Paul Braunsteiner: Die fremde Ausländerin/Leseprobe

1

Es war schon eine Zumutung, ihn, Rotbrauner, für das Verschwinden des gesamten Festgestänges aus dem Vereinsgestängehaus verantwortlich zu machen. Jedes Gestängevereinsmitglied hatte, so verlangten es die Statuten, dafür zu sorgen, dass das eigene, ihm gehörige Festgestänge in den dazu gedachten Gestängeverwahrfächern zu verwahren sei, außer, wenn am alljährlichen Gestängegedenktag mit allen Festgestängen die neben dem Vereinshaus liegende Gestängewiese zu schmücken war. So weit, so gut. Halbgestängemann Hellgelber, der als Erster dieses Abends das Vereinshaus betrat, entdeckte mit Bestürzung den Verlust seines Festgestänges, und als er sich genauer umsah, auch das Fehlen aller Festgestänge und, er konnte es kaum fassen, ebenso das Fehlen des Festhänggestänges über dem Eingang zum Festgestängezimmer.

Obervollgestängemann Blaugrauer nahm Rotbrauner ins Visier, sein Vollgestängeabzeichen blinkte in der einfallenden Vormittagssonne in allen Farben.

Halbgestängemann Rotbrauner“, stieß er schroff hervor, „sie haben mir nichts zu sagen?“

Der Angesprochene trat aus der Reihe der angetretenen Halbgestängemänner vor.

Nein.“

Rotbrauner hatte sich wirklich nichts vorzuwerfen, deshalb kam ihm das Nein knapp und sicher wie eine Notlüge über die Lippen. Das wie aus granithartem Verbundwerkstoff geschnitzte Gesicht des Vollgestängevorgesetzten straffte sich, dann nickte Blaugrauer.

Also gut“, sagte er, „dann eben nicht.“

Damit schien alles gesagt zu sein. Vorerst. Sie durften gehen. Rotbrauner wunderte sich, als Blaugrauer sofort an ihm vorbei hinaus stolperte, seinen Wagen bestieg und abzog wie ein Wilder. Offenbar war er wütend, dachte Rotbrauner, wegen ihm.

Draußen band Rotbrauner seine beiden Mischlingsrüden Fipsi und Fapsi los und pfützte Richtung Talausgang. Erbsgrüner, der denselben Weg hatte, ging mit.

Eine blöde Sache, nicht?“, versuchte der normalerweise als sehr schweigsam geltende Erbsgrüner ein Gespräch.

Rotbrauner machte schon den Mund auf, um zu erwidern, dass es ihm egal sei, da preschten Fipsi und Fapsi vor, um eine von einem Ersterstockfenster herabfallende Stange Stangensellerie zu verbeißen. Rotbrauner hielt aber die Leinen kurz.

Zurück! Sauviecher!“

Erbsgrüner blickte erschrocken den normalerweise als sehr besonnen geltenden Rotbrauner von der Seite her an. So eine befremdliche Wortentgleisung hatte, so erinnerte sich Erbsgrüner, schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr Rotbrauners Mund verlassen. Nein, doch gestern, fiel ihm ein, hatte Rotbrauner im hiesigen Gestängemarkt den Profilgestängefachmann zur Sau gemacht, weil keine 40er abgekrängten Flachstänglinge vorrätig waren.

Na, na, na“, rief Erbsgrüner Rotbrauner zu.

Doch der in den letzten Minuten stark aufgefrischte Seitenwind verblies seine Worte und machte sie für Rotbrauner unhörbar. Seltsam, dachte Erbsgrüner und fragte sich, was wohl mit den Schallwellen passiert, wenn sie zerzaust vom Wind, irgendwie bruchstückhaft verweht werden? Können einem dann eventuell Wort- oder Satzfetzen noch nach Tagen oder gar Jahren mit einem Windstoß von, was weiß ich wo, zugetragen werden?

