Mattias Stolzenberg: BRANDUNGSMÄDCHEN/Leseprobe

Prolog

 

 

Langsam war ihm klar geworden, dass dieses hämmernde Geräusch, das schon die ganze Zeit an seinen Nerven zerrte, nicht in seinen Träumen vorkam, und auch kaum ein Bestandteil des frühmorgendlichen Fernsehprogramms sein konnte, das dumpf brodelnd aus dem alten Röhrenfernseher drang, der schräg neben seinen Füßen auf einer Holzkommode stand und in seinen jämmerlichen Gesichtsausdruck flimmerte. Jemand stand in dieser Herrgottsfrühe draußen und schlug genervt an die dünne Blechtür seines Wohnwagens. Er hörte das schwere Atmen einer übergewichtigen Person. Einer Person, die er nur zu gut kannte. Ohne zu antworten, rollte er sich vom Sofa und stieß beim Aufstehen eine Flasche Aquavit um, die er nachts besoffen neben dem Sofa vergessen hatte. Unverschlossen natürlich.

Unfähig, sich zu bewegen, sah er eine Weile der hellgelben Flüssigkeit hinterher, die langsam aus der Flasche troff und von den braunen Fasern seines Wohnwagen-Veloursteppichs gierig aufgesogen wurde.

„Ruben Bakker!“, kreischte die dunkle Stimme einer älteren Frau, die hinter der Wohnwagentür allmählich die Geduld zu verlieren schien.

„Wann schaffst du dir, verdammt noch mal, endlich ein eigenes Telefon an. Ich hab´s wirklich satt, jedes Mal von der Rezeption hierher zu laufen, wenn irgendein Irrer anruft, der so einen wie dich sprechen will!“

„So einen wie mich?“, murmelte er und schleppte sich schwerfällig zur Tür, riss sie auf und starrte in das runde Gesicht der Platzwartin. Und nur für den Bruchteil einer Sekunde hoffte er, dass dieses missmutig grienende Wesen, das nur aus riesigen dreidimensionalen Kugelkörpern zu bestehen schien, sich schlagartig in Luft auflösen könnte. Zerplatzen würde, wie der Rest seiner Träume. Seines Lebens. Aber diesen Gefallen wollte sie ihm nicht tun.

„Telefon!“, brüllte sie wieder, und als wenn er es immer noch nicht verstanden hätte, hielt sie sich noch die Hand mit dem abgespreizten Daumen und dem kleinen Finger an den Kopf.

„Boah! Stinkt das hier!“, setzte sie nach, als die warme Raumluft an Ruben Bakker vorbei ins Freie strömte.

„Ich komme gleich“, presste er hervor und schlug die Tür wieder zu. Draußen hörte er stampfende Schritte, die sich schleppend entfernten. Und er hörte ihr genervtes Fluchen. Holländische Schimpfwörter, die noch nicht einmal er kannte. Und das sollte etwas heißen.

Nachdem er sich eine Zigarette angesteckt hatte, hastig im Gehen geraucht und nur in Bademantel und Latschen auf der anderen Seite des Rasenplatzes in die enge grüne Telefonzelle geschlupft war, die einzige auf dem ganzen Mobilheimpark, hielt er sich müde den Hörer ans Ohr.

„Was gibt es, verdammt noch mal?“, raunte er übel gelaunt in die Sprechmuschel.

Erst hörte er gar nichts, dann glaubte er, ein leises Atmen zu vernehmen. Er wartete eine Weile und hatte dann plötzlich das Gefühl, dass derjenige auf der anderen Seite nichts Gutes wollte. Er war einfach wieder da, sein alter Polizisteninstinkt, sein untrüglicher Verteidigungswall, altbewährt und immer zuverlässig. Nein, er wusste, auf der anderen Seite der Leitung war eine wirklich gefährliche Person.

„Ruben Bakker, sind Sie das?“, sagte die tonlose Stimme.

