Morteratsch Leseprobe

Prolog

Die Szene hat sich unauslöschlich in mein Hirn eingebrannt. Beinahe jeden Tag denke ich daran, was damals passiert ist. Der ungewöhnlich warme Sommerabend. Der Film im Dorfkino. Wie ich sie danach abgepasst habe. Genau am richtigen Ort. An der einsamsten und dunkelsten Stelle auf ihrem Heimweg. Wie ich hinter der dicken Lärche gestanden habe.

Ich wollte sie doch nur in aller Ruhe betrachten! Wie sie mit wippenden Schritten um die Hausecke bog, an der langen Mauer vorbeiging, dann den Pfad zum Haus ihrer Eltern empor stieg … Ich hatte mir geschworen, verborgen zu bleiben, sie nur anzuschauen, ihr überirdisch schönes Gesicht, ihre wallenden Haare, ihre langen schlanken Beine, ihren prallen Busen …

Doch als sie dann wirklich um die Ecke bog, in ihrem schwarzen hautengen Minirock, auf ihren hohen Absätzen, mit einem feinen Lächeln um ihre knallrot angemalten Lippen … Da hatte ich nicht mehr anders gekonnt. Mein Verlangen war ins Grenzenlose gewachsen. Warum sollte ausgerechnet ich kein Recht haben? Jetzt war die Gelegenheit da! Jetzt, jetzt musste ich sie anfassen, ob sie wollte oder nicht!

Als sie auf der Höhe der Lärche war, schnellte ich hervor, rannte hinter sie, schlang meine Arme um ihre Brust und drückte mich mit aller Kraft gegen ihren Hintern.

Bitte, bitte“, stammelte ich heiser, „nur ein einziges Mal … bitte …“

Dann ging alles blitzschnell. Wahrscheinlich hatte mich mein Mut selber erschreckt, und meine Kraft hatte nachgelassen. Irgendwie schaffte sie es, sich umzudrehen und mich abzuschütteln. Mit voller Wucht schlug sie mir ihre Faust ins Gesicht, ich taumelte und ging zu Boden. Warm rann mir mein Blut aus der Nase. Und dann hörte ich es, dieses unbändige Gelächter hinter dem Haus. Höhnisch. Grausam. Vernichtend. Diese zwei elenden Schweinehunde hatten alles beobachtet! Hatten mein Gestammel mit angehört. Sich an meiner Niederlage geweidet. Verhöhnten mich aufs Niedrigste. Das war die schlimmste Demütigung in meinem ganzen Leben. Niemals werde ich sie vergessen!

Montag, 28. August

Günther, bist du bereit?“

Mit prüfendem Blick schaute Bergführer Peider Grass seinen Kunden aus Hamburg an. Saß der Klettergurt vorschriftsgemäss, waren die Seilknoten korrekt geschlungen, hatte er den Eispickel dabei, waren die Steigeisen auf dem Rucksack festgeschnallt?

Günther rieb sich die Augen, sah auf die Armbanduhr und nickte. „Ich bin bereit, Peider. Und ich freue mich auf eine wunderschöne Tour.“

Peider Grass nickte zurück, schaltete seine Stirnlampe ein, drehte sich um und nahm zügig den schmalen, steinigen Pfad in Angriff, der von der Bovalhütte in Richtung Gletscher hinab führte.

Es war frühmorgens um zehn vor fünf. Hier oben, auf 2500 Metern über Meer, lag die Temperatur am Ende der klaren Sommernacht bei nur vier Grad über null. Es war noch ganz dunkel, der Sternenhimmel über den Engadiner Bergen prangte ungetrübt und mondlos, das mattsilberne Band der Milchstrasse spannte sich von der Bernina bis hinüber zur Diavolezza. Die Lichtkegel der beiden Stirnlampen huschten im Rhythmus der Schritte über den Pfad und ließen Steine, Grasbüschel und Blumen in einem unwirklich fahlen Licht aufleuchten. Außer dem Knirschen der Kiesel unter den dicken Sohlen der Bergschuhe war kein Laut zu hören. Während einer halben Stunde fiel kein Wort zwischen den beiden Männern.