Erbsgrüners physikaltheoretische Überlegungen wurden durch einen lauten Knall unterbrochen. Erbsgrüner vermutete sofort eine Bestätigung seiner Theorie. Nein, dachte er dann, das ist Unsinn und blieb stehen. Auch Rotbrauner hielt an. An den kurz gehaltenen Leinen zerrten Fipsi und Fapsi, augenscheinlich kläffend; das heißt, nur ihre Mäuler taten so. Zu hören war nur der Seitenwind. Erbsgrüner musste schmunzeln, denn auch Rotbrauner gebärdete sich grotesk, wie er mit hochroter Birne pantomimisch einen Brüllenden gab. Natürlich unhörbar. Als hätten es höhere Mächte befohlen, beruhigte sich jedoch die Seitensturmböe und die letzte Silbe des Wortes, das aus dem Munde Rotbrauners an seine beiden Mischlingsrüden gebrüllt war, konnte Erbsgrüner nun klar und deutlich vernehmen. Sie hieß: „…hund!“ Da Erbsgrün Rotbrauner gut kannte, wusste er auf Anhieb das gesuchte Wort. Es konnte sich nur um Sauhund gehandelt haben. Ohne Zweifel.

Das war ein Schuss!“

Halbgestängemann Rotbrauner sagte es mit einer Bestimmtheit, die an hundertprozentige Sicherheit grenzte. Erbsgrüner wandte trotzdem ein, dass zum Beispiel auch ein umfallender Hoch-gestängehaltekasten ein ziemlich ähnliches Geräusch verursachen kann. Rotbrauner blieb beim Schuss. Halbgestängemann Erbsgrüner beim umfallenden Hochgestängehaltekasten.

Plötzlich flog unweit vor ihnen eine Haustüre auf, eine Person aus selbiger, die schrie: „Die Frau Obervollgestängemann … sie ist tot!“

Rotbrauner und Erbsgrüner bemerkten erst jetzt, dass sie vor der Villa des Obervollgestängemannes Blaugrauer standen. Rotbrauner und Erbsgrüner sprangen sofort die mit ausgesucht schönen 60er Flachedelstänglingen eingefasste Vorfreitreppe hoch zu der Verzweifelten und beruhigten erst einmal die Schluchzende.

Beruhigen Sie sich erst einmal“, beruhigte Rotbrauner erst einmal die ihn Anschluchzende.

Was ist denn passiert?“, fragte Erbsgrüner die immer heftiger schluchzende Person.

Ich putzte … putzte wieder einmal alle Hochgestänge des Vorhallenhochgestängehaltekastens … als …“, sie konnte sich vor Schluchzen kaum halten, „als sich der ganze Hochgestänge-haltekasten von der Wand löste und …“, sie steigerte gekonnt das Schluchzen in Gewinsle, „und die arme Frau Obervoll-gestängemann Blaugrauer, Gott hab sie selig, unter sich begrub!“

Sie müssen die Polizei rufen … “, schärfte Rotbrauner der sich wieder unter Kontrolle haltender und nur noch wie wild Schluchzenden ein, „und natürlich sofort auch Herrn Obervollgestängemann Blaugrauer selbst!“

Der wird schauen wie der Weihnachtsmann am Roulettetisch, dachte Erbsgrüner, als er in die offenbar für Malerarbeiten vorbereitete, mit Plastikplanen abgehängte Vorhalle blickte, in der die Hausfrau, vom mächtigen Hochgestängehaltekasten begraben, dalag.

Es dauerte keine halbe Stunde und die örtliche Polizei rauschte heran, gefolgt vom Wagen des Obervollgestängemeisters Blaugrauer. Die zwei Beamten mussten in der Vorhalle den aufschluchzenden Blaugrauer sanft zurückhalten, sonst hätte der sich vor Seelenschmerz auf die unter dem Hochgestängehaltekasten hervorlugenden Füße seiner Frau Gemahlin gestürzt. Dann bemerkte er Rotbrauner und Erbsgrüner, die ihm sofort kondolierten.

Was machen Sie hier?“ Blaugrauer schürzte die Brauen, dass der Scheitel wackelte, und wie nebenbei bedankte er sich.

Herr Obervollgestängemann, wir kamen wie zufällig gerade des Weges, als es passierte. Mein Beileid“, sagte mitfühlend Rotbrauner.

