Wolfgang Ehmer: Blinde Flecken/Leseprobe

PROLOG

Anna Schäfer schleppt sich ins Café. Todmüde ist sie, zerschlagen, keines vernünftigen Gedankens fähig. Leer. „Pffffttt.“ Als wenn ihr der Stöpsel herausgezogen worden wäre. Dieser verdammte Richter. Und erst recht dieser Garsting. Kindeswohl, pah, dass ich nicht lache. Wie der das Wohl in die Länge gezogen hat, Kindeswoohl, ich hätte ihm dieses Woohl aus seinem verdammten Maul herausreißen sollen, ein für allemal.

Mit einer Geste, als verscheuche sie diesen Gedanken, atmet sie tief durch, strafft sich und öffnet die Tür. Sofort schlägt ihr der Kaffeegeruch entgegen. Ihr Kaffeegeruch, der sich mit den warmen Croissants auf der Theke und den Baguetten in dem Korb mischt, die jeden Morgen frisch aus der Bäckerei zwei Häuser weiter geliefert und im Café zu Sandwichs verarbeitet werden. Ihre beiden Angestellten, Josefine und Thea, sind schon dabei, den Tag vorzubereiten. Josefine wird gleich, wenn sie mit der Kaffeemaschine fertig ist, die Kuchen und Torten in das gläserne Kühlregal neben der Theke stellen; Thea hat bereits die ersten Sandwichs mit Gruyère und italienischer Salami belegt und, auf einem Tablett zwischen Salatblättern und Radieschen hübsch dekoriert, ebenfalls ins unterste Fach des Kühlregals geschoben. Dieses erste Tablett ist den Stammkunden vorbehalten, die in wenigen Minuten auf ihrem Weg zur Arbeit ihren Kaffee to go und ihr Sandwich abholen werden. Später wird sie dann in der Küche die Speisen auf Bestellung anrichten.

Guten Morgen. Alles bereit?“ Anna Schäfer muss sich anstrengen, ihre Stimme mit dem gewohnten festen, optimistischen Klang einzufärben, der ihr normalerweise gelingt. Denn wie es in ihrem Inneren aussieht, geht niemanden etwas an.

Das hat sie schon immer so gehalten. Auch damals schon vor fünf Jahren, als die beiden Polizisten so unvermittelt vor ihrer Haustür gestanden und nach dem Betreten der Wohnung sie gebeten hatten, sich erst einmal zu setzen. Nach einer von ihr unendlich lange empfundenen Zeit hatten sie ihr so schonend, wie es ihnen möglich war, trotzdem in dürren, schon nach einmaliger Wiederholung verbrauchten Worten, beigebracht, dass in das Auto ihres Mannes auf der Autobahn an einem Stauende ein LKW ungebremst gefahren und er zu Tode gekommen sei. Auch damals hatte sie ihre Trauer nicht vor sich hertragen können und fast unwirsch und ablehnend auf die Kondolenz reagiert. Sie trauerte verschlossen und in sich vergraben, privat, allein in ihrer Wohnung. Ihrer äußeren, öffentlichen Haltung konnte niemand ihre innere Wüste ansehen.

Josefine, die ihre Tätigkeit kaum unterbricht, antwortet: „Guten Morgen, Chefin. Alles okay. Die Bestellungen sind raus.“

Thea, auf dem Weg in die Küche, winkt ein freundliches Hallo in ihre Richtung.

Anna Schäfer bemerkt, dass sie auch heute ein T-Shirt mit einem abgeschnittenen Ärmel trägt, das ihre den Oberarm bedeckende Tätowierung, einer großen roten Rose, umrankt von grünen Blättern, zur Geltung bringt. Sie schaut sich in dem Café um, geht zu den Tischen, auf denen schon die kleinen Vasen mit den leuchtend bunten Chrysanthemen stehen, ordnet hier eine Speise- und Getränkekarte, nimmt dort einen halb vollen Zuckerstreuer, um ihn an der Theke aufzufüllen. Die Einrichtung entspricht dem neuen Retro-Stil: abgebeizte, mit Farbresten versehene alte Tische und Gestühl, die Wände grob verputzt ohne Anstrich, keine Bilder außer zwei große Reval Zigarettenreklamen aus den sechziger Jahren. Eine Tafel mit wechselnden Tagesangeboten. Minimalistisch, funktional, gemütlich. Zugeschnitten auf die Kundschaft des gentrifizierten Viertels, ein bisschen Boheme, ein bisschen Start-up, Mittelklasse. Die nahe Universität spült die Studenten hinein.

