Julia Frank: Paralyse/Leseprobe

Chapter 1

Es ist nur ein schlichter Umschlag in meinem Briefkasten, doch als ich ihn herausziehe, schlägt mein Herz sofort schneller. Ich weiß gleich, was ich hier in den Händen halte. Ich habe ewig auf die Einladung zu diesem Treffen gewartet. Nun ist es endlich so weit. Ich bin aufgeregt, aber vor allem freue ich mich. Der Umsetzung aller meiner Ziele steht nun nichts mehr im Wege. Pünktlich warte ich also am folgenden Abend vor jener unscheinbaren Wohnungstür, hinter der sich meine Zukunft verbergen soll. Noch bevor ich läuten kann, wird mir die Tür von einem kleinen, drahtigen Mann geöffnet. „Bitte, mir nach. Der Meister wartet schon auf dich“, erklärt er mit tiefer Stimme und ausdrucksloser Miene.

Er führt mich durch einen schmalen Flur, der nur von wenigen Wandlampen schwach beleuchtet wird. Den Raum, wo das Wunder geschehen soll, habe ich mir definitiv spannender vorgestellt. Ich sehe Bücher und Krimskrams in Regalen, ein paar Pflanzen stehen lieblos herum und von der Decke hängt ein altmodischer Kronleuchter. In der Mitte stehen drei Stühle in einem Halbkreis. Überraschenderweise bin ich nicht allein, es ist noch eine weitere Frau anwesend. Sie steht wartend vor einem der Regale. Wir nicken uns kurz zu. Der Meister stellt gerade ein Buch zurück. Er wendet sich mir zu und mustert mich mit durchdringenden, dunklen Augen. Dann lässt er uns mit einem Wink auf zwei Stühlen Platz nehmen und wir beginnen mit dem Training. Eigentlich habe ich keine Ahnung, worauf ich mich hier wieder eingelassen habe, aber ich bin fest davon überzeugt, dadurch meine Zukunft verändern zu können. Durch die Lehren des Meisters werde ich endlich in ein neues, erfolgreicheres Leben starten. „Seid ihr bereit, in ein neues, freies Leben zu starten?“ Oh ja, ich bin so was von bereit, denke ich und der Meister beginnt sofort mit dem Training.

Wir schließen die Augen und gleiten in nur wenigen Minuten in einen tranceartigen Zustand. Nach kurzer Zeit höre ich, wie die Atmung meiner Sitznachbarin angestrengter und irgendwie röchelnder wird. Was macht sie bloß? Ich versuche mich trotzdem weiter auf meine Trance zu konzentrieren, was mir aber immer schwerer fällt, weil die Atmung der Frau neben mir beständig keuchender und panischer klingt. Dann ist es plötzlich still, unheimlich still. Was ist da los? Obwohl ich mich eigentlich auf meine Trance konzentrieren will, kann ich nicht anders und öffne meine Augen – und erstarre. Die Frau, die gerade noch atemringend neben mir gesessen hat, hängt nun mit weit aufgerissenen, leeren Augen offensichtlich tot in ihrem Stuhl. Panik überkommt mich! Ich möchte aufspringen, um nach ihr zu sehen. Doch, was ist das? Ich kann mich nicht bewegen. Ich bin wie eingefroren, und so sehr ich mich auch bemühe, mein Körper bewegt sich keinen Millimeter. Nur meine Augen können sich bewegen. Ein Blick in das Gesicht des Meisters lässt meine schlimmsten Befürchtungen wahr werden: Er hat die Kontrolle über meinen Körper! Ein böses Lächeln umspielt seine schmalen, aber sehr sinnlichen Lippen und ein eiskalter Blick trifft mich. Mein Herz rast wie wild und mir schießen verschiedene Gedanken durch den Kopf. Hat er den Tod dieser Frau herbeigeführt? Aber wie? Nur mit der Kraft seiner Gedanken? Was hat er mit mir vor? Werde ich auch sterben? In dem Moment weiß ich, dass ich einen Fehler gemacht habe. Als wäre ich zu schnell auf die Straße getreten, ohne vorher nach rechts und links gesehen zu haben, sodass mich nun der Laster erfasst und in die Luft geschleudert hat. Zukunft ade.