Meines auch“, ergänzte Erbsgrüner und betrachtete mitfühlend den Zuzelfleck auf dem Nacken des Herrn Obervoll-gestängemeisters Blaugrauer.

Gut. Aber die Gestängesache ist nicht aus der Welt. Nicht, dass sie glauben!“

Beim Glauben ist der Arsch am höchsten, fiel dem Erbsgrüner blitzartig ein. Das war ein lustiger Spruch seiner Omi.

Blaugrauer kümmerte sich wieder um seinen Verlustschmerz und trauerte mit der Ausputzfrau und den Beamten um die Wette. Diese forderten jedoch vor ihrer Trauerarbeit Rotbrauner und Erbsgrüner auf, weiter zu gehen, es gäbe hier nichts zu sehen.

2

Das Land ist zwar schön, die Landschaft und so, aber es hilft nichts, nach einer Woche ist es irgendwie genug. Überall dieses Gestänge. Gestänge in allen Variationen. Der Laie aus der Großstadt mit null Ahnung von dem Landesgestängewahn fühlt sich nach einer Woche Rundumgestänge wie der Lurch in einer fremden Zimmerecke, oder besser, wie ein Sargdeckel in der Konditorei. Und diese Namen! Hier auf dem Land war eine gänzlich andere Namenskultur zugange. Der Schlosser hier hieß Blechdacher, oder Bierernster, der Notar. Oberhauptkommissar Brunzer hatte leise lachen müssen, wie er im Gasthof ´Zum Goldenen Gstäng´ angekommen war und den Namen des Nachtportiers gehört hatte: Mondscheiner.

Brunzer ging gemächlich in seinem Appartement auf und ab. Um etwas Bewegung zu machen, nach dem reichhaltigen Abendessen unten im Gastraum. Dabei betrachtete er immer wieder die selben Bilder, die an der Längswand hin zum Fenster hingen. Eines zeigte Dorfleute bei einem dieser häufigen sogenannten Gestängefeste. Jede Person präsentierte ihr Gestänge in absurden, grotesken Ausführungen und Posen. Ein Mann trug sein herausgeputztes Gestänge so auf seinem Rücken, sodass er tief gebückt stehen musste, aber dabei ein frohes Lachen zeigte. Die Gestängesache war wieder einmal reine Männersache. Frauen jubeln nur zu.

Der Urlaub tut mir gut, der Urlaub tut mir gut, dachte Brunzer. Nach den ersten Tagen hier in Untergestäng musste er sich das schon an die hundertmal am Tag einreden. Vier lange Tage waren es noch, die würde er auch noch absitzen, dachte Brunzer und ließ sich vom Auf- und Abgehen erschöpft in dem einzigen bequemen Sessel, der zur kargen Einrichtung gehörte, nieder. Er betrachtete aufmerksam seine kalte Pfeife, auf der er die ganze Zeit lustlos herumgekaut hatte wie ein Papagei an der Senftube. Nein, dachte er, eigentlich gelüstet es mich noch nach einem Schlaftrunke! Also wuchtete er seine Körpermasse aus dem aufächzenden Sitzmöbel hoch und stampfte hinunter in die Gaststube.

Ah, der Herr Oberhauptkommissar aus der Großstadt!“, begrüßte der Gstängwirt den sich in die Gstängstube hinein wälzenden Brunzer laut, sodass es alle Gäste hören konnten.

Brunzer hatte seinen Beruf beim Anmelden nicht verheimlichen können und so hatte es sich natürlich rasch im Dorf herumgesprochen, dass der überall berühmte Brunzer hier in diesem Kaff abgestiegen war.

Na, was sagen sie dazu?“, sagte der Gstängwirt, umging das Schankgestänge und servierte Brunzer seinen doppelten Gstängler.

Zu was?“, gegenfragte Brunzer, der sich fragte: Was meint er?

Na zu dem Tod von der Frau Obervollgestängemann Blaugrauer!“

Die Kunde vom Unfall hatte bis hierher zum Gstängwirt keine fünf Minuten gebraucht.

Der Oberhauptkommissar kippte professionell den doppelten Gstängler hinter die Binde. Den leisen Rülpser unterdrückte er.

