Michael Bolten: Comando Cordobazo/Leseprobe

Teil 1

Vorbereitung

Samstag, 11. März 1978

„Guten Abend, Tommy Küpper. Herzlich willkommen im Aktuellen Sportstudio. Herr Küpper, Hand aufs Herz: Was ist heute für Sie aufregender gewesen, der 2:0-Erfolg am Nachmittag gegen die Löwen, bei dem sie beide Tore vorbereiteten, oder die Einladung ins ZDF-Sportstudio?“

Bestimmt der Auftritt im Sportstudio dachte Ursula, die gerade unschlüssig vor ihrem Schuhregal stand und nebenher einen Blick auf den Fernseher warf. So wie der rumzappelt.

„Herr Küpper, ich frage noch einmal: Sportstudio oder Fußballplatz?“

„Na gut, ich sage mal Sportstudio. Ich bin ja das erste Mal hier und das kam alles so plötzlich.“

„Wir müssen das erklären, denn wir haben Tommy Küpper mehr oder weniger direkt aus der Dusche geholt, um Ihnen heute Abend Fortunas jungen WM-Kandidaten präsentieren zu können. Herr Küpper, an dieser Stelle einen besonderen Dank für Ihre Bereitschaft, spontan zu uns ins Studio nach Mainz zu kommen.“

„Ja, sehr gerne. Und, ehrlich gesagt, das ist schon ein ziemlich aufregender Tag für mich. Am Nachmittag der Sieg gegen 1860 und jetzt erstmals im Fernsehstudio zu sitzen und nicht vorm Fernseher. Das ist etwas ganz Besonderes.“

„Für alle Zuschauer, die Tommy Küpper noch nicht kennen, will ich ihn kurz vorstellen: Thomas, genannt Tommy, ist gebürtiger Düsseldorfer und im Dezember 20 Jahre alt geworden. Er wechselte in der B-Jugend vom Garather SV, einem kleinen Düsseldorfer Vorortverein, zu Fortuna Düsseldorf. Im vergangenen Jahr hatte er großen Anteil daran, dass Fortuna Deutscher Amateurmeister wurde. Herr Küpper, Sie haben anschließend einen Profivertrag erhalten und sich bereits einen Stammplatz in Fortunas Mittelfeld erkämpft. Der Kicker zählt Sie seit Monaten zu einem aussichtsreichen WM-Kandidaten und heute absolvierten Sie ein überragendes Spiel mit zwei Torvorlagen. Sehen wir Sie im Sommer bei der WM in Argentinien glänzen?“

Ursula, die sich für die schwarzen Chucks entschieden hatte, beobachtete, wie Tommy von Harry Valérien vorgestellt wurde. Hier der Sportstudiomoderator in seiner lässigen Eleganz, hellgrauer Anzug mit einem dezenten Karomuster, schwarzes Hemd ohne Krawatte, dort der Jungprofi in einer hellblauen Jeans, T-Shirt, Socken und Turnschuhen – alles in Weiß. Sie sah, wie Tommy Küpper versuchte, immer tiefer in seinen schwarzen Drehstuhl zu sinken. Gleichzeitig kratzte er mit seinen Fingern nervös an seiner Jeans. Junge, wenn du so weitermachst, fährst du mit einer Cordhose nach Hause. Tommys dunkelbraune Haare standen in alle Richtungen ab. Sein buschiger Schnauzbart erinnerte sie an einen Seehund, den sie vor Kurzem zufällig in der Sendung Ein Platz für Tiere gesehen hatte.

„Ja gut, Argentinien, das ist ja noch einige Zeit hin. Ich bin erst mal sehr froh über unseren heutigen Sieg. Wir bleiben damit oben dran und sind Dritter oder Vierter.“

„Dritter, genau gesagt, denn Fortuna hat ein besseres Torverhältnis als die punktgleiche Hertha. Aber ich möchte noch einmal auf die WM im Sommer zu sprechen kommen. Ihr Lieblingsplatz ist im zentralen Mittelfeld. Sehen Sie eine Chance, sich bis Mai gegen Ihre Konkurrenten von Erich Beer über Rainer Bonhof und Heinz Flohe bis Josef Pirrung durchzusetzen und ein Argentinienticket zu lösen?“