Und er fuhr für einen Moment zusammen, weil er nicht nur die Stimme erkannte, sondern auch wusste, dass er recht gehabt hatte. Dieser Mann war wirklich gefährlich. Es war lange her, dass sie sich das letzte Mal gesprochen hatten, aber diese herzlose hochfrequente Stimme hatte er sofort wiedererkannt.

„Ja?“, antwortete er kurz und horchte in die Tiefe. Er kam sich ein wenig verloren vor, in seinem orangenen Bademantel, der genauso wie er schon bessere Zeiten gesehen hatte.

„Wir hoffen, es geht Ihnen da ganz gut, in ihrer Mobilheimsiedlung“, krächzte die hohe Stimme aus dem Hörer.

Eine Pause entstand und er dachte nach. War das eine Drohung? Sie wüssten schon, wo er wohnt? Und überhaupt benutzte der andere das erste Personalpronomen im Plural. Wir. Der andere hatte also bereits jetzt seine Zähne gezeigt und ihm deutlich gemacht, dass die Geheimgesellschaft, deren Sprecher er gerade am Telefon hatte, absolut keinen Spaß verstand. Aber das wusste er ja schon lange. Alles, was sie jetzt von ihm verlangen würden, überstieg das Vorstellungsvermögen eines normalen Menschen über Grausamkeiten und die tiefen Abgründe der menschlichen Seele bei Weitem. Wenn es denn überhaupt noch normale Menschen auf dieser Welt gäbe, was er bereits im Laufe seiner Dienstzeit bei der holländischen Kriminalpolizei ernsthaft angezweifelt hatte.

Er seufzte tief, holte noch eine Selbstgedrehte aus der Tasche des Mantels und zündete sie an. Das Knistern und der starke Rauch beruhigten ihn zusehends.

„Sie rauchen?“, hörte er die Stimme sagen.

„Hm“, brummte er nur.

„Rauchen ist gefährlich, Bakker“, sagte der Mann, und es kam ihm vor, als hörte er im Hintergrund ein leises Lachen. Ein leises hässliches Lachen.

„Was soll ich tun?“, fragte er müde und dachte an die halb volle Flasche Abdrifter Aquavit, die er gerade verschüttet hatte und von der er jetzt gut einen Schluck vertragen hätte.

„Ein alter Fall von Ihnen könnte uns Schwierigkeiten bereiten.“, erklärte die hohe Stimme.

„Soso.“, sagte er.

Er sog an seiner Zigarette und sah dem blauen Qualm hinterher, während er bereits in alter Gewohnheit das Gelände rund um die Telefonzelle mit seinem Blick ausspähte.

„Vor sechzehn Jahren. Das deutsche Mädchen. 1977. Diese Entführung auf Texel. Sie erinnern sich?“, fragte die hohe Stimme.

„Natürlich erinnere ich mich. Ich bin Pensionär und kein Greis“, erwiderte er rotzig und bemerkte, wie seine Hände feucht wurden.

„Ein Kommissar von Interpol rollt diesen Fall neu auf. Wir haben da eine Information zugespielt bekommen. Ein Däne. War bei der dänischen Reichspolizei äußerst erfolgreich bei der Aufklärung solcher alten Fälle. Ein echter Fuchs, ein Bluthund, der uns über diesen Entführungsfall zu nahe kommen könnte.“

Irgendwie hatte er das Gefühl, ein unsicheres Vibrieren in der sonst so kalten Stimme gehört zu haben.

„Und was soll ich da machen?“, fragte er heiser und hörte sofort ein unwilliges Schnaufen auf der anderen Seite der Leitung.

„Sobald dieser dänische Kommissar auf Texel seine Nase in diese alte Sache steckt, werden Sie sich an seine Fersen heften und nötigenfalls die ganze Schweinerei aufräumen. Haben Sie das verstanden?“

Wieder entstand eine Pause, in der er gedämpfte Stimmen im Hintergrund hörte. Er wusste, dass er sowieso keine Wahl hatte und räusperte sich ein paar Mal, um noch Zeit zu gewinnen. Zeit für die letzte Antwort, die er eigentlich gar nicht hören wollte.