Chapter 2

Obwohl meine Gedanken wie wild in meinem Kopf umher-schießen fällt mir auf, dass meine Atmung noch immer ganz gleichmäßig ist und ich innerlich ganz ruhig bin. Ich fühle mich komplett zerrissen: mein Körper, der völlig bewegungsunfähig aber tiefenentspannt zu sein scheint, und mein Geist, der einfach nur weglaufen möchte. Wie aus einer fernen Galaxie höre ich plötzlich die Stimme des Meisters: „Mit dem nächsten Atemzug kommen wir wieder zurück ins Hier und Jetzt. Wenn du soweit bist, öffne deine wunderschönen Augen und komme wieder hier an, in einen völlig neuen Körper in einer völlig neuen Welt.“

Alles wird plötzlich schwarz um mich herum und es dreht sich. Mir wird heiß und kalt und ganz schwindlig. Was passiert hier eigentlich mit mir? Ich möchte heim! Das Drehen wird langsamer, deshalb öffne ich vorsichtig meine Augen. Ich erschrecke, denn mein Meister steht nun direkt neben mir und hat sogar eine Hand auf meine Schulter gelegt. „Hallo zurück“, sagt er mit einem unglaublich sinnlichen Lächeln im Gesicht. „Ich glaube, du hattest heute wohl schon eine ziemlich intensive Trance-Erfahrung, richtig?“

Ich bekomme irgendwie überhaupt keinen Laut aus mir heraus und sitze noch immer wie erstarrt auf diesem Stuhl. Was ist hier los, wo ist die tote Frau, schießt es mir durch den Kopf. Ich versuche zu ihr hinüberzuschauen, aber leider steht mein Meister direkt im Blickfeld und ich kann nur ihre Beine sehen. Plötzlich bewegen sich diese Beine, und als ich mich nach vorne beuge – ja, ich kann mich auch wieder bewegen – kann ich erkennen, dass sie lebt. Ich muss sie wohl angestarrt haben, als wenn mir ein Geist begegnet wäre, denn sie greift sich ganz unsicher ins Gesicht und fragt: „Hab ich da etwas? Ist alles in Ordnung? Habe ich vielleicht gesabbert?“

Der Meister dreht sich zu ihr um und sagt lächelnd: „Nein meine Liebe. Ich glaube Marie hatte nur eine sehr intensive Trance-Sitzung und braucht noch ein paar Minuten, um wieder ganz bei uns anzukommen. Wenn du bereit bist, kannst du gerne schon gehen. Wir sehen uns in einer Woche wieder hier. Bleib bei deiner Vision, meditiere täglich und du wirst sehen, du kommst deinen Zielen Schritt für Schritt näher.“

Freudig umarmen sich die zwei kurz und schon hat die Frau den Raum verlassen. Von der Ferne höre ich, dass die Eingangstür ins Schloss fällt.

Ich bin immer noch verwirrt und mein Kopf fühlt sich einerseits total leer an, andererseits springe ich von einem Gedanken zum anderen. Habe ich das alles nur geträumt? War die Frau gar nicht tot? Oder ist das alles hier jetzt ein Traum? Könnte mich bitte mal jemand kneifen, damit ich weiß, dass ich wirklich wach bin?

Als ob mein Meister meine Gedanken gelesen hat, kommt er direkt auf mich zu und schüttelt mich ein wenig an der Schulter. Ich bin also wach, das heißt, das andere muss ein Traum gewesen sein. Oder? Ich bin noch so in meinem Gedanken vertieft, dass ich gar nicht bemerke, dass mich mein Meister ganz vergnügt dabei beobachtet. „Manchmal ist es schon ganz schön verwirrend, wenn wir uns auf eine Reise zu uns selbst machen. Möchtest du mir vielleicht von deinen Erlebnissen erzählen? Ich bin übrigens Marcel.“

Nein, möchte ich nicht, kann ich nicht. Was würde er von mir denken, dass ich solche Gedanken habe. „Nein,“ kommt es sehr zögerlich und leise über meine Lippen, „danke, es geht gleich wieder. Ich bin nur etwas benommen, die Übung war wirklich sehr – intensiv.“

Als ich aufstehe, wird mir gleich wieder schwindlig und ich falle genau in Marcels Arme, der noch immer direkt neben mir steht. Wie muskulös seine Arme sind.