„Ich habe heute zwei Tore vorbereitet und in dieser Saison schon acht Treffer erzielt. Als Mittelfeldspieler. In meiner ersten Profisaison. Das ist sehr ordentlich, finde ich. Ob das für ein WM-Ticket reichen wird, das kann nur der Bundestrainer Helmut Schön entscheiden. Aber natürlich werde ich die nächsten Wochen hart trainieren und alles geben, um in Argentinien für Deutschland dabei sein zu können.“

Ein Knacken, ein kurzer Blitz auf dem Fernseher und es war Ruhe. Ursula hatte dem Sportstudio ein abruptes Ende bereitet. Was für ein Milchbubi, dachte sie. Aber schon ein guter Spieler. Und Fortune. Und vielleicht bald in Argentinien. Oder vielleicht doch nicht?

Argentinien, Fußball, Folter, Menschenrechte, Lateinamerikagruppe. Ursula betrachtete sich noch einmal im Spiegel der ausladenden Frisierkommode, war aber nicht ganz bei der Sache. Normalerweise zubbelte sie vorm Spiegel ihren blonden Pony zurecht, bevor sie aus dem Haus ging. Doch unaufhaltsam entwickelte sich unter ihrem Pony ein Gedanke, der sie von der üblichen Routine ablenkte. Dabei war sie sich nicht sicher, ob sie den Gedanken wirklich zulassen sollte. Hin- und hergerissen und ein wenig geistesabwesend nahm sie ihren Parka vom Garderobenhaken, schnappte sich die schwarze Lackledertasche, ihre ständige Begleiterin, und trat in den dunklen Hausflur.

Wie erwartet, funktionierte der Lichtschalter im Treppenhaus nicht, aber selbst zum Fluchen war sie zu abgelenkt. Der Gedanke, der ihr während des Sportstudios gekommen war, ließ sie nicht mehr los. Sie knipste die Taschenlampe an, ging wie im Traum die knarzenden Holzstufen herunter und überlegte, ob sie die Idee nicht besser sofort unterdrücken sollte. Doch wie die bezaubernde Jeannie, der Dschinn, der nach mehr als 2.000 Jahren vom Astronauten Tony aus der Flasche befreit wurde, war diese Idee nun einmal ihren Gedanken entwichen. Und damit genauso präsent wie Jeannie und nicht mehr ungeschehen zu machen. Als sie durch die verzogene Haustür des ehemals prächtigen Altbaus auf die Straße trat, war sie sicher: Sie musste mit Monika und Petra darüber reden. Und zwar schnell.

 

Sonntag, 12. März 1978

 

„Hallo, mein Fernsehstar!“, sagte Andrea, bevor sie sich auf den Beifahrersitz fallen ließ und Tommy einen flüchtigen Kuss gab.

„Hallo, mein Sonnenschein“, erwiderte Tommy, streichelte seiner Freundin kurz über ihre Wange und gab Gas. Ein Blick auf die rote Omega, ein Weihnachtsgeschenk von Andrea, zeigte an, dass sie spät dran waren. Zu spät. Wenigstens hatte er daran gedacht, seine Freundin anzurufen und ihr mitzuteilen, dass er sie später als geplant abholen würde. Seine Eltern über die Verspätung zu informieren, ersparte er sich. Mecker gab es so oder so.

„Und du willst im Sommer nach Argentinien fahren? Oder sollte ich das gestern Abend falsch verstanden haben?“

„Na ja, das hast du schon richtig verstanden“, sagte Tommy und freute sich darüber, dass Andrea für seinen Auftritt das Sportstudio eingeschaltet hatte. „Sollte der Schön mich tatsächlich mitnehmen wollen, kann ich doch schlecht nein sagen, oder?“

„Nein, natürlich nicht. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob ich in dieses Land fahren würde. Da verschwinden Menschen einfach von der Bildfläche und werden später, wenn überhaupt, tot aufgefunden. Aber wahrscheinlich werdet ihr Fußballer besonders gut bewacht, damit euch nichts passiert. Genug Soldaten lungern da ja rum. Heißt bestimmt nicht umsonst Militärdiktatur.“

„Mach mal halblang. Erstens war die deutsche Nationalmannschaft letztes Jahr zu einem Freundschaftsspiel in Argentinien, ohne dass etwas passiert ist. Und zweitens gehöre ich laut Kicker zwar zu den möglichen WM-Kandidaten, aber die endgültige Entscheidung fällt erst im Mai. Wer weiß, was bis dahin noch alles passiert.“

„Okay, lassen wir uns überraschen und hören uns jetzt erst einmal die Gardinenpredigt deiner Eltern an, weil wir zu spät zum Mittagessen kommen.“

Tommy parkte den knallroten Commodore, den er zu einem Freundschaftspreis seinem Onkel Heribert abgekauft hatte, und die beiden beeilten sich. Er klingelte bei Küpper, der Summer ertönte prompt und sie hetzten die Treppe hoch. Hoffentlich steht die Suppe noch nicht auf dem Tisch, dachte Tommy.