Noch einen.“

Brunzer war hellhörig geworden wie ein Igel auf der Autobahn.

Der Gstänglwirt umging das umfangreiche Schankgestänge, trat hinter die Gestängeschank, goss einen doppelten Gstängler ein, umging erneut das vor Kurzem erst ausgeputzte Schankgestänge, stellte den doppelten Gstängler vor Oberhauptkommissar Brunzer auf den Tisch und wartete. Die anderen Gstänggäste waren jetzt auch hellhörig geworden wie zehn Jäger im Fischteich. Brunzer kippte den doppelten Gstängler weg wie nichts. Jetzt ging es nicht anders. Er rülpste, aber verhalten.

Und?“

Der Gstängwirt wartete noch immer auf eine Antwort.

Brunzer konnte es nicht leiden, wenn man ihn drängte.

Ich habe die Dame nicht gekannt“, sagte er vorsichtig. Alle lachten. „Wie ist sie denn zu Tode gekommen?“

Sie haben noch nicht davon gehört?“, wunderte sich der Gstängwirt und die anwesenden Gstänggäste auch. „Der Hoch-gestängehaltekasten im Hause des Obervollgestängemannes Blaugrauer hat sie unter sich begraben!“

Aha …“, sagte Brunzer gedehnt, um Zeit zu gewinnen. „Wie konnte so etwas passieren?“

Die Frage stand im Raum wie eine Palette 150iger Rundkantgestänge vorm Einschmelzen.

Angeblich hatte sich, laut Aussage der Ausputzfrau Staubfreier, der Hochgestängehaltekasten plötzlich selbsttätig von der Wand gelöst und die zufällig sich davor befundene Gattin des Obervollgestängemeisters unter sich begraben.“

Brunzer sah den Gstängwirt an wie ein Knopfloch den Reißverschluss. Donnerwetter, das war eine Aussage!

3

Halbgestängemann Rotbrauner konnte sich nicht erklären, dass er, der absolut nichts mit dem Verschwinden des kompletten Vereinsfestgestänges zu tun hatte, von Obervollgestängekotzbrocken Blaugrauer verdächtigt wurde. Dass Blaugrauer einen im Gestänge hatte, wusste jeder. Nur weil er, Rotbrauner, als Letzter gestern das Vereinshaus verlassen hatte, war er verdächtig? Er hatte bei seiner Befragung am nächsten Tag dem Blaugrauer geschworen, dass sich alle Festgestänge wie immer in ihren Verwahrfächern befunden hatten. Aber nichts da, sofort wurde er von Blaugrauer verdächtigt, die Festgestänge versteckt zu haben. Vielleicht aus Jux, oder gar um sie zu verkaufen. Städter kamen ja in letzter Zeit viele aufs Land und versuchten, Gestänge zu kaufen, was nur geht. Hochgestänge, Vollgestänge Diplomgestänge und, und, und. Viel Ramsch wurde da angeboten. Besonders begehrt waren Verleihgestänge und Leasinggestänge, damit konnte man reich werden. Das wurden auch viele. Der Herr Obervollgestängemann Blaugrauer war so einer. Vielleicht hatte der selber vor, das Vereinsgestänge zu verkaufen, wer weiß.

Rotbrauner und Erbsgrüner beschlossen, noch was trinken zu gehen. Vorerst lieferte Rotbrauner Fipsi und Fapsi bei seiner Mutter ab, dann gingen sie zum Gstängwirt hinauf. Das Gastzimmer war gut besucht, wie jeden Abend. Außer Montag und Dienstag, da war geschlossen: Gestängemarkt in Untergstängs-bach. Dort gab es noch ab und zu wirkliche Raritäten, und der Gstängwirt war immer dort zu finden. Blaugrauer natürlich auch. Und die anderen Freiberufler.

Der Gstängwirt begrüßte sie, zwar nicht so freundlich wie normalerweise, besonders Rotbrauner, den schaute er finster an. Seit dem Vereinshausvorfall. Der hatte sich super schnell bis hierher herumgesprochen. Schneller als der Unfall, weil Gestängestehlen ein viel schlimmeres Verbrechen ist als der Tod.