Marie, bist du sicher, dass alles in Ordnung ist? Möchtest du lieber noch ein wenig hierbleiben und dich hinlegen?“

Nein, auf gar keinen Fall. Ich brauche jetzt erst mal frische Luft, um das, was hier gerade passiert ist ein wenig zu verdauen. „Danke, es geht, wirklich.“ Ich löse mich aus Marcels Armen, schnappe meine Jacke und mache mich mit weichen Knien sofort auf den Weg zum Ausgang.

Marie, warte!“, ruft mir Marcel nach.

Mein Herz bleibt kurz stehen. Was will er denn noch von mir?

Du hast deine Tasche vergessen.“

Ich spüre, wie mir eine leichte Röte ins Gesicht steigt. „Danke!“

Bis nächste Woche. Du kommst doch wieder, oder?“

Ja klar“, antworte ich fast ein wenig zu bestimmt. In Wahrheit will ich eigentlich nur weg von hier und nie mehr wieder herkommen.

Chapter 3

Auf der Straße vor dem Zirkelwirt, jenem Gebäude, in dem ich gerade war, herrscht reger Betrieb. Um die Ecke gibt es eine sehr beliebte Eisdiele, und an so einem herrlichen Frühlingstag ist die Schlange von Eisliebhabern sehr groß. Wie ferngesteuert bahne ich mir meinen Weg durch die Menge. Ich brauche jetzt ganz dringend Ruhe und ein wenig Zeit für mich und meine Gedanken. Es sind nur wenige Meter bis zur Salzach, dem Fluss der sich wie eine Lebensader durch Salzburg zieht. Man kann hier stundenlang spazieren gehen. Leider haben diese Idee bei so einem Wetter auch noch viele andere Menschen und es wimmelt geradezu. Überall Lachen, schreiende Kinder und Touristenführer, die ihren Gruppen die beeindruckende Geschichte der Stadt näherbringen wollen. Das ist mir eindeutig zu viel und ich beschließe deshalb, auf den nahe gelegenen Kapuzinerberg zu gehen. Das ist einer von den Stadtbergen, die Salzburg so speziell machen. Man ist zwar mitten in einer Stadt, aber nach nur wenigen Metern in fast alpinem Gelände. Auf diesen Stadtbergen gibt es sogar immer wieder Unfälle, weil Menschen unvorsichtig sind und abstürzen. Ich entscheide mich heute für einen nicht so beliebten Weg, um ein wenig Zeit für mich zu haben. Der herrliche Frühlingstag, die warmen Sonnenstrahlen und die wunderschöne Natur lassen es gar nicht zu, dass ich negative Gedanken habe. Auf einem kleinen Plateau steht eine alte Parkbank, die geradezu zum Verweilen einlädt. Erschöpft lass ich mich darauf nieder und blicke auf die Stadt Salzburg zu meinen Füßen. Sogar den Zirkelwirt kann ich von hieraus sehen. Sofort wird mein Puls wieder schneller. Was war hier wirklich geschehen? Ich bin immer noch total durcheinander und weiß nicht, wie ich das Geschehene einordnen soll. Ich habe die tote Frau doch eindeutig gesehen! Und ich habe doch auch gehört, wie ihre Atmung immer röchelnder wurde. Das konnte ich mir doch nicht alles eingebildet haben? Andererseits war sie ja wirklich quietschlebendig aufgestanden und aus dem Raum gegangen. Und Marcel – dieses böse Funkeln in seinen dunklen Augen. Danach war er so lieb und fürsorglich. Meine Fantasie muss mit mir durchgegangen sein. Super, Marie, wirklich super. Da zahlst du viel Geld dafür, dass du lernst dich zu fokussieren, um deine Ziele zu erreichen, und dann träumst du einfach weg. Gut gemacht! Wahrscheinlich hat meine Mutter recht und ich bin einfach eine Träumerin.