„Da seid ihr ja endlich,“ schallte es ihnen bereits im Treppenhaus entgegen. „Die Suppe ist schon fast kalt, weil ihr so spät seid“, begrüßte Doris Küpper ihren Sohn und dessen Freundin. „Jetzt aber schnell an den Tisch.“

Dort saßen Heinz Küpper, der am Kopf des Esstisches seinen Stammplatz hatte, und Tommys jüngere Schwester Claudia. Beide löffelten bereits ihre Suppe.

„Hallo, ihr beiden.“

„Hallo, Bruderherz.“

„Guten Tag, Tommy. Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Du hättest ja wenigstens anrufen können?“

„Ist Andrea nicht mitgekommen?“, wollte Claudia wissen.

„Doch, aber du kennst sie. Sie ist erst einmal ins Bad gegangen, um sich die Hände zu waschen.“

Tommy stellte fest, dass das besonders gute Service mit dem Goldrand auf dem Tisch stand. Hatte er etwas verpasst?

„Wärt ihr pünktlich gekommen, wäre die Suppe noch heiß“, meckerte Doris Küpper weiter. „Aber das hat der Fernsehstar wohl nicht mehr nötig. Oder lag es mal wieder an der Lady in Black?“

Andrea, die sich mittlerweile neben ihren Freund gesetzt hatte, verleierte ihre großen dunkelblauen Augen in Tommys Richtung, sagte jedoch nichts. Mit dem Uriah-Heep-Song Lady in Black hatte er vor Jahren seine Mutter angeblich an den Rand des Wahnsinns getrieben. Weil das Stück zu seinen Lieblingsliedern gehörte, hatte er sich von seinem Taschengeld die Single gekauft, die er oft und vor allem laut auf seinem Dualplattenspieler laufen ließ. Doris Küpper bezeichnete Andrea so, weil sie ausschließlich schwarze Klamotten trug. Egal ob Schuhe, Hose, Pulli oder Mantel. Außerdem hatte sie schulterlanges nachtschwarzes Haar, das sie meist offen trug. Er hatte seine Mutter wiederholt gebeten, diese Bemerkung zu unterlassen, doch ihm fehlte nicht nur in diesem Punkt das richtige Durchsetzungsvermögen. Tommy hatte den Kaffee auf, bevor der überhaupt serviert wurde.

„Nu komm mal wieder runter, Mutter. Ich war gestern spät zu Hause, eigentlich erst heute. Konnte schlecht einschlafen und habe heute Morgen verpennt, ganz einfach. Es liegt also ausschließlich an mir, und ein kurzer Auftritt im Aktuellen Sportstudio macht noch lange keinen Fernsehstar aus mir.“

„Erzähl doch mal, wie es gestern Abend war“, versuchte Claudia das Thema zu wechseln.

„Puh, das war ganz schön anstrengend. Ich konnte mich ja überhaupt nicht darauf vorbereiten. Gerade noch stehst du mit deinen Jungs unter der Dusche und feierst, und im Handumdrehen sitzt du im Auto und wirst nach Mainz kutschiert. Immerhin gab es in der Kantine ein paar Schnittchen für mich. Während ich futterte, setzte sich der Valérien zu mir an den Tisch und wir plauderten über das Spiel und meine WM-Aussichten. Dann hat er mir den Ablauf der Sendung erklärt und versucht, mir meine Nervosität zu nehmen. Na ja, das ist ihm nur halb gelungen, glaube ich.“

„Stimmt, du warst ziemlich hibbelig. Warst du vorher eigentlich auch in der Maske?“

„Klar, die haben mich ordentlich eingepudert. Die wollten auch meine Haare in Form bringen, aber da habe ich gesagt: Nix da, die bleiben so struwwelig.“

„Und warum hast du nur einmal beim Torwandschießen getroffen? So wird das nichts mit Argentinien“, griff Heinz Küpper in die Diskussion ein.