„Endgültig aufräumen?“, fragte er leise.

„Genau so, alter Freund!“, hauchte die Stimme, die ihm jetzt noch höher und seltsam fremd erschien.  Dann legte der andere auf. Ohne Gruß. Ohne ein letztes Wort, ohne Mitleid oder irgendetwas, was ihm die andere Seite da drüben auch nur bruchstückweise erhellen sollte.

Lange stand er einfach nur so da und horchte, ob ihm der klare Amtston im Hörer noch irgendetwas sagen konnte. Ob dieses nervige Freizeichen nun den Anfang oder das Ende vom Rest seines Lebens bedeutete und ob es überhaupt möglich war, dass er nur durch die Berührung einer Waffe, diesem so geliebten kaltblütigen Schaudern am glatten Metall, dass er sich dadurch wieder lebendig fühlen würde. Wie früher. Wie immer. Und dass er dann wieder auf die Jagd gehen könne, seinen alten Instinkten folgen, leben oder nicht leben lassen. Die alte Frage. Seine alte Frage.

Er starrte durch die angelaufenen Scheiben auf den leeren Rasenplatz, an dessen Ende sein Wohnwagen stand und ihn wie ein vertrocknetes Insekt anglotzte.

„Scheiße, die Makarow und die Munition“, murmelte er leise. „Und wo ist dieser verdammte Schalldämpfer geblieben?“

 

1

 

Gefährliches Spiel

 

Pellworm

 

Es war kalt. Bitterkalt. An diesem Tag war das Grau der Brandung noch intensiver, noch bedrohlicher als sonst im Winter. Nur die tintenblauen Regenwolken über dem Horizont und die strahlend weißen Gischtzungen traten deutlich hervor. Der Novemberwind hatte aufgefrischt und kam pulsierend aus Westen, genau von vorn, direkt in ihre Gesichter.

Es war einer dieser Tage, an denen sich andere siebzehnjährige Mädchen in ihre Zimmer verkrochen, sich zwickende Flechtfrisuren oder Space Buns machten, Songs von Ace of Base oder Culture Beat summten, verheulte Tagebücher bemalten oder sich Clerasil auf die verpickelten Stirnlandschaften pinselten.

Die beiden Freundinnen auf dem Deich hatten etwas ganz anderes im Sinn. Sophie und Greta beobachteten die Brandung. Seit etwa zwanzig Minuten harrten sie dort schon aus. Der eiskalte Wind umschlich ihre Neoprenanzüge wie der eisige Atem eines Grönlandtiefs. Greta hatte sich ihr Surfboard vor die Brust geklemmt und spähte unruhig an ihren eisverkrusteten Wimpern vorbei auf die raue See. Neben ihr sah Sophie aus wie ein riesiger spargeldürrer Leuchtturm. Die schlanke Blondine überragte ihre rothaarige Freundin fast um eine Kopflänge.

„Pat und Patachon!“, ätzte die rote Greta immer mit einem Augenzwinkern, wenn sie sich gemeinsam Fotos ansahen, auf denen Greta wie die kleine glühende Schwester von Sophie aussah.

Aber wenn es um das Meer ging, um das Abenteuer, um die höchste Welle, die beste Linie am Kamm des schäumenden Grau, dann waren sie sich ebenbürtig, gleichsam fanatisch, abenteuerhungrig und aufsässig und jagten fast unaufhaltsam den besten Wellen hinterher, bis sie bibbernd und schlotternd endlich wieder aus der Dünung kamen und mit ihren roten Gesichtern prustend und lachend über den Rasen und den Deich wieder zum Hotel rannten.