Kurz vor halb sechs standen sie auf dem schmalen Kamm der Seitenmoräne des Morteratschgletschers. Immer noch herrschte tiefe Nacht, fahl schimmerte die weite Eisfläche aus der Tiefe herauf.

Achtung, Günther, jetzt ist höchste Vorsicht geboten“, mahnte Peider Grass seinen Kunden, „der Abstieg zum Gletscherrand ist steil und rutschig. Du gehst voraus.“

Günther nahm den Ratschlag ernst und tastete sich, den Eispickel als Stock einsetzend, ganz vorsichtig die Wegspur durch die instabile Geröllmasse hinunter. Der Bergführer blieb dicht hinter ihm und hielt das Seil immer straff gespannt, um sofort reagieren zu können, falls sein Gast abrutschen sollte.

Als sie zwanzig Minuten später am Fuss der Moräne eine kurze Verschnaufpause einlegten und einen Schluck warmen Tee tranken, begann es merklich zu tagen. Im Osten, über der Diavolezza, war der Himmel schon deutlich aufgehellt und einige hohe Zirruswolken wurden von der noch weit unter dem Horizont stehenden Sonne rosarot angehaucht. Nur noch wenige Sterne waren zu sehen, am hellsten leuchtete gegen Südosten der Planet Venus. Ergriffen schaute sich Günther das Naturspektakel an. Am liebsten wäre er noch lange hier stehen geblieben. Aber der Bergführer riss ihn wieder aus seiner Versenkung.

So, jetzt montieren wir die Steigeisen“, sagte er nüchtern. „Weißt du noch, wie das geht?“

Günther ließ ein undeutliches Jein hören.

Peider nahm seine Steigeisen zur Hand und erklärte seinem Kunden Schritt für Schritt, wie man sie korrekt an den Bergschuhen befestigt.

Und ebenso wichtig wie die einwandfreie Montage“, fügte er schließlich hinzu, „ist es, den richtigen Schritt mit den Eisen zu finden. Du hebst die Füße stärker an als üblich und gehst bewusst etwas breitbeinig. Das Schlimmste, was passieren kann, ist doch, wenn sich die Zacken des linken und rechten Steigeisens verhaken und du der Länge nach auf die Nase fällst …“

Gut, ich gebe mir die grösste Mühe“, bestätigte Günther und wollte sofort loslaufen.

Aber Peider hielt ihn zurück. „Und denk daran, der Gletscherschrund zwischen der Moräne und dem Eis verlangt höchste Konzentration, da kann man sehr leicht abrutschen.“

Peider kontrollierte den Sitz von Günthers Steigeisen und ließ ihn vorausgehen. Günther meisterte die heikle Stelle problemlos, und Peider übernahm wieder die Führung. Langsam und stetig stiegen die beiden Männer auf der nur sanft ansteigenden Eisfläche des Morteratschgletschers in die Höhe. Das Eis war griffig, und nur selten mussten sie einer kleinen Gletscherspalte ausweichen. Außer dem leisen Quietschen der Steigeisen herrschte vollkommene Stille.

Es wurde jetzt rasch heller, und sie konnten die Stirnlampen ausschalten. Die drei Gipfel des Piz Palü leuchteten schon rosa im ersten Sonnenlicht, und der hinter den gezackten Felsen des Piz Trovat stetig heller werdende Himmel zeigte an, dass dort bald die Sonne aufgehen würde. Die leuchtende Fläche am Piz Palü wurde größer und größer, die Grenze zum Schatten wanderte unaufhaltsam nach unten, und kurz nach sieben Uhr erreichten die ersten Sonnenstrahlen die Männer auf dem Gletscher. Sie hatten jetzt bereits eine Höhe von gut 2800 Metern erreicht. Hier wurde der Gletscher plötzlich markant steiler, und zahlreiche breite und tiefe Spalten taten sich im Eis auf.

Peider schaute sich um, ließ ein Brummen hören und schüttelte seinen Kopf.