Typisch Vater, dachte Tommy und war nun auch von ihm genervt. Hoffentlich ist das hier bald vorbei.

„Weißt du, Vater, das ist gar nicht so einfach. Die Scheinwerfer blenden, der Boden ist glatt und ich bin kein Kunstschütze. Darauf kommt es doch gar nicht an.“

„Worauf denn dann?“, mischte sich seine Mutter ein.

„Dass ich überhaupt da war und dass ich vielleicht als Nationalspieler mit zur WM nach Argentinien fahre. Darauf kommt es an.“

Mittlerweile beim Nachtisch angekommen, signalisierte Andrea, die sich bislang an der Unterhaltung gar nicht beteiligt hatte, ihrem Freund durch zwei auf der Tischdecke leise trommelnde Finger, dass sie so schnell wie möglich das Küppersche Heim verlassen wollte. Tommy ging es ähnlich und als seine Mutter fragte, ob sie noch auf einen Kaffee blieben, lehnte er das Angebot höflich aber bestimmt ab.

„Ich habe extra einen Kuchen gebacken. Was habt ihr überhaupt vor?“

„Wir gehen ins Kino“, meldete sich zum ersten Male an diesem Mittag Andrea zu Wort. „Wir gucken uns im Apollo den neuen Truffaut-Film: Der Mann, der die Frauen liebte, an.“

Tommy wusste zwar nichts davon, nickte aber zustimmend.

„Das ist ja ein blöder Titel. Da würde ich nicht reingehen. Das ist bestimmt total schlüpfrig. Und beim nächsten Mal sagt ihr vorher Bescheid, wenn ihr nur so kurz kommt. Dann kann ich mir das Backen nämlich sparen. Wer soll denn nun den ganzen Kuchen essen?“

„Ihr schafft das schon“, versuchte Tommy seine Mutter zu beruhigen, obwohl er wusste, wie zwecklos das war. Da half nur noch ein schneller Abgang. „Tschüss zusammen und danke für das leckere Mittagessen.“

„Tschö und gleichfalls danke“, ergänzte Andrea, bevor die zwei nach unten stürmten.

Draußen fragte Tommy: „Kino war jetzt nicht dein Ernst, oder?“

„Nee, natürlich nicht. Den Film habe ich gestern schon mit Heidi gesehen. Aber ich musste so schnell wie möglich raus und mir ist auf die Schnelle nichts anderes eingefallen. Und bevor du wieder rumeierst und dich womöglich auf einen Kaffee überreden lässt, musste ich handeln. Mensch, deine Eltern sind ja so was von anstrengend.“

Wohl wahr, dachte Tommy. „Was machen wir jetzt mit dem angebrochenen Nachmittag so ganz ohne Kaffee und Kuchen?“

„Also, wir fahren erst einmal zu mir. Dort ziehe ich andere Schuhe an und wir machen einen Spaziergang durch den Schlosspark. Anschließend koche ich uns einen Kaffee. Auf Kuchen verzichten wir. Den kannst du dir sowieso nicht erlauben, wenn du nach Argentinien willst. Abends können wir in der Schmiede noch eine Kleinigkeit essen. Einverstanden?“

„Guter Plan“, sagte Tommy, der sich wieder etwas abgeregt hatte und langsam durch den Regen Richtung Benrath zurückfuhr.

 

„Seid ihr im Training damals auch durch den Park gelaufen?“, wollte Andrea, die händchenhaltend mit Tommy die Enten im Schlossparkweiher betrachtete, wissen.

„Selten. Nur wenn beide Aschenplätze unter Wasser standen und wir auch nicht auf die Aschenbahn durften, sind wir zum Schlosspark gelaufen und haben da einige Runden gedreht. Ihr habt doch hier den ganzen Winter trainiert, oder?“