Ein freier Zweiertisch wurde ihnen zugewiesen. Am Nebentisch saß der dicke Oberhauptkommissar aus der Großstadt, der seit gut einer Woche jeden Abend da saß und soeben ansetzte, ein Schnapsglas zu leeren.

Hast den Zuzelfleck gesehen, auf dem Hals vom Blau-grauer?“, fragte der sonst sehr schweigsame Erbsgrüner Rotbrauner und zeigte: „So ein Ding.“

Der kann mich!“, fuhr der sonst so besonnene Rotbrauner auf.

Am Nebentisch beim dicken Mann wurde es auch laut, als der Gstängwirt, der bei dem Dicken gesessen hatte, aufstand und feierlich verkündete, dass der Herr Oberhauptkommissar eine Lokalrunde zu schmeißen gedenke. Darauf wurde es in der Gaststube laut wie am Fußballplatz.

In dem Moment betraten die beiden einzigen Polizeibeamten des Dorfes den Laden, worauf sie vom Gstängwirt sofort zum Tisch des Oberhauptkommissars geführt wurden, obwohl man dem ansah, dass er das eigentlich nicht wollte, so öffentlich einbezogen zu werden in das Dorfgeschehen.

Guten Abend, wie geht´s?“ Brunzers Begrüßungsworte zeugten von seiner immerwährenden Neutralität.

Danke, Herr Oberhauptkommissar … Sie wissen schon?“

Ja, ich weiß schon. Ein … Unfall?“ Brunzer streckte seine Fühler aus wie ein Borkenkäfer auf dem Notstromaggregat.

Einbuchter, der größere der zwei Beamten nahm erst einmal einen tiefen Schluck Gstängbräu, rülpste und meinte dann: „Auf den ersten Blick, ja. Aber …“

Was aber?“ Brunzer richtete sich auf, so gut er konnte. Wer ihn kannte wusste, in seinem Quadratschädel fing es an zu arbeiten.

Wissen Sie …“, mischte sich der untersetzte Festnehmer, Einbuchters Kollege, ein, „die Schraubhaken, die den Hoch-gestängehaltekasten an der Wand gehalten haben, sind unserer Begutachtung nach angesägt worden …“

Habe ich richtig gehört? Angesägt?“ Brunzer fand ab da schon ein bisschen Gefallen am Landleben.

Ja, angesägt. Es sind 100er Umleggewindeschraubhaken EZ-14, vier Stück, die halten im Normalfall zwei Fernlastge-stängeschränke aus, das können Sie mir ruhig glauben.“

Da wurde es still in der Gstängstube. Mord also! Kein Unfall. Der Gstängwirt sah wie zufällig Rotbrauner an. Was soll dieser Blick, dachte dieser. Nein, das konnte nicht sein! Jetzt sollte er nach dem Diebstahl auch für einen Mord zuständig sein?

Da ging die Tür auf und der heimgesuchte Herr Obervoll-gestängemann Blaugrauer trat gebrochenen Herzens ein, im Gefolge Gestängearzt Dr. Rezepter. Das von den Gästen sofort einstimmig gebrüllte: „Mein Beileid“, zwang Blaugrauer, kurz bitterlich zu schluchzen. Er und Dr. Rezepter wurden von Gstängwirt Anzapfer zu einem Tisch geführt, natürlich zu dem, an dem Brunzer und die beiden Beamten saßen.

Mein Beileid“, sagte ergriffen Einbuchter.

Von mir auch“, sagte mindestens ebenso ergriffen, wenn nicht ergriffener, Festnehmer.

Brunzer musste sich durchringen. „Ebenso“, rang er sich ab, auch ziemlich ergriffen.

Es muss ein schwerer Schlag für Sie gewesen sein“, warf er einen Brandbeschleuniger hinterher, „und so ein plötzlicher …“

Blaugrauer machte ein Gesicht wie ein Sack Grillkohle und wusste nicht, wie das gemeint war.

Ich hoffe, Ihre Gemahlin hat nicht lange leiden müssen?“ Oberhauptkommissar Brunzer legte dabei vertraulich seine Hand auf des Obervollgestängemannes Arm.