 

Heute war der Westwind besonders wild. Die Unterwasserströmung zog unbarmherzig nach draußen. Ins Nichts. Nur ein paar Bohrinseln noch, die wie minimalistische Industriedenkmäler auf dem tiefgrauen Horizontstrich tanzten, dann kamen fast fünfhundert Seemeilen offenes Meer bis nach England.

Die Nordsee hatte sich jetzt endlich aufgeschaukelt, aufgepustet wie ein Drache, den sie reiten wollten. Und sie sprangen gemeinsam in das Eiswasser. Sophie hatte nach einer knappen Minute schon die dritte Wellenreihe erreicht. Ab hier wurde die Strömung zu gefährlich. Greta war hinter ihr geblieben, wagte einen kurzen Sprint auf einer mickrigen Welle und Sophie lachte sie aus, nahm selbst eine gigantische graue Wand aufs Korn, die wie ein Ozeanriese auf sie zu rollte, es wurde still und Sophie sprang aufs Board. Sie genoss den Moment, fand eine gute Linie und bretterte auf den Strand zu. Aber seltsamerweise grollte das Meer unter ihr nicht nur, ein helles Pfeifen hatte sich unter das Raunen gemischt. Ein Fremdkörper. Hohe streichende Töne, ein vibrierendes Timbre. Sophie glitt geschmeidig an kleinen Eisschollen vorbei auf den Deich zu, der rot-weiße Leuchtturm dahinter diente ihr als Marke. Die Töne hinter ihr wurden heller, die Welle glatt und schnell, und Sophie schoss elegant durch den Wellentunnel, auf der Barrel durch die Pipeline. Sophie liebte die Gestik dieser fremden Begriffe. Gerade als sie die Betonsperren am Strand erreichte und sie im seichten Wasser wieder absprang, wurde ihr klar, was sie da die ganze Zeit hörte. Diese hohen Töne waren Schreie. Aus dieser außerordentlichen Brandung, diesem epischen Teppich aus meterhohen Wellen, grüngrauen Wassermassen, diesem prickelnden und eiskalten Spektakel kamen verzweifelte glasklare Hilferufe.

Erst suchte sie für einen kurzen Moment den Rasenstrand nach anderen Surfern oder zufällig auftauchenden Spaziergängern ab. Aber bei dieser Eiseskälte trieb sich niemand freiwillig am Deich oder gar im Wasser herum. Sophie spürte die aufkommende Angst. Wie eine brechende Monsterwelle prallte eine fordernde Kraft auf ihren Brustkorb und nahm ihr den Atem.

Sie starrte auf die Brandung, auf den Wellenteppich. Es dauerte ein paar Sekunden, dann sah sie etwas Oranges aufleuchten, weit hinter der dritten Wellenreihe, schon beinahe an der Sandbank, die unter Wasser den Küstenbereich von der offenen See trennte. Jeder, der hinter die Sandbank geriet, war verloren. Die ablandigen Strömungen rissen sogar Rettungsschwimmer aufs Meer hinaus.

„Greta!“, brüllte sie. „Um Himmels willen, Greta!“

Immer wieder tauchte die rote Greta zwischen den Wellen auf und winkte hektisch mit den Armen. Das Board war jetzt verschwunden, und ohne Rettungsweste war sie in der schäumenden Weite nahezu unsichtbar geworden. Ein winziger schwarzer Fleck. Ein tanzender Schatten, hilflos, herrenlos und verloren.

Fast an der Sandbank, dachte Sophie hektisch. Und das war auch schon der letzte klare Gedanke, der Sophie durch den Kopf ging, als sie kurz entschlossen mit dem Surfboard wieder ins Meer sprang und wie verrückt aufs offene Meer hinaus paddelte. Sophie kannte die Gefahren, die kleinen messerscharfen Eisschollen, die überall trieben, sie kannte die Grenzen, das mögliche Kollabieren, die kalte Müdigkeit und wusste, wie schnell man hier draußen sterben konnte. Höchstens ein paar Minuten blieben ihr, selbst mit dem dicken Neopren, bis sie umkehren müsste, bis ihr Leben auf einen minimalen Rest heruntergekühlt und alle brennbaren Zuckerreserven aufgebraucht sein würden. Ein paar Minuten, für ihre Greta, für die flammende Greta aus Kasibor, die ihr Leben lang nur von Italien geträumt hatte und auf dieser langsamen Insel in Nordfriesland gelandet war.