Es ist beinahe nicht zu glauben, wie viel Schnee und Eis in diesem heißen Sommer wieder weggeschmolzen ist. Wenn ich daran denke, wie es hier noch vor zwanzig Jahren ausgesehen hat … Die Eisoberfläche lag damals mindestens zehn bis fünfzehn Meter höher als jetzt. Also wenn das so weitergeht mit der Klimaerwärmung, dann gibt es in fünfzig Jahren hier gar keinen Gletscher mehr.“

Ja, traurig aber wahr“, stimmte Günther zu. „Umso mehr müssen wir den heutigen prächtigen Tag in dieser herrlichen Bergwelt genießen.“

Du sagst es“, erwiderte der Bergführer und machte sich bereit zum Weitersteigen.

Doch Günther schaute unverwandt nach rechts und kniff seine Augen zusammen. „Peider, sieh doch mal, ist das nicht seltsam dort hinten?“

Was, und wo hinten?“, antwortete dieser ungeduldig.

Na, schau doch mal dort, links von diesem großen spitzen Stein. Beinahe als ob ein Arm aus dem Eis ragte …“

Peider zückte sein Fernglas.

Oh je! Komm, wir müssen sofort hin!“

Peider rannte los und zog den verdutzten Günther einfach am Seil hinter sich her. Zweimal mussten sie über eine Gletscherspalte springen, bis sie sich nach etwa zweihundert Metern dem seltsamen Objekt näherten. Unvermittelt und wie auf Kommando blieben beide stehen und verharrten eine ganze Weile stumm, bis endlich Peider wieder Worte fand.

Du hattest recht, Günther … Eine veritable Gletscherleiche ist das …“

Der rechte Arm des Mannes ragte, leicht schräg, komplett aus dem Eis heraus, während der Rest des Körpers noch zur Hälfte feststeckte. Die Leiche war erstaunlich gut erhalten, das Gesicht zwar stark verschrumpelt, aber die Gesichtszüge waren noch gut zu erkennen. Auch die Kleidung, eine halbwegs moderne Bergsteigerausrüstung, war weitgehend intakt. Am Klettergürtel hing noch ein längeres Stück Seil.

Peider starrte die Leiche unverwandt an.

Kennst du den etwa?“, fragte Günther vorsichtig.

Peider zupfte sich den schon angegrauten Bart. „Äm … Irgendwie schon … Der Mann kommt mir sehr bekannt vor. Aber woher nur? Ja, ich habe schon eine Idee … Dieser ungeklärte Bergunfall … Das müsste doch etwa dreißig Jahre her sein … Aber lassen wir das, ich muss sofort Hilfe anfordern.“

Grass zückte sein Handy, erreichte sofort die Rettungsflugwacht und gab seine Meldung durch.

So, das wäre erledigt“, sagte er dann ganz nüchtern. „Der Helikopter kann leider erst in etwa einer Stunde hier sein. Aber ich habe dem Piloten die genauen Koordinaten unserer Position durchgegeben, und so werden sie den Mann problemlos finden. Übrigens, es bringt ja nichts, wenn wir hier auf den Helikopter warten. Das würde uns nur die schöne Tour zum Bellavista-gipfel verderben, und den toten Mann macht es auch nicht lebendig. Bist du einverstanden, wenn wir sofort weitergehen?“

Günther nickte. „Sicher, dann nichts wie los!“

Polizistin Claudia Costa erhob sich von ihrem Bürostuhl und wandte sich zum Kaffeeautomaten, als ihr Telefon zu läuten begann. Leicht verärgert ob der Störung nahm sie ab. „Hier Costa …“

Und hier Franco von der Rettungsflugwacht. Guten Morgen, Claudia. Leider muss ich dich so früh schon stören, aber es ist wirklich etwas Ungewöhnliches passiert. Bergführer Peider Grass, den du ja auch kennst, hat uns heute um sieben Uhr fünfzehn alarmiert. Er habe auf dem Morteratschgletscher eine alte Gletscherleiche entdeckt. Wir sind dann gleich mit dem Helikopter losgeflogen und konnten die Leiche dank Peiders präzisen Koordinatenangaben problemlos finden. Aber der Mann steckte noch zur Hälfte im Eis fest, und wir brauchten eine halbe Stunde, um ihn los zu bekommen. Er hatte einen noch lesbaren Ausweis mit Foto bei sich, seine Identität ist also geklärt. Es handelt sich um einen gewissen Gion Badraun aus Pontresina. Er wurde bereits abgeholt und liegt im Untergeschoss des Spitals, du weißt ja Bescheid.“

Ich danke dir, Franco, ich werde gleich losfahren. Schönen Tag noch!“

Na ja, die neue Woche fängt gut an, seufzte Claudia. Sie trank stehend ihren Kaffee, aß dazu zwei Scheiben Schwarzbrot, die sie von zu Hause mitgebracht hatte, und machte sich dann fertig zum Aufbruch. Ihrem Kollegen Thomas Alder, der in wenigen Minuten auf dem Posten eintreffen musste, hinter-ließ sie einen Zettel mit einer kurzen Nachricht.

Auf der Fahrt in Richtung Samedan überlegte Claudia hin und her. Würde ein gewöhnlicher Arzt genügen, um den Toten zu untersuchen, oder musste sie den Rechtsmediziner in der Kantonshauptstadt Chur verständigen? Letzteres wäre der Fall, wenn der Verdacht auf ein Verbrechen bestand. Aber woher sollte sie das wissen? Mit so einer Situation war sie noch nie konfrontiert gewesen. Der Name Gion Badraun sagte ihr jedenfalls nichts. Badraun war ein häufiger Name im Engadin.

Ach was, sicher ist sicher, dachte Claudia und rief den Rechtsmediziner an.

Dieser wies sie an, die Leiche, sobald die Leute vom kriminaltechnischen Dienst dagewesen seien, nach Chur bringen zu lassen.

Natürlich, die Spurensicherung! In der Aufregung hätte Claudia diesen wichtigen Punkt beinahe vergessen. Ein zweiter Anruf genügte, um die entsprechenden Leute aufzubieten.

Das Spital Oberengadin am hinteren Ende des Hauptortes Samedan erstrahlte schon im vollen Sonnenschein, während der nur einen Kilometer entfernte und mit 1700 Metern über Meer höchstgelegene Flughafen Europas noch im Schatten lag. Claudia Costa parkte ihren Streifenwagen und wandte sich dem Spitaleingang zu. Sie kannte sich aus, schon mehrmals hatte sie zu Verstorbenen mit unklaren Todesursachen ins Spital ausrücken müssen. Zielstrebig ging sie ins zweite Untergeschoss und stieß gleich auf Stefan Müller, der für die Aufbahrungsräume zuständig war. Trotz seines etwas makabren Jobs war der etwa dreißigjährige Pflegeassistent immer gut gelaunt. Auch jetzt strahlte Stefan die Polizistin an.

Morgen Claudia, ich habe jemanden von euch schon erwartet. Bitte, gleich hier rechts.“

Er schloss die Tür zu einem sehr engen Raum auf, der für die Spezialfälle reserviert war.

Claudia fröstelte. Nicht nur die Temperatur war tief hier unten, auch die Atmosphäre war unterkühlt. Bis auf den Schragen war der Raum leer. Fußboden, Wände und Decke waren im selben grellen, klinisch sauberen Weiss gestrichen. Der Tote auf dem Schragen war mit einem großen weißen Tuch zugedeckt.

Bitte, schau ihn dir an“, bemerkte Stefan ganz nüchtern.

Vorsichtig hob Claudia die Decke ein kleines Stück weg. Erstaunlich, wie gut der Körper durch den Aufenthalt im Eis konserviert ist, dachte sie. Sogar die Gesichtszüge waren, trotz der verschrumpelten Haut, noch gut zu erkennen. Jedenfalls war der Mann bei seinem Tod noch jung gewesen. Der Tote war vollständig bekleidet, und auf den ersten Blick ließ nichts auf die Todesursache schließen. Mütze, Windjacke, schwarze Hose und Bergschuhe wirkten durchaus modern, aber vom Stil her doch nicht ganz so, wie man es heute gewohnt war.

Ich schätze, der hat doch einige Jahrzehnte lang im Eis gelegen“, murmelte die Polizistin, „aber das werden unsere Spezialisten noch genauer beziffern können. Wurde er genauso gefunden?“

Stefan grinste.

Also ich habe selbstverständlich nichts verändert. Aber ich fand das schon seltsam, mit diesem Seil …“