule gaben sie ihr den Spitznamen Eisenhemd, der eigentlich eher einem Kampfnamen entsprach, und später an der Universität wollten nicht wenige ihrer Kommilitonen mit ihr ins Bett und vielleicht auch eine Beziehung eingehen. Sie war begehrt, gab sich aber abweisend. Warum das so war, konnte sie selber nicht sagen. Entweder gefielen ihr die Männer nicht oder waren ihr nicht gewachsen oder beides. Meistens fand sie die Frauen spannender, die sich ihr näherten, sie wusste, auch hier war sie begehrt, aber über reine Freundschaften hinaus fehlte ihr das Interesse.

Jeden Abend ab 18.00 Uhr stand Ye Yang im Geschäft ihrer Eltern, verkaufte und schwatzte, räumte Regale ein und aus, bis sie in den Abendstunden in ihr eigenes Reich abtauchen konnte, ein Luxus mit einem eigenen Bett und abgeschlossener Tür, wie ihn nur wenige Studentinnen in ihrem Alter besaßen. Dafür arbeitete sie. In ihrer Klause, wie sie sie für sich nannte, tauchte sie ein in die Träume der Vorfahren. Dieses Talent schien ihr die Großmutter vererbt zu haben. Sich zurückziehen, die Augen halb offen in die Weite richten und zugleich im Leben der anderen ankommen, eintauchen in die Gerüche und Töne ihrer Herkunft und Geschichte, vergangener Identitäten.

Die Familiendynastie hatte jahrhundertelang in Chengdu gelebt und verteilte sich im 18. Jahrhundert in Richtung Osten. Wie einer dieser gelbroten Sandstürme, die über die Ebenen herfielen und alles mit Staub bedeckten. So stellte sich Ye Yang die Ausbreitung ihrer Familiendynastie als eine Folge von spontanen Veränderungen, Sprunghaftigkeit und Selbstüberschätzung vor. Und dann zog einer der Clans mit Sack und Pack nach Beijing, wo er ein Familienunternehmen aufbaute. Sie selber kannte nur das Leben hier, und allein der Name der Region um Sichuan verband sich in ihren Vorstellungen mit Karawanen und Steppe und kargem Land, ein Ort, wo sie nicht leben wollte und der sie im Grunde auch nicht interessierte. Hier in Beijing spielte das Leben und Erwachsenwerden, das Lernen und Ausprobieren, genoss sie die Farbenspiele der Gewässer und die Rufe der Verkäufer auf den nächtlichen Märkten.

Es gab Tage, da erzählte der Vater voller Bewunderung die Geschichten, die er schon von seinem Vater und der wiederum von dem seinen gehört hatte, die Geschichte des Aufbruchs der Familie aus der Armut, des weiten Weges entlang der Berghänge des Daba-Gebirges, durch die Ebenen des Wei-Flusses, bis er sich in den Gelben Fluss ergießt, vorbei an den Höhen des Lüliang-Gebirges, hinab in das gelobte kaiserliche Beijing, wo Milch und Honig flossen und der Tod regelmäßig ein Stelldichein gab.

Das Geschäft, das sie bis heute führten, hatten ihre Vorfahren von einem Totengräber übernommen, den es dahingerafft hatte und der so seiner hinterbliebenen Familie eine erkleckliche Summe Bargeld bescherte. Ihre Familie war fleißig und hatte das Quäntchen Glück, das man als Selbstständiger braucht. Binnen weniger Jahre verkauften sie neben Kohlen auch Lebensmittel, Drogerieartikel, Bier und eigentlich alles, was durch die breiten Türen nach innen zu transportieren war. Geschäftstüchtig nannte man das. Und Ye Yang war ein Sprössling dieser Familie, meist still und zurückhaltend, aber wenn es drauf ankam mit einem Mundwerk, das die Alten erröten ließ. Eine Frau vom Stamm, titulierte ihr Vater sie nicht ohne Stolz, eine eigenwillige Tochter.