Sophie war eine ausgezeichnete Schwimmerin und hatte so etwas wie einen natürlichen Kompass als siebten Sinn. Hatte sie einmal eine Richtung, konnte sie nichts auf der Welt von diesem Weg abbringen. Erst nach der Sandbank erreichte sie Greta, die erschöpft ihre Arme sinken ließ und wusste, dass sie nun beide verloren waren.

„Du blöde Kuh!“, schrie Greta. „Warum tust du das? Jetzt musst du auch sterben!“

Sophie zog ihre Freundin wortlos hinter sich aufs Board und wendete. Jetzt konnte auch sie sehen, dass die Lage aussichtslos war. Die Wellen hatten sich zwar ein wenig beruhigt, aber sie waren auf das offene Meer hinausgetrieben und befanden sich längst hinter der rettenden Sandbank. Zudem wusste Sophie, dass gerade jetzt die Ebbe einsetzen würde und das Wasser zusätzlich in Windeseile vom Land weg ziehen müsste.

„Heute wird nicht gestorben!“, sagte Sophie mit ihrer festen Stimme und begann ruhig und gleichmäßig mit beiden Armen zu paddeln.

Die Dünung ließ nicht nach, aber langsam verzog sich der Dunst über den Wellen. Ohne dagegen etwas tun zu können, drang die Winterkälte allmählich durch den Neoprenanzug. Sophie spürte ihre Füße und die Hände nicht mehr, aber sie kraulte weiter, obwohl sie sich sichtbar von der Insel entfernten. So gut es ging, beruhigte sie Greta, die unter ihr lag und die noch immer atmete. Noch hatte sie nicht verloren.

„Niemals!“, grollte Sophie. „Niemals gebe ich auf. Das schwöre ich!“

Der Leuchtturm war nur noch ein Winzling, eine kleine blitzende Bartstoppel am Ende der Wellenwüste, als Sophie ein neues, ein bekanntes Geräusch vernahm. Ihre Angst war ohnehin schon verschwunden und einem rhythmischen Funktionieren gewichen. Ihre Gedanken waren trübe geworden und Sophie ruderte noch schwach mit den Armen, aber dieses Geräusch machte ihr auf eine seltsame Weise Mut. Und es kam näher. Ein weißer Rumpf trennte die Wellen, durchschnitt das ewige Grau und endlich sah sie es: Ein Motorboot hielt direkt auf sie zu.

Als das breite Sportboot näher gekommen war, erkannte sie den Mann am Steuer. Dass sie sich über Blohms zerknitterte Miene einmal so sehr freuen würde, wäre ihr wohl sonst nie in den Sinn gekommen. Aber er war da. Der glatzköpfige Blohm. Der Gastwirt vom Hafen, der Bürgermeister, der Hilfspolizist, dieser mysteriöse grimmig schauende Mann, der immer zur Stelle war, wenn irgendwo jemand Hilfe brauchte. Nur diesmal war es alles andere als unheimlich. Es war ein Segen, wie eine warme zweite Geburt, als er Sophie und Greta mit seinen kräftigen Händen an Bord zog, sich wie irre freute und jeder von ihnen einen dicken Haufen Wolldecken über die schlotternden Schultern legte.