Eine Gruppe japanischer Touristen reißt mich aus meinen Gedanken. Müssen die wirklich alles hier in Salzburg erkunden? Wie eine Horde Heuschrecken umzingeln sie mich und diskutieren lautstark miteinander. Nachdem mich einer der Herren auch noch darum bittet, von ihm und seiner Frau ein Erinnerungsfoto zu machen, ergreife ich die Flucht und gehe nach Hause.

Zu Hause angekommen lasse ich mir ein warmes Bad ein, stelle sogar ein paar Teelichter auf und mache ruhige Musik an. Auch wenn ich heute in meinen Augen eigentlich nichts geleistet habe, ist mir danach, mir selbst einfach etwas Gutes zu tun. Das Verwöhnprogramm verfehlt seine Wirkung nicht und ich schlafe an diesem Tag bereits sehr früh und erstaunlich ruhig und entspannt ein.

Mein Handy weckt mich am nächsten Tag unschön aus meinen Träumen. Verschlafen blicke ich aufs Display – meine Mutter!

Hallo Mama?“

Hallo Marie, wo bleibst du denn? Wir warten hier alle? Du hörst dich so verschlafen an. Du schläfst doch nicht noch?“

Was, welcher Tag ist heute? Und wie spät ist es eigentlich? Ich blicke nochmals aufs Display meines Handys: Samstag, 10.30 Uhr. Da fällt es mir wieder ein: Heute ist ja der Geburtstag meines Vaters und wir haben einen Familienausflug zum Mattsee geplant. Ich habe meiner Familie großartig angeboten, den Chauffeur zu spielen und sie alle pünktlich um 10.30 Uhr abzuholen. „Oje, Mama, es tut mir leid, mein Wecker … Ich …“

Du hast also verschlafen? Marie, wir haben uns auf dich verlassen! Und das an so einem wichtigen Tag! Mach dich fertig und komm – wir warten!“ Wütend legt sie auf.

Wie von der Tarantel gestochen schmeiße ich mich in eines meiner Kleider, bürste die Haare zu einem Zopf, schnappe meine Tasche und renne zum Auto. Das mir das ausgerechnet heute passieren muss ist zu ärgerlich. Das bestätigt meine Mutter wieder in ihrer Meinung, dass ich mein Leben nicht im Griff habe. Die Wartezeit an den Ampeln nutze ich, um mit ein wenig Make-up meine Erscheinung halbwegs ansehnlich zu machen, aber ich befürchte, es hilft nicht wirklich viel. Ich habe Glück und es sind kaum Autos unterwegs, deshalb biege ich schon wenig später in die Hauseinfahrt meiner Eltern ein. Nach der zu erwartenden Predigt meiner Mutter sitzen schlussendlich alle bei mir im Auto.

Chapter 4

Die Stimmung ist mäßig, nur mein Vater ist wie immer gut gelaunt. Ich bewundere seine Ruhe und Gelassenheit und seine stets positive Art. Er schafft es immer, aus jeder Situation das Beste zu machen. Und das obwohl er wirklich nicht immer ein einfaches Leben hatte. Sein Vater hat seine Mutter kurz nach seiner Geburt verlassen. Seine Mutter musste ihn und seine ältere Schwester ganz alleine großziehen. Da war kein Geld für eine tolle Ausbildung oder gar ein Studium übrig, deshalb wurde mein Vater zuerst Kellner, um die Familie finanziell zu unterstützen. Er konnte sehr gut mit Menschen umgehen, hatte immer einen lustigen Spruch auf den Lippen und war deshalb auch sehr erfolgreich. So erfolgreich, dass er sich nach ein paar Jahren seinen Traum, ein Medizinstudium, selbst finanzieren konnte. Der Rest ist Geschichte, denn obwohl er mittlerweile in Pension ist, wird er immer noch von Patienten um Rat gebeten. Er ist ein besonders guter Diagnostiker und gerade bei schwierigen, nicht ganz eindeutigen Fällen, liegt er sehr oft mit seinen Diagnosen richtig. Deshalb genießt er ein hohes Ansehen bei seinen Patienten aber auch bei seinen Kollegen.