„Ja, egal bei welchem Wetter. Von Oktober bis Februar, März hieß es immer: Auf in den Park. An sich war das ganz schön, wenn wir zum Beispiel hier am Weiher langliefen. Blöd waren nur die Köter und dass manche Wege nur sehr spärlich beleuchtet waren. Vor allem in den engen Kurven musste man aufpassen, mit niemandem zusammenzustoßen. Und die vielen Ampeln auf dem Hin- und Rückweg vom Sportplatz nervten. Vorm Duschen haben wir meist noch ein, zwei Runden im Kraftraum gedreht. Und zu guter Letzt gab´s Doppelkopf im Vereinsheim. Manchmal hast du nach deinem Fußballtraining mitgespielt. Wahrscheinlich habe ich mich dabei schon ein bisschen in dich verguckt, obwohl du lieber mit Neunen gespielt hättest.“

Die beiden gingen wie so oft am Sonntag durch den Benrather Schlosspark spazieren, selbst bei Regen. Andrea setzte dann einen Hut auf, natürlich in Schwarz, und Tommy zog sich maximal die Kapuze seines Parkas über den Kopf. Er hatte schon als kleines Kind eine Art Mützenphobie entwickelt, die ihm später ärztlich bescheinigt wurde. Das war praktisch, denn der Hochleistungssportler Tommy Küpper wurde bei der Musterung für untauglich erklärt. Ein Soldat mit Mützenphobie konnte schließlich keinen Helm tragen.

Da der Regen nicht aufhören wollte, drehten sie nur eine kleine Runde und gingen zurück in die warme Wohnung. Als Erstes zogen sie sich trockene Sachen an und Andrea hängte die nassen Klamotten zum Trocknen ins Bad.

„Soll ich uns einen Tee machen, oder hättest du lieber einen Kaffee?“

Tommy, der sich fröstelnd die Hände rieb, entschied sich für Tee. „Eine bestimmte Sorte, oder darf ich aussuchen?“

„Du darfst ruhig den Vanilletee nehmen.“

Sie hielten sich meistens bei Andrea auf, denn die hatte die schönere Wohnung. Nicht größer, auch Tommy hatte eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit rund 60 Quadratmetern, aber ruhiger und mit Balkon, den sie im Sommer rege nutzten. Ihre Küche war zwar winzig, es konnte sich nur eine Person darin aufhalten, aber Andrea gönnte sich den Luxus einer Spülmaschine. Zudem war ihr Kühlschrank meist gut gefüllt. Im Sommer 1976, nachdem sie ihre Bankausbildung erfolgreich abgeschlossen hatte, zog sie aus dem Gemeinschaftszimmer, das sie sich mit ihrer kleinen Schwester Bärbel teilte, in die erste eigene Wohnung. Tommy zog erst ein Jahr später bei seinen Eltern aus. Nachdem er im Sommer 1977 seinen Profivertrag unterschrieben hatte, hielt ihn nichts mehr in Garath, einer überwiegend tristen Neubausiedlung im Düsseldorfer Süden. Er fand eine Wohnung in Flingern, in der Nähe des Flinger Broichs und ausgerechnet in der Birkenstraße, wo seine Eltern früher wohnten. Vorne fuhr die Straßenbahn und nach hinten hinaus blickte er über den Hof auf die Bahngleise. Immerhin durfte er seinen Commodore auf dem Hof abstellen. Von seinen ersten Profigehältern kaufte er sich ein Bett, eine Musikanlage und einen Farbfernseher. Das sonstige Mobiliar sammelte er, genauso wie Andrea, in erster Linie vom Straßenrand auf. Oft waren sie gemeinsam unterwegs, um den abgestellten Sperrmüll nach geeigneten Dingen zu durchsuchen, mit denen sie ihre Einrichtung vervollständigen konnten.

Andrea setzte Teewasser auf und entzündete überall in der Wohnung Kerzen, weil es draußen langsam dunkel wurde. Die Kerzen waren mal rot, mal blau, mal wächsern und von unterschiedlicher Breite und Länge. Mal standen sie auf Flaschenhälsen von bereits ausgetrunkenen Weinflaschen, mal auf Untertassen und eine thronte auf einem leicht angelaufenen ungefähr ein Meter hohem Messingständer, den sie beim Sperrmüll ergattert hatte.