In Momenten, in denen sie sich unbeobachtet fühlt, erschlafft Anna Schäfers Gesicht und die beiden Furchen, die vom Nasenrücken am Mund vorbei das Kinn einrahmen, scheinen noch konturierter. Dann sieht sie sich zu Hause im Flur mit dem Brief in der Hand, sieht sich ins Büro von Garsting stürmen, außer sich vor Zorn und Enttäuschung. „Wie können Sie mir das antun, sehen Sie denn nicht, was Sie damit anrichten? Sie wissen doch, wie gut der Junge es bei mir hat!“

Und diese Ohnmacht gegenüber dieser aalglatten Fresse und diesen beschwichtigenden Gesten! „Nun beruhigen Sie sich mal, das kann man doch alles bereden. Machen Sie es doch sich und dem Jungen nicht so schwer. Die Gesetzeslage zum Kindeswohl …“

Da ist es schon wieder, dieses Woohl, wie ich das hasse!

„… schreibt nun mal vor, dass die leibliche Mutter …“

Ach hören Sie doch auf, leibliche Mutter. Von wegen Bereden, einen Scheiß kann man. Ausgetrickst habt ihr mich. Sieht sich aus dem Zimmer stürzen, Garsting mitten im Satz stehen lassend.

Sie hastet an der besorgt schauenden Josefine vorbei in die Toilette, atmet stoßweise, schöpft sich kaltes Wasser ins Gesicht. Zwingt sich tief einzuatmen. Langsam kommt sie zur Ruhe und mahnt sich. Reiß dich zusammen, dumme Kuh. Contenance. Das Wort hilft. Hat immer geholfen. Sie zieht sich die Lippen blutrot nach und schlägt sich ein paarmal klatschend auf die Wangen, durchwuschelt ihre kurzen braunen Haare. Prüfend schaut sie in den Spiegel, drückt das Kreuz durch und nimmt wieder ihren Platz hinter der Theke ein. Josefines Blicke ignoriert sie.

Der Tag zieht sich. Es sind Semesterferien und es bleibt einigermaßen ruhig. Eine Stunde vor Schließung des Cafés um neunzehn Uhr beginnt sie mit der Abrechnung. Die Einnahmen wird sie auf dem Nachhauseweg in der Sparkasse deponieren. Das restliche Geld aus der letzten Stunde stopft sie in einem Briefumschlag in ihre Handtasche. Sie schafft es, ein paar freundliche Worte an Josefine und Thea zu richten, die das Café aufräumen und für den Putzdienst vorbereiten, der morgens um halb fünf Uhr mit seiner Arbeit beginnen wird.

Sie hat es nicht weit. Sie geht langsam. Man könnte sie für eine Flaneurin halten. Vor den Schaufenstern der kleinen Boutiquen bleibt sie stehen. Sie starrt hinein, ohne etwas wahrzunehmen. So gewinnt sie Zeit, kann sich wappnen gegen die Stille, die auf sie lauert. Als sie am Kino vorbeikommt, zögert sie. Das Programm sagt ihr nichts, kein Film, von dem sie schon etwas gehört oder gelesen hätte. Eine Geschichte aus einem osteuropäischen Land von einem Sohn, der seinen Vater irgendwo anders begraben will; eine andere über eine Frau, die plötzlich durch eine gläserne Wand von der Welt getrennt ist. Ich geh trotzdem rein. Ich nehme den, der als Erster gezeigt wird. Immerhin zwei Stunden Ablenkung. Es ist der über die Frau. Vor der Kasse zögert sie und kann sich plötzlich nicht mehr entschließen. Sie tritt wieder aus der Reihe heraus und schaut sich die Bilder zum Film an. Was sie sieht, ist eine gehetzte, verzweifelte Frau, die offensichtlich mit etwas nicht fertig wird. Nee, das tue ich mir nicht an. Das hab ich selbst zur Genüge. Sie schüttelt den Kopf. Das muss nicht sein. Der andere fängt ja erst in einer halben Stunde an, so lange warte ich nicht. Sie geht wieder.