Schon mit sechs Jahren, so erzählte man sich, trat sie einem Lehrer, der sie am Hintern berührte, so heftig auf den Fuß, dass dieser drei Wochen im Unterricht fehlte und danach nie wieder auch nur in ihre Nähe kam. Sie war Teil eines Familienclans, der niemanden fallen ließ, gütig manchmal, bisweilen auch streitsüchtig. Noch heute erinnerte sie sich gerne an den dreisten Müllkutscher, der eine zweite Ebene in seinen Wagen eingebaut hatte, in der er schnell und klammheimlich kleine Dinge mitgehen ließ. Nie konnte man ihm etwas nachweisen. Bis ihr Großvater auf die glorreiche Idee kam, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen und ihm die Sonntagsstiefel des jähzornigen Nachbarn unterjubelte. Ein voller Erfolg. Als dieser nach einem zufälligen Tipp das Versteck mit seinen Stiefeln fand, amüsierte sich das ganze Viertel über die wilde Jagd durch die Straßen. Den Müllkutscher sah man nicht wieder, seine Arbeit übernahm ein anderer, der von morgens bis abends traurig seinem Esel folgte. Aber das war eine andere Geschichte. Ihr Viertel glich einer Familie. Man zankte, stritt und liebte sich, man verfolgte neugierig jede Bewegung der anderen, hoffte dennoch, selbst unbemerkt zu bleiben, teilte dieses oder jenes Geheimnis und verschwieg mehr, als man sagte. Die Menschen im Viertel lästerten gern und jedes Gerücht breitete sich in Windeseile aus. Ye Yang liebte es, inmitten dieser wahren und halbwahren Erzählungen zu stehen, den Zucker in braune Tüten abzufüllen, über die jahreszeitliche Qualität des Kohls zu räsonieren und dabei die untreue Frau des Busfahrers in den Blick zu nehmen, die wahrscheinlich so wenig untreu war, wie der Busfahrer Bus fahren konnte. Das war das Leben, in das sie geboren wurde und das sie schätzte.

Die Menschen im Viertel nahmen zur Kenntnis, dass sie nicht der Tradition ihrer Eltern folgte, dass sie als Teil der rasanten gesellschaftlichen Entwicklung, die die Alten verfluchten und als Belastung empfanden, während die Jungen sie herbeisehnten, ihren eigenen Weg ging. Bei allem, was sie an Sorgen belastete, schätzte sie sich selber als glücklichen Menschen ein, ein Urteil, das zumindest ihr Vater teilte. Wann immer das Gezeter ihrer Familie über fehlende Ehemänner, schlechte berufliche Aussichten, ersehnte Enkel über ihr zusammenbrach, verteidigte ihr Vater sie, auch wenn man in seinen Augen lesen konnte, dass auch er nicht schätzte, wie seine Tochter ihre Zukunft gestaltete.

Mit Bravour beendete sie die Abschlussprüfungen im Fach Kunstgeschichte an der Beijing-Universität und arbeitete schon seit einigen Jahren in der Qing-Lóng-Galerie mit. Ihr Chef, den alle nur Zhang riefen, war ein bekannter, in Künstlerkreisen als Gauner verrufener Greis mit Halbglatze und Mundgeruch. Aber wer hier ausstellen konnte, war so glücklich, dass alles andere nicht zählte. Die Galerie galt als Sprungbrett in die ersehnte Karriere: Nicht, dass viele diesen Übergang schafften – eigentlich kannte sie kaum jemanden, dem das wirklich gelungen war – aber ohne eine Ausstellung an diesen kahlen Wänden galt alles andere nichts. Zhang war unfreundlich, nahm die Menschen aus, aber er war ein Genie darin, in blassen Bildern und kruden Skulpturen die Zukunft der Kunst zu sehen. Ein Patriarch der Künste, mit allen Talenten eines Chamäleons ausgestattet. Gelernt hatte sie hier mehr als im gesamten Studium. Und hier vermittelte sich ihr auch der erste Eindruck davon, dass die Wahrheit des Kunstmarkts in der Dicke der Portemonnaies liegt.

 

  1. Die erste Begegnung

 

Es war ein trüber Tag, als sie Mo zum ersten Mal sah. Er musterte aufmerksam die wenigen Bilder und Skulpturen, die man vom Fenster aus im Inneren der Galerie erkennen konnte. Zhang hatte vor wenigen Tagen einen neuen, wie immer vielversprechenden Künstler unter Vertrag genommen, dessen Bilder die aktuelle Ausstellung ergänzten. Nichts Besonderes, fand sie, eine Mischung aus Landschaften und Gesichtern, auf grobes Leinen aufgetragen, mit plastischer Wirkung, aber nicht wirklich gekonnt. Der kann nichts, aber er wird sich gut verkaufen, sagte Zhang lapidar, und sie zweifelte nicht an seinen Worten.