„Was machen wir eigentlich heute Abend? Kochen wir, oder gehen wir essen?“

„Ich finde es ziemlich usselig draußen und würde gerne hierbleiben. Ich kann dir zwar kein großartiges Menü anbieten, aber wir könnten Pellkartoffeln mit Quark oder Bratkartoffeln mit Ei essen. Mehr gibt mein Kühlschrank heute nicht her.“

„Bratkartoffeln sind super. Das reicht.“

Andrea brachte den Tee in einer braunen Keramikkanne ins Wohnzimmer, das gleichzeitig als Ess- und Arbeitszimmer diente, und stellte die Kanne auf ein Metallstövchen. Das passte zwar nicht zusammen, auch die beiden Porzellanbecher stammten aus unterschiedlichen Serien, doch das störte sie nicht. Hauptsache jedes einzelne Stück gefiel ihr und erfüllte seinen Zweck. Außerdem stand dahinter immer eine eigene Geschichte. Der Vanilleduft zog durchs Zimmer und die beiden machten es sich auf dem roten Sofa mit den vielen bunten Kissen gemütlich.

„Wieso kann deine Mutter mich eigentlich nicht leiden? Ich habe ihr doch nichts getan.“

„Ich glaube, die könnte keine meiner Freundinnen leiden. In solchen Sachen ist die extrem komisch. Das liegt bestimmt nicht an dir.“

„Ich weiß nicht. Auf jeden Fall werden mich deine Eltern in Zukunft seltener sehen. Das tue ich mir nicht mehr an.“

„Nee, du kannst mich da unmöglich alleine hinlassen. Das ist Folter.“

„Nee, Folter gibts da, wo du im Sommer hinwillst. Apropos Folter: Was hältst du eigentlich von der politischen Situation in Argentinien?“

Obwohl Tommy befürchtet hatte, dass diese Frage irgendwann kommen würde, hatte er sich nicht darauf vorbereitet. Um Politik sollten sich andere Menschen kümmern, er nicht. Deshalb interessierte ihn die politische Situation im WM-Land des Jahres 1978 nicht. Auch bei seinen Mannschaftskameraden war das kein Thema. Niemand redete darüber. Schon gar nicht in der Kabine.

„Na gut,“ antwortete er seiner Freundin. „Wenn du mich so fragst, habe ich von der politischen Situation in Argentinien keine Ahnung. Und mit Folter kenn ich mich auch nicht aus. Ich würde einfach gerne mit den Jungs hinfahren und Fußball spielen. Vier Wochen bei den Gauchos, das wäre doch was, oder? Damit das klappt, hat der Weise für mich ein spezielles Trainingsprogramm entwickelt. Er hat gesagt, dass ich jeden Tag ein bisschen besser werden muss. Also werde ich mich die nächsten Wochen reinknien. Wer weiß, ob so eine Chance noch einmal kommt?“

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir dafür die Daumen drücken soll. Immerhin wären wir dann vier Wochen getrennt. Aber warten wir es ab.“

 

Montag, 13. März 1978

 

Ursula war wie üblich zu früh dran und die Destille ziemlich leer. Sie zog ihren Parka aus, hängte ihn über einen Stuhl und setzte sich mit dem Rücken zur Wand an einen kleinen etwas abseits stehenden Tisch.

„Ein Sprudel und einen trockenen Weißwein, bitte.“

„Riesling oder Grüner Veltliner?“, fragte die junge Kellnerin, die wie Ursula ein kariertes Männerhemd trug. Nur in einer anderen Farbkombination, nämlich schwarz-rot und nicht blau-gelb.

„Riesling.“

Ursula holte die Beauvoir-Biografie aus ihrer Tasche und versuchte zu lesen. Aber bereits nach wenigen Zeilen blickte sie erwartungsvoll Richtung Kneipentür, die mit einem schweren roten Vorhang den Innenraum vor dem kalten Märzwind schützte. Monika würde wie immer pünktlich sein und bald eintreffen. Petra käme angehetzt, aber trotzdem zu spät. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass der Tisch sauber war, legte sie das Buch aufgeschlagen auf dem Tisch ab. Sie holte ihren Tabak aus der Tasche, drehte sich eine filterlose Zigarette, zündete sie an, inhalierte tief und ließ ihren Blick durch die aufsteigenden Rauchkringel schweifen.

An der Theke saß ein Pärchen. Ursula schätzte beide auf Anfang 40, also rund zehn Jahre älter als sie selbst. Viel zu sagen hatten sich die beiden nicht. Sie tranken ihr Bier und starrten stumm auf die Regalwand mit den Spirituosen. Wahrscheinlich fragen sie sich später gegenseitig ab, an welche Marken sie sich erinnern können. Hoffentlich werde ich nicht so, dachte sie.