Die Wohnungstür zu ihrer Altbauwohnung steht wie eine Mauer zwischen ihr und der Stille. Sie weiß, wenn sie sie überwindet, ist sie ausgeliefert. Wie die Tage vorher. Sie zwingt sich. Das Aufsperren der schweren Tür, das Geräusch, wenn sie ins Schloss fällt. Und dann gar nichts mehr. Sich mit dem Rücken an die Tür lehnen. Die Augen schließen. Lauschen. Die Uhr an der Wand gegenüber der Garderobe tickt ihr Quarzuhrticken. In der Küche springt der Kühlschrank brummelnd an, kaum wahrnehmbar, aber so laut wie ein Motorengeräusch. Von der Straße dringt der Verkehrslärm wie ein Hauch durch die isolierten Scheiben im zweiten Stock. Endlich drückt sie sich von der Tür ab, macht das Flurlicht an. Sie lässt die Schlüssel und die Handtasche auf den kleinen Garderobentisch fallen und steuert die Küche an. Noch im Mantel gießt sie sich ein großes Glas Rotwein aus der angebrochenen Flasche ein und stürzt es hinunter. Mit einem Knall stellt sie es auf der Anrichte ab, gießt sich noch eins ein. Diesmal aber füllt sie es nur zur Hälfte und geht mit ihm ins Wohnzimmer. Den Mantel lässt sie achtlos auf einen Sessel fallen, setzt sich auf das Sofa und streift sich die Stiefeletten von den Füßen. Die Füße legt sie auf den Couchtisch. Das Weinglas hält sie umklammert, aus dem sie langsam kleine Schlucke trinkt. Die Lichter der Straßenlaternen fallen als gelbe Rhomben durch die Fenster auf das Parkett, durchstreift von horizontalen Scheinwerferschlieren der vorbeifahrenden Autos, bis die Ampel wieder auf Rot umschaltet. Dann ist Ruhe, um nach drei Minuten von Neuem das Lichtspiel aufzunehmen. Drei Minuten Ruhe, drei Minuten Bewegung. Drei Minuten Ruhe, drei Minuten Bewegung. Anna Schäfer zählt mit. So wie sie schon gestern und vorgestern und die Tage davor da gesessen hat, nach der ersten Wut und der Empörung über den Brief, der ihr Leben schon wieder komplett auf den Kopf stellt. Nie wird sie den Blick von Philipp vergessen, ihrem Philipp, der mit seinen drei Jahren nicht verstanden hat, was die Frau, die Mama und ihn manchmal besuchen kommt, und der fremde Mann von ihm wollten, als sie ihn gegen seinen Willen und seinen Widerstand und sein Geschrei aus der Wohnung zerrten, vorbei an der knienden Anna Schäfer, die die Umarmung endlich loslassen musste und mit tränenerstickter Stimme: „Philipp, mein Engel, alles ist gut, das sind liebe Menschen, ihr kommt ja gleich wieder“, ihm ins Ohr flüsterte.

Drei Minuten Ruhe, drei Minuten huschende Lichtreflexe. Das Glas ist längst leer, aber Anna Schäfer hält es immer noch umklammert. Dann, endlich, gibt sie sich einen Ruck, steht auf und macht die Stehlampe an und zieht die Vorhänge zu. Sie geht in die Küche, um sich den Rest vom Hühnchen und dem Gemüse in der Kasserolle aufzuwärmen. Lustlos isst sie, lustlos trinkt sie den Rest Wein, lustlos räumt sie das Geschirr in die Spülmaschine.

Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer bleibt sie vor der Tür zu Philipps Zimmer stehen, zögert, öffnet sie schließlich. Sie setzt sich auf Philipps Bett, nimmt sein Kopfkissen in die Hände und versenkt ihren Kopf hinein, schnüffelt, versucht verzweifelt, seinen Milchgeruch zu riechen. Mit einem lauten Schluchzer bricht ihre so mühsam bewahrte Contenance zusammen, ihr verlässliches Mauerwerk gegen die Unbill, und sie weint hemmungslos die in ihr gestaute Angst und Verzweiflung heraus.

Nachdem sie sich langsam beruhigt hat, knipst sie die kleine Lampe neben dem Bett an und der sich drehende Lampenschirm lässt eine Tierparade aus Elefant, Giraffe, Zebra, Nashorn und einem eine Fontäne sprühenden Wal an den Wänden im Kreis marschieren. Philipps Lieblingsstofftier, ein schon in die Jahre gekommener, fleckiger, ein bisschen räudig aussehender Hase, hatte sie in die Tasche gesteckt, die er mitnehmen durfte. Viel war es nicht: eine Handvoll Wäsche, sein Lieblingspullover, die wichtigsten Autos und der Kran mit dem Magneten. Die anderen Stofftiere sitzen aufgereiht auf dem Regal, die Bilderbücher sind eingeordnet, die Spielsachen in der Kiste. Alles soll so bleiben, damit Philipp es genauso vorfindet, wenn er wiederkommt. Denn, dass er für immer weg sein soll, das kann sie sich einfach nicht vorstellen.

Anna Schäfer hält noch an seiner Rückkehr fest. Trotz des Briefes vom Familiengericht, in dem die Rechtslage und das Urteil eindeutig sind, keinen Spielraum für eine andere Entscheidung zulassen. Und auch das Jugendamt hat, wie sie weiß, keine entgegengesetzte Stellungnahme abgegeben, hat noch nicht einmal den Versuch unternommen, zu würdigen, wie gut es Philipp bei ihr hat. Sie hat diesem Garsting sofort angesehen, dass er sich nicht für sie verwenden würde. Dabei war alles aufs Wunderbarste geregelt. Die Kinderkrippe, das Kindermädchen, wenn sie mal im Café zurückgehalten wurde oder dem Bedürfnis nachgab, einen ihrer Partnerportal-Kontakte kennenzulernen. Philipp schien glücklich zu sein, er hat von Anfang an, gleich nach der Geburt, eine intensive Beziehung zu Anna Schäfer aufbauen können. Als er das erste Mal Mama sagte, weinte sie vor Rührung und Ergriffenheit. Die Sozialarbeiterin, die Philipp betreute, bestätigte ihr jedesmal bei ihren Besuchen, dass es keine Selbstverständlichkeit sei, wie sie ihre Rolle als Pflegemutter ausfülle.

Das Telefon klingelt. Auf dem Display sieht sie, dass es ihre Tochter ist. Sie lässt es noch dreimal klingeln, in der Hoffnung, dass Evi auflegt. Beim vierten Mal nimmt sie den Hörer ab. „Hallo. … Ja hab ich schon gesehen, dass du es bist. … Nein, kannst du dir ja vorstellen, überhaupt nicht gut. … Rechtsanwalt? … Ich weiß nicht, was ein Rechtsanwalt bringen soll. … Wie? Was redest du da? Wie soll ich mich damit abfinden? … Ach, Evi, das ist alles sehr frisch. Ich habe noch keinen klaren Gedanken gefasst. … Nein, auf keinen Fall. … Bleib, wo du bist. Deine Arbeit ist jetzt für dich das wichtigste. … Nein, natürlich komme ich zurecht. … Wirklich nicht. … Du kennst mich doch. … Ja, ich melde mich, wenn es etwas Neues gibt. … Versprochen. … Also, dann Tschüss, Evi.”

Die Nacht verläuft unruhig. Anna Schäfer wälzt sich zwischen Halbschlaf und wirren Träumen dem Morgen entgegen und liegt schon eine Stunde lang wach, bevor um fünf Uhr der Wecker sein seelenloses, digitales Piepen piept. Beinahe erleichtert verlässt sie das Bett.