Nein“, ließ Dr. Rezepter vernehmen, „sie hat sicher nicht lange gelitten. Es war nichts mehr zu machen. Ihre Füße waren schon kalt, als ich eintraf.“

Ich will, dass der Mörder meiner Frau so bald wie nur möglich festgenommen wird …“, schärfte ein seine Stimme erhebender Blaugrauer den Beamten ein, „und ich bitte auch Sie, Herr Oberhauptkommissar, die Beamten Einbuchter und Festnehmer, wenn es geht, mit Ihrem sprichwörtlichen Spürsinn zu unterstützen.“

Brunzer fühlte sich geschmeichelt. Der Fall war ganz nach seinem Geschmack. Ein herrischer, reicher Mann, seine Frau erschlagen unter einem schweren Kasten und angesägte Haken. Besser ging´s nicht.

Ich weiß nicht, ob es wichtig ist …“, sagte Blaugrauer dann, „aber heute Abend ist auch der ungeheuerliche Diebstahl des Festgestänges aus unserem Vereinsgestängehaus entdeckt worden. Eine Schande für unser Dorf!“

Dabei sah er Rotbrauner und Erbsgrüner am Nebentisch sehr sorgfältig an.

Schon wieder, dachte Rotbrauner zornig.

Brunzer, der sich umdrehte und die gemeinten jungen Männer unter die Lupe nahm, wandte sich wieder um zu Blaugrauer und sagte wie beiläufig: „Ich glaube nicht, dass die beiden jungen Männer mit dem Mord an Ihrer Frau zu tun haben … Aber was anderes: gibt es jemanden, der ihr schaden wollte, ich meine, verzeihen sie den Ausdruck, der ihr die Rübe einhauen wollte … sie verstehen?“

Ich glaube zu verstehen, was Sie meinen … ich wüsste niemanden.“

Nicht schau wieder zu mir, dachte sich Rotbrauner. Aber Blaugrauer sah nicht zu ihm.

Und dass Sie selbst das Opfer sein sollten, nicht Ihre Frau, haben sie das schon bedacht?“, fragte Brunzer den ihn verblüfft anglotzenden Blaugrauer.

Was? Ich? Wer sollte mir denn, verzeihen Sie mir den Ausdruck, die Rübe einhauen wollen? Ohne mich gäbe es ja das halbe Dorf nicht!“

Gerade deswegen, dachten jetzt mindestens siebzehn anwesende Gestängerübenbauern im Gstänggastzimmer, die Beamten Einbuchter und Festnehmer, Rotbrauner und Erbsgrüner, und sogar Oberhauptkommissar Brunzer mit eingeschlossen.

Gstängwirt Anzapfer brachte eine weitere Runde, diesmal von Herrn Obervollgestängemeister finanziert.

Brunzer lehnte sich zurück und nahm einen Schluck Bier.

Es war schon spät geworden und die meisten Gäste waren schon gegangen, auch Blaugrauer mit seinem Leibarzt und auch die zwei Polizisten. Er hatte noch vor, mit den beiden jungen Männern am Nebentisch etwas zu plaudern. Deshalb bat er sie freundlich, bei ihm Platz zu nehmen. Brunzer deutete dem Wirt, noch eine Runde Schnaps zu bringen, was dieser, zwar mürrisch, auch tat.

Ich hatte den Eindruck, bitte berichtigen Sie mich“, eröffnete Brunzer das vertrauliche Gespräch, „dass Sie, Herr Rotbrauner von Herrn Blaugrauer wegen der Vereinshausgeschichte verdächtigt werden. Liege ich da richtig“

Da liegen sie richtig.“ Rotbrauner war richtig sauer. „Ich soll das Festgestänge gestohlen haben, nur weil ich am Vortag als Letzter das Vereinshaus abgesperrt habe.“

Rotbrauner pudelte sich so richtig auf, wie ein Waffenhändler in der Kirche.

Und heute Abend ist der Diebstahl von wem entdeckt worden?“, fragte langsam Brunzer.

Vom Halbgestängmann Hellgelber …“

Hätte der genügend Zeit gehabt, den Diebstahl zu verüben?“, unterbrach ihn Brunzer sanft.