 

 

2

 

Heldenmut

 

Halbinsel Holnis bei Flensburg

 

Die Sitze waren noch unbequemer, als sie aussahen. Rotes Kunstleder. Ein verdichtetes Gebräu aus künstlichen Fasern und Lederfetzen. Im Sommer klebten einem die Klamotten am Rücken und jetzt im Winter hatten die Vordersitze des alten Opel den knorrigen Charme einer eingefrorenen Parkbank. Der verdammte Frost schlich sich erbarmungslos durch den Wagen, durch mein Bewusstsein und fast widerstandslos durch meine Merlin-Stafford-Wachsjacke. Seufzend startete ich den Motor. Das klappernde Geplärr zog um die Häuser, genauso wie meine Gedanken. Trübe, blechern und müde.

„Mein erster Tag bei Interpol“, hörte ich mich schnaufen. „Und ich sitze nachts vor meinem eigenen Haus in dieser alten Rostkarre, friere mich zu Tode und könnte einfach nur so vor mich hinkotzen!“

Dass sie tot war, konnte niemand mehr ändern. Und dass ich mich in meinem tiefsten Inneren furchtbar dafür schämte, sie nie mehr besucht zu haben, konnte auch niemand ändern. Ich war eben ein grober undankbarer Klotz, ein Scheiß-Sohn, wie sie mir immer geschrieben hatte, so eiskalt wie die hart gefrorenen Autositze, auf denen ich gerade unruhig herumrutschte.

Ich fühlte über den dünnen Rand des Bakalit-Lenkrades vor mir. Es war knochig, kalt und leblos, wie Gebeine. Wie ein Gruß aus der Unterwelt.

Die Nacht war grausam gewesen. Ich hatte fast gar nicht geschlafen und mir das Hirn zermartert. Mal sah ich ihr Gesicht direkt vor mir, dieses kalkweiße hämische Mutter-Lächeln, das ich nun nie wieder loswerden würde. Dann tauchte mein alter Schreibtisch bei der Reichspolizei in Kopenhagen vor meinen Augen auf und ich wunderte mich, wo das ganze Chaos geblieben war, das ich während meiner Dienstzeit dort angehäuft und redlich gepflegt hatte. Immer wieder war ich aufgewacht und hatte dann im Halbdunkel auf die alte Akte geschielt, die ich abends neben mir auf die Matratze gelegt hatte. Der erste Fall bei Interpol. Die erste tiefrote Akte. Ein deutsches Mädchen war verschwunden, auf Texel, vor einer halben Ewigkeit.

Immer wieder hatte ich die Augen zugepresst, und immer wieder waren sie aufgesprungen, zuverlässig und genauso lästig, wie knarrende Sprungfedern. Eigentlich war mein erster Tag bei Interpol eine beschissene Nacht. Eine durchwachte Nacht, in der ich entweder aus dem Fenster in die mondleere Dunkelheit oder auf das stockige Deckblatt eines sechzehn Jahre alten Entführungsfalls glotzen musste.

Jetzt saß in meinem Wagen, ließ den Motor warmlaufen und musterte die leere Straße vor mir.

Bei dem dünnen Ingenieur drüben war alles noch dunkel. Der orange Lichtkegel der Straßenlaterne, die genau zwischen unseren Häusern stand, schien uns genauso brüchig zu verbinden, wie wir uns kannten. Seit er gegenüber in das alte Reetdachhaus gezogen war, standen wir manchmal am Zaun und redeten. Zaungespräche. Ein Ingenieur aus Kopenhagen. Keine Frau mehr und die Tochter lebte in einem Hippie-Dorf in Palo Alto. Ein verdammtes Kaff im Nirgendwo. Im Dunstkreis von San Francisco. Natürlich. Hippies und Kiffen, das siffige Pärchen, das nie alt wird. Mal wollte sie Geld, mal Anerkennung, mal Respekt, meistens wollte sie aber nichts von ihm wissen. Er störte ihren Wagenburgtraum in Palo Alto und ihr ausgependeltes Karma.

 

Zeterndes Vogelgeschrei riss mich aus meinen Gedanken. Der graublaue Himmel über mir spuckte noch ein paar Schatten aus. Eine Formation verspäteter Wildgänse glitt meckernd durch den eiskalten Novemberhimmel. Ich kurbelte das Fenster herunter und sog die frostige eiskalte Luft ein.

„Das ist doch alles viel zu spät!“, brüllte ich der schnatternden Gänseformation hinterher.

Gegenüber ging Licht an. Ich schämte mich und wollte sofort wegfahren, Augen zu und abhauen. Aber der dünne Mann war schneller und schlurfte bereits in seinem gestreiften Morgenmantel, in Latschen und mit seinem winterlichen Jesuslächeln über die Straße direkt auf mich zu.

„Wo …, wo willst du denn hin?“, fragte er schläfrig und mit belegter Zunge, als hätte er ein Bier zu viel gehabt.

„Und wieso brüllst du hier so rum?“

„Tut mir leid“, sagte ich kleinlaut.

„Tut mir leid nützt mir nix, mein Freund von der anderen Straßenseite. Es ist mitten in der Nacht“, erklärte er mir und legte seinen Kopf etwas schräg, als erwartete er nun eine plausible Antwort von mir.

„Der Brief“, murmelte ich.

„Aha. Geht das schneller, es ist verdammt kalt hier, Herr Nachbar.“

„Der Brief von der Pathologie aus Hjerting ist gestern gekommen“, schnaufte ich. „Ich kann sie mir heute ansehen.“

„Ah verdammt, ich Idiot“, entschuldigte er sich und schien im orangenen Schein der Straßenlaterne einen tiefroten Kopf zu bekommen. „Du … Du hast ja … Du musst ja deine Mutter …“, stammelte er.

„Identifizieren!“, unterbrach ich ihn. „Genau, mein Lieber. Und da hab ich halt aus Versehen mal gebrüllt.“

„Natürlich, und ich entschuldige mich“, erklärte er leise.

Seine schlackernden Morgenmantelarme fuhren senkrecht ausgestreckt auf mich zu und ich konnte gerade noch rechtzeitig Gas geben, bevor er seine dünnen Ingenieursarme durch mein geöffnetes Fenster schieben konnte. Im Rückspiegel sah ich ihn kopfschüttelnd mit seinem Latschengang über den Kiesweg wieder in seinem Reetdachhaus verschwinden.

 

Die hügelige Landschaft versteckte sich noch in der blauen Dunkelheit, aber auf den Höfen brannten schon Arbeitslampen, die als Spiegelbilder vor mir in der Windschutzscheibe tanzten.

Ich folgte dem stillen Asphalt der Landstraße, deren tiefschwarze Linie direkt auf einen schmalen Streifen glutroten Morgenhimmel zeigte. Im Armaturenbrett klapperte der Blechaschenbecher im Takt der Risse im Straßenbelag. Schnurgerade lief der tiefblaue Asphalt unter der Kühlerhaube heraus und bekam in der Dämmerung langsam einen schimmernden Glanz.

Ich war schon in Dänemark, als es hell wurde. Heidekraut und Kiefern, Heimatduft. Ribe tauchte auf, einmal um die rührige Kathedrale herum und dann war die Hauptstraße verstopft. Verkehrskollaps. Ein kolossaler Stau. Die ganze Stadt schien durch dieses Nadelöhr zu wollen. Ich hielt hinter einem blauen Lieferwagen und stellte den Motor ab.

Hübsche Häuser mit Fachwerk zierten die Straße und dazwischen der nutzlose zum Stillstand gekommene Autokorso. Ein paar Fahrer waren ausgestiegen. Einige rauchten. Einige standen zusammen und diskutierten. Es roch unangenehm nach angesengtem Holz. Mit müdem Blick kurbelte ich das Seitenfenster wieder hoch und überlegte, was ich mit der Zeit anfangen könnte. Ein paar aufmunternde Gedanken über die Zukunft? Oder ein Blick in die Straßenkarte? So tun, als wäre nichts gewesen? Immerhin war meine Mutter gestorben und das konnte doch nicht spurlos an mir vorbeigehen. Verdammte Sackgassengedanken! Ich fühlte rein gar nichts, verdrehte die Augen und beobachtete mich selbst im Rückspiegel. Ein Pärchen blauer Augen glotzte rot gerändert in meine Richtung. Bullenaugen.

Irgendwo hinter mir hörte ich dann hektisches Knirschen. Es kam näher und ich wurde wach. Im Außenspiegel tauchte ein Polizist auf. Ich konnte sein Keuchen hören, mahlendes Schnauben. Sein glutrotes Gesicht hetzte vorbei. Er rannte, atmete hastig, ruderte mit den Armen, hilflos und wabernd. Seine Schritte hallten über das Kopfsteinpflaster. Ich sah ihm hinterher, bis er aufgeregt irgendwo hinter dem blauen Lieferwagen aus meinem Blick verschwunden war.

Es gab keine Sirenen. Kein Blaulicht. Nur ein unbestimmtes Stillsein. Noch nicht einmal ein Windhauch oder so etwas wie Vogelzwitschern. Ich hatte kein gutes Gefühl. Es war diese Art von rätselhafter Stille, bei der man sein Herz pochen hört, lauter und lauter, man sieht nichts, hört nichts und man reibt sich in dieser distanzierten Ungewissheit auf. Immer mehr. Und so ein seltsamer Frost erfasst einen dann, eiskalt. Man will sich schütteln, weglaufen, aber nichts geschieht. Nichts. Nur das eindringliche Pochen an den Schläfen.

Ungeduldig rutschte ich auf dem roten Sitzpolster herum und kurbelte das Seitenfenster wieder herunter. Jetzt stank es nach Rauch und verbrannten Horn. Ich sah hinaus. Ein paar junge Männer hatten sich auf dem Bürgersteig zusammengestellt, unruhige Gestalten, einer hielt sich die Hand vor den Mund, sie standen etwas gekrümmt, gequält. Ich konnte nichts sehen, noch mehr Leute schoben sich plötzlich in den Weg.

Und dann platzte sie hervor, wie ein Paukenschlag, fast wie eine Erlösung. Eine Frau im mittleren Alter stürzte sich in ihrem weithin sichtbar angesengten roten Hosenanzug, am gesamten Körper dampfend, durch die Mauer der Schaulustigen hindurch und schrie. Im Angesicht ihrer tiefsten Verzweiflung formte ihr schräg stehender Mund so unmenschlich hohe Töne, so weit jenseits jeder Vorstellungskraft, dass mir sofort klar wurde, dass ich in den nächsten Sekunden eine schwere Entscheidung zu fällen hätte, ein Entscheidung auf Leben und Tod.

Ich riss die Tür auf, sprang aus dem Wagen und erreichte die Frau gerade noch, als sie zu Boden stürzte. Im letzten Moment bekam ich ihren Kopf zu fassen und verhinderte so den Aufprall auf dem Pflaster. Von irgendwo kamen gemurmelte Kommentare und ein grüner Mantel. Ich schob ihn unter ihren Kopf. Aus ihrem leicht geöffneten Mund stieg rhythmisch dunkler Rauch auf, sie atmete flach und als ich meine Hand von ihrem Kopf löste, verdrehte sie ihre Augen und blickte mich direkt an. Große grüne Augen, mit roten Sprenkeln, durchsetzt von Glutnestern und jähem Entsetzen. Ihr Blick war furchtbar und ewig. Und sie warf mir alles zu. Ihre Hoffnungen, ihre Wünsche, ihre Träume, ihre nackte Verletztheit und alles, was sie ausmachte und was ihr jemals etwas bedeuten würde.

„Ich wollte das nicht“, hauchte sie mir zu, flehend, als könnte ich ihr irgendetwas vergeben. „Ich hätte nie gedacht, dass so etwas passiert. Ich war so dumm.“

Sie griff nach meinem Arm.