1. Kapitel

JANINA SIEBERG

Los, quäl dich, noch eine Serie Adduktoren und dann ab in die Sauna und auf die Sonnenbank! Beim Zusammenpressen der Beine zeichnet Janina Sieberg die Kontur der Oberschenkel mit den Augen nach, die der vierköpfige Schenkelmuskel herauspresst.

Nachzeichnen? Nun ja, das ist eher ein Euphemismus für das, was sie wirklich fühlt: Sie ist geradezu verliebt in ihre Beine, verschlingt sie mit den Augen. Schöne, gerade, muskulöse Beine, die sich kaum berühren und dieses kleine Dreieck zwischen den Schenkeln unter der Vulva preisgeben, das heutzutage ein Must-have ist; schmale Fesseln, wohlgeformte Waden, perfekt.

Auch wenn die Kerle, aber nicht nur sie, das Gerät Muschipresse nennen; darüber kann sie nur lachen. Sie weiß, worauf es bei ihrem Körper ankommt, hat einen genauen Plan, was sie trainiert. Fly und Dips für die Brustmuskulatur; sie möchte ja nicht mit vierzig so aussehen wie manche von den Frauen, denen sie in der Sauna begegnet, mit den schlaffen Körpern und den Orangenhaut-Schenkeln. Dagegen kann man doch was machen, also wirklich. Cablecross und Brustpresse, jeweils drei Serien à fünfzehn Wiederholungen. Und gegen eine schlaffe Arschmuskulatur: mein Gott, bei einem Hängehintern helfen ja keine noch so engen Jeans oder Pushup Miederunterhosen. Kniebeugen mit Gewichten, Beinpressen, das ganze Programm.

Janina Sieberg ist zufrieden, als sie gegen zwanzig Uhr das Fitnessstudio verlässt. Die paar Meter nach Hause in die Münzstraße 38 fällt sie in einen leichten, beschwingten Gang, trotz der wohligen Müdigkeit, die sich in ihrem Körper ausgebreitet hat. Die Workouts, zwei- bis dreimal die Woche, nehmen einen festen Platz in ihren Tagesabläufen ein. Am Wochenende kann sie manchmal Stefan überreden mitzukommen. Der fährt aber lieber sein geliebtes Rennrad, und ehrlich, eigentlich geht sie lieber allein ins Studio. Ja, wenn er so aussehen würde wie Boris, und bei dem Gedanken an seinen wirklich sehr austrainierten Körper läuft ihr ein kleiner Schauer über den Rücken, doch so schmal und unmuskulös, wie ihr Mann nun mal trotz seiner Zähigkeit und Ausdauer ist, nee, das muss nicht sein.

Das ist dennoch nicht der Hauptgrund. Sie liebt diese Stunden der Freiheit ohne Familie, des Klatsches mit den anderen Frauen und Männern, ob die neuesten Geräte diese oder jene Muskelgruppen besser oder schlechter aufbauen, oder ob die Eiweißbomben in den großen Büchsen auf den Regalen hinter der Theke etwas bringen, über die ständig wechselnden Fitnessprogramme, über Powerfit und Fatburning und nicht zuletzt über das Who is who und Who is not. Das ist wie Promi-Dinner im TV, herrlich entspannend. Und auch das weiß sie zu schätzen: die Blicke der Männer, die sie zweifelsfrei auf sich zieht. Trotz ihres Alters, wie sie manchmal scherzhaft, immer kokett, gegenüber den anderen Frauen einwirft, und dabei auf den Protest lauert und, wenn er kommt, ihn genießt. Wenn Boris ebenfalls trainiert, sucht sie seine Nähe und mustert ihn unverhohlen und in Gedanken streichelt und befühlt sie seine Muskelstränge, die ausgeprägt und prominent hervortreten.