Ein Ding der Unmöglichkeit!“, sagte Erbsgrüner jetzt. „Ich bin fünf Minuten später gekommen. In der kurzen Zeit wäre das unmöglich. Die Gestänge sind sauschwer und außerdem: wohin damit?“

Sie, Herr Rotbrauner, hätten also als Letzter leicht unerkannt die Gestänge zur Seite schaffen können? Bitte regen sie sich nicht auf, ich will nur logisch bleiben“, beruhigte der Oberhauptkommissar den sichtlich durch den vorgebrachten Verdacht genervten Rotbrauner.

Ja, aber ich war es nicht!“ Rotbrauner betonte jede Silbe einzeln.

Ist bemerkt worden, dass sich jemand an den Schlössern des Vereinshauses zu schaffen gemacht hat?“, war die nächste Frage Brunzers.

Nein, sagten beide, die Polizisten hätten alles genau untersucht.

Brunzer, Rotbrauner und Erbsgrüner schütteten wie ausgemacht gleichzeitig ihre doppelten Gständler hinunter. Das Landleben machte jetzt richtig Spaß. Der Oberhauptkommissar wünschte sich, seine Pfeife, an der er die ganze Zeit rumkaute, wieder einmal richtig zu rauchen. Aber er hatte aufgehört damit. Zu gefährlich.

Um einiges gelöster war nun das Gespräch.

Wie war denn so die Frau Gemahlin des Obervollgestänge-meisters? Konnten sie sich riechen? Ihr versteht?“

Ja, ja, unbedingt!“, sagte Rotbrauner grinsend. „Eine sehr gemeinschaftliche Ehe war das. Alle im Dorf hatten jeden Tag gehofft, dass sie sich endlich, bitte verzeihen Sie den Ausdruck, gegenseitig die Rübe einhauen. Aber ich will nichts gesagt haben.“

Unser Herr Obervollgestängemeister hat uns auch mit seinen Frauengeschichten bei Laune gehalten, im Wirtshaus und so.“ Erbsgrüner erzählte, wie einmal Blaugrauer halb nackt die halbe Nacht vor seiner Villa seine Frau Gemahlin anbettelte, die ihn wegen seiner Ex ausgesperrt hatte, ihn wieder rein zu lassen.

Eine feine Gesellschaft, dachte Brunzer. Das Bild verdichtete sich und wurde klarer.

Darf´s noch was sein?“, fragte der Wirt, dem es gar nicht recht war, dass sein Oberhauptkommissar so lange mit den beiden quasselte.

Brunzer bestellte. Der Gstängwirt brachte.

Jeder im Dorf weiß, der Blaugrauer ist eine gierige Krätze“, sagte leise Rotbrauner.

Der Wirt bekam Ohren wie ein Schlosser im Heilbad, trotzdem hatte er nichts gehört. Sie leerten ihre Gläser.

Und verlogen wie ein Kuckuck“, raunte Erbsgrüner, konnte aber nicht weitererzählen, weil der Wirt die Sperrstunde ausrief.

Sie sagten noch gute Nacht, und Brunzer begab sich auf sein Zimmer.

4

Zeitig in der Früh war Brunzer schon hellwach mit einem Schädel wie ein Hochgestängehaltekasten unter einer Straßenwalze. Es war noch zu früh zum Frühstücken. Schnell ein Glas Wasser und er legte sich wieder ins Bett. Brunzer überdachte den Fall, mit der kalten Pfeife im Mundwinkel, und stierte dabei das Bild mit der Festgestängeszenerie an. Einer der Männer drauf, der mit dem besonders reich mit Wurstkränzen und Speckseiten geschmückten Gestänge war Blaugrauer und machte den Eindruck des Dorfkaisers. Seine Frau dahinter stand dicht an der Seite eines Mannes, den er noch nicht im Dorf gesehen hatte. Und jetzt, als er das Bild näher betrachtete, sah Brunzer auch, dass der Mann versteckt die Hand von Frau Obervollgestängemann Blaugrauer umfasst hielt. Alles unscharf, aber kein Zweifel! Interessant, dachte Brunzer und die Straßenwalze rumpelte langsam weg. Der Hochgestängehaltekasten war noch da.

Na ja, dachte Brunzer, kann ja vorkommen. Wenn er das sieht, hat das wahrscheinlich jeder schon bemerkt und alle wissen es, dass die Frau Gemahlin keine Heilige war. Blaugrauer auch, sicher. Das heißt, Eifersuchtsmord. In der Familie. Oder auch nicht. Es könnte auch ganz anders sein: der Mordanschlag hatte Blaugrauer gegolten. Erwischt hat es die Frau Gemahlin. Der Mörder weiß das und wird es richtig machen wollen. Blaugrauer müsste ab sofort beschützt werden, dachte Brunzer hellwach. Gleich nach dem Frühstück würde er in die Polizeidienststelle gehen, um die Beamten wegen seines Verdachtes zu warnen. Am liebsten wäre es ihm, dachte Brunzer, seine vertrauten Kollegen Hinterleckner und der baumlange Rammelsbacher würden bei ihm sein. Er griff zu seinem Telefon und wählte die Nummer des Chefs.

Herr Kommissariatsleiter? … Ja? Hier ist Brunzer … nein, gut … was? … na und? Die Wiesen werden halt mit der Zeit saurer, deshalb sind Stehleitern nicht die Schuld beim Linsenwaschen, die Lüftung ist kein Kaffeesieb … genau, einmal mehr abtrocknen macht aus den Winterreifen keine Strickweste … schicken Sie doch Hinterleckner und den baumlangen Rammelsbacher zu mir nach Untergestäng. Danke!“

Nach diesem befriedigenden Telefonat zog er sich an und ging nach unten in den Frühstücksraum. Andere Pensionsgäste speisten bereits. Der Gstängwirt persönlich, übertrieben freundlich wie eine Nachttischlampe, begleitete ihn zu seinem Tisch. Brunzer schnaufte und griff beim Schinken und Käse ordentlich zu. Der Hochgestängehaltekasten zwischen seinen Lauschern verwandelte sich langsam in ein Nähkästchen und nach drei Kaffees war er wieder auf Sendung.

Er machte sich auf den beschwerlichen Gang zum Polizeirevier, immerhin sind es fast hundert Meter Luftlinie. Dort wurde er fast von Festnehmer und Einbuchter beim Eintreten umgerannt, weil diese wie zwei Weinbauern zum Bierfest aus der Wache herausschossen. Ein Brunzer wird aber nicht umgerannt, da tun sich eher die Anderen weh, an seinen hundertdreißig Kilo Lebendgewicht. Festnehmer hatte einen Schutzengel, dem brummte noch drei Tage danach der Schädel. Kollege Einbuchter kam mit einer Schulterprellung davon. Er laboriert heute noch daran.

Wohin so eilig?“

Brunzer half Einbuchter hoch. Festnehmer taumelte im Kreis herum wie ein Karussell mit Totalschaden.

Ein Mord! Auf der Gestängevereinswiese!“, stammelten beide gleichzeitig durcheinander.

Oberhauptkommissar Brunzers Miene versteifte den Faltenwurf.

Tatsächlich?“, Brunzer legte sanft den Wurstfinger an seine Wurstlippe. „Dann kann ich mir denken, wer es ist“, sagte er verschmitzt.

Die Rekonvaleszenten Einbuchter und Festnehmer mussten sich geschlagen geben ob der Geistesschärfe des Oberhauptkommissars aus der Großstadt.

Brunzer gab den Weg frei. Schnell wie Zuckerbäcker im Nadelwald eilten sie zum Gestängevereinshaus und der dahinter liegenden Gestängevereinswiese. Da lag er, der Herr Obervoll-gestängemeister! Niedergestreckt unter einem Berg von Festgestängen. Den gestohlenen, wie Brunzer sofort kombinierte. Wo waren die hergekommen? Fragen über Fragen. Brunzer atmete erleichtert auf. Was für ein Glück! Hier gab es keine Spurensicherung, die ihm bei Einsätzen in der Stadt immer zuvorkam und alles verwüstete.