Ganz anders ist der Rest meiner Familie: Meine Mutter will immer und überall im Mittelpunkt stehen. Und sollte das mal nicht so sein, läuft sie sofort wie ein eingeschnapptes kleines Kind weg und schmollt. Sie ist nicht nur sehr auf sich selbst konzentriert, sie hat auch ständig etwas zum Nörgeln, vor allen Dingen an mir. Meine Haare, meine Kleidung, mein Aussehen und natürlich meine nicht vorhandene Beziehung. Im Grunde mein ganzes Leben. Aber das wird sich ändern, liebe Mama, das wird sich bald ändern!

Meine große Schwester Klara, die brave und erfolgreiche. Bei ihr läuft immer alles perfekt ab: super Noten in der Schule, danach ein Jahr an einer Uni in England und im Anschluss ihr erfolgreiches Jus-Studium hier in Salzburg. Summa cum laude, versteht sich. Nebenbei hat sie sich auch noch den perfekten Mann geangelt, einen gutaussehenden, vermögenden Zahnarzt. Und nun wird fleißig am Nachwuchs gebastelt – fast schon kitschig so ein Leben. Ich verstehe mich zwar im Grunde ganz gut mit Klara, aber in den letzten Jahren haben sich unsere Leben so unterschiedlich entwickelt, dass wir wenig Gemeinsamkeiten haben.

Na ja, und dann gibt es mich – ich bin das schwarze Schaf der Familie. Ich habe mich im Gegensatz zu Klara schon in der Schule nicht so leichtgetan. Nicht das Lernen an sich war allerdings mein Problem, sondern ich war immer sehr schnell abgelenkt und habe deshalb vielleicht nicht immer die volle Aufmerksamkeit auf den Vortrag des Lehrers gelegt. Fast jeden Tag habe ich deshalb meine Bücher in der Schule vergessen oder wieder mal nicht gewusst, was wir als Hausaufgabe daheim erledigen sollten. Das hat meine Mutter regelmäßig zu Tobsuchtsanfällen getrieben. Aber ich habe es ja nicht absichtlich gemacht. Im Ausland war ich auch, aber anders als sich das meine Eltern für mich vorgestellt hatten: Gleich nach meinem Abitur bin ich meiner ersten großen Liebe ein halbes Jahr nachgereist. Er hat auf einem Schiff als Kellner gearbeitet. Für mich gab es dort nur eine Stelle als Abwäscherin in der Küche – aber was tut man nicht alles für die Liebe. Leider hat er das Ganze dann ein wenig anders gesehen und sich mit einer der aufgedonnerten Animateurinnen vergnügt. Mir blieb damals nichts anderes übrig, als heulend und reumütig wieder bei meinen Eltern einzuziehen. Etwas Gutes hatte meine Reise allerdings auch: ich wusste endlich was ich machen wollte; nämlich Dolmetscherin werden. Mir gefiel es so gut, am Schiff jeden Tag mit unterschiedlichsten Menschen und Kulturen zusammenzukommen. Allerdings fand ich es immer schade, wenn mein Gesprächspartner nicht so gut Englisch gesprochen hat und wir uns deshalb nicht richtig unterhalten konnten. Ich hatte in der Schule neben Englisch auch bereits Spanisch und Französisch, und Sprachen haben mich schon immer interessiert. Deshalb ist meine Entscheidung auch sehr naheliegend. Meine Mutter hätte sich lieber etwas Elitäreres für mich gewünscht, Medizin oder Jus zum Beispiel. Meinem Vater ist alles recht, solange ich es aus vollem Herzen mache. Na ja, und deshalb studiere ich nun schon seit einigen Semestern Englisch und Spanisch. Liebestechnisch tut sich bei mir derzeit wieder mal nicht viel, was meiner Meinung nach noch völlig im Rahmen ist. Meine Mutter ist da natürlich anderer Meinung. Sie hätte mich am Liebsten bald unter der Haube, damit ich nicht übrigbleibe, wie sie immer sagt. Als ob das heutzutage noch so wäre!

Wir sitzen noch gar nicht so lange im Restaurant des Schlosses Mattsee, von dem man einen sagenhaften Blick auf den darunter liegenden Mattsee hat, als ich eine bekannte Stimme wahrnehme. Als ich so durch den Speisesaal blicke, entdecke ich relativ schnell den kleinen drahtigen Mann, der mir gestern die Tür im Zirkelwirt geöffnet hat. Er sitzt zusammen mit ein paar anderen, eher älteren Herren an einem der Tische direkt beim Fenster. Sie diskutieren offensichtlich sehr intensiv, denn sie scheinen den Kellner gar nicht zu bemerken, der sie nach ihrer Bestellung fragen möchte. Mein Vater sieht auch zu dem Tisch hin und schüttelt den Kopf.

Was ist los, warum schüttelst du deinen Kopf?“, frage ich.

Ach nichts, diese Männer dort drüben. Ich kenne ein paar von ihnen noch von früher, als ich im Gasthaus gearbeitet habe, und sie gehörten nicht gerade zu meinen Lieblingsgästen.“

Das ist ungewöhnlich. Mein Vater kommt doch mit jedem Menschen gut aus.

Warum? Was ist mit ihnen?“ bohre ich nach.

Weißt du mein Schatz, sie gehören einfach zu der Art von Menschen, über die man gar nicht zu viel wissen möchte. Es wurde mir damals erzählt, dass sie zumindest teilweise irgendwie zum Orden der Illuminati gehören sollen und ein paar von ihnen auch im kriminellen Milieu unterwegs sind.“

Mir entfährt ein kurzer Lacher. „Die Illuminati? Ich dachte, das ist nur Fiktion und ein Film mit Tom Hanks?“

Das mag schon sein, ich glaube, so ganz sicher weiß das von uns zumindest niemand. Aber in Salzburg gibt es einige Orte, die dem Wirken der Illuminati zugesprochen werden.“

In Salzburg, die Illuminati? Das habe ich ja noch nie gehört. „Kennst du da welche?“ Mein Interesse ist geweckt, denn mystische Geschichten interessieren mich sehr.

Lass mich nachdenken, ja in Aigen das Hexenloch ist zum Beispiel so ein Ort, den du kennst. Es soll ein Kraftplatz sein und früher wurden dort angeblich geheime Treffen abgehalten. Aber genaueres weiß ich darüber auch nicht.“

Das Hexenloch kenne ich noch aus Kindheitstagen, wo wir viele aufregende Abenteuer erlebt haben. Es ist nämlich gar nicht so weit vom Haus meiner Eltern entfernt. Das Hexenloch ist eine kleine Höhle mit einem Wasserfall. Im Sommer, wenn der Bach nicht so viel Wasser führt, kann man hineinklettern und kommt in einen kleinen Raum. War das vielleicht der Raum, in dem diese Treffen veranstaltet wurden? Was haben die dort bei den Treffen wohl so gemacht? Also vorausgesetzt, es gab überhaupt solche Treffen oder einen Geheimbund.

Oder auch der Zirkelwirt in der Stadt, der führt sogar noch das Zeichen der Illuminati im Wappen.“

Jetzt hat mein Vater meine ganze Aufmerksamkeit. Der Zirkelwirt? Genau dort, wo mein erstes Treffen stattgefunden hat?

Die Tomatensuppe?“ Jäh werden wir in unserem Gespräch vom Kellner unterbrochen.

Ja, bitte zu mir“, fordert Klara den Kellner auf. Das Essen verläuft dann wie immer: Meine Mutter und Klara unterhalten sich, mein Vater und ich sind die Zuhörer.

Ich bin echt froh, als ich alle wieder zu Hause absetzen kann, zumal mir die Geschichte mit den Illuminati nicht mehr aus dem Kopf geht und ich gerne noch mit meinem Vater darüber gesprochen hätte.