Bevor sie die Haustür zu ihrer Wohnung aufschließt, lauscht sie einen kleinen Augenblick, die Ohren auf die gegenüberliegende Tür von Boris und Julia gerichtet. Heute ist alles still und das beruhigt sie. Janina mag es nicht, Zeugin der laut ausgetragenen Streitereien zwischen den beiden zu sein. Waren sie in der letzten Zeit mehr geworden? Sie weiß es nicht, eher heftiger; auch nicht, worum es eigentlich bei diesen Eruptionen geht. Darüber schweigen sich Julia und Boris aus, selbst wenn gemeinsame Abende alkoholgetränkt enden. Es ist so, als hielten sie sich an ein stillschweigendes Einverständnis, diszipliniert und durch keinen Rausch zu erschüttern. Schafft sie es einmal, Julia zu überreden, gemeinsam mit ihr um die Häuser zu ziehen, und sie, um Julia aus der Reserve zu locken, mit kleinen Intimitäten aus ihrer Ehe in Vorleistung tritt, blockt Julia Grotewohl ab.

Lass mal“, sagt sie dann, „ist nichts, worüber es sich zu reden lohnt. Manchmal knallt´s eben. Kennst du doch auch.“

Aus dem Wohnzimmer schallt der Fernseher und sie ruft: „Hallo, ich bin´s. Komme gleich. Häng nur schnell meine Sachen auf.“

In der Küche schenkt sie sich ein Glas schönen kalten Chardonnay ein und gesellt sich dann zu ihren Männern. Die sitzen zusammengekuschelt auf der Couch und sehen sich eine Sendung auf einem Kinderkanal an, ohne sich um sie zu kümmern, geschweige denn ihren Kopf nach ihr zu drehen. Sofort fühlt sich Janina Sieberg ausgeschlossen, missachtet, nicht wahrgenommen. Ich bin gar nicht da. Aber so ist es immer, wenn die beiden zusammen sind. Trotzdem möchte sie dieser Stimmung nicht nachgeben, sich nicht die gute Laune nach dem Training verderben. Also nimmt sie einen großen Schluck aus dem Weinglas und lässt sich neben Paul auf die Couch plumpsen.

Was seht ihr denn?“ Der Ton leicht, optimistisch, fröhlich.

Psst Mama, ist gleich zu Ende“, sagt Paul.

Und Stefan hebt kurz den Kopf und sagt: „Hast du Hunger? Spaghetti sind im Kühlschrank.“

Damit ist sie entlassen. Nach einem Moment, der genau zehn abgezählte Atemzüge dauert und ihre Niederlage kaschieren soll, hievt sie sich von der Couch hoch und zwingt sich, leichten Fußes aus dem Zimmer zu gehen. Alltag meiner Ehe. Sie macht sich nichts vor, es ist nur eine Übung in Selbst-Beschwichtigung.

In der Küche wärmt sie sich die Spaghetti in der Mikrowelle auf, obwohl sie eigentlich keinen Appetit hat. Sie hat seit dem Frühstück kaum etwas gegessen, einen Joghurt zwischendurch, und viel zu viel Kaffee getrunken. Und Kohlehydrate am Abend. Sie weiß schon, egal.

Paul müsste schon längst im Bett liegen. Darüber streitet sie mit Stefan. Ständig. Aber das ist nur die halbe Wahrheit: Sie tauscht diese kleine Freiheit, die sich Stefan nimmt, mit Paul über die vereinbarte Zeit hinaus Vater und Sohn zu zelebrieren, für ihre große Freiheit ein, die sie von ihrer Ehe abzwackt. Und das ist nicht nur das Fitnesszentrum, sondern sind auch die Freundinnenabende, die Discobesuche und, und … Eine kleine, aber wichtige Reminiszenz an ihr altes Leben.

Nacht, Mama.“ Paul steht plötzlich vor ihr und reißt sie aus ihren Gedanken.

Soll ich dir noch eine Geschichte vorlesen?“

Nein, Papa bringt mich ins Bett.“

Na, dann schlaf gut, mein Großer.“ Sie nimmt ihren Sohn in den Arm und küsst ihn auf den Mund.

Bäh“, sagt Paul, sich nach hinten biegend, muss aber grinsen. Im Weggehen sagt er, es scheint, als spräche er für sich: „Ich mag nicht mehr mit dem spielen.“

Und Janina Sieberg, die schon nicht mehr genau hinhört, lässt ihn ziehen.

Nach einem weiteren Glas fragt sie sich, wo eigentlich ihr Mann Stefan ist. Der müsste doch so langsam mit der Gute-Nacht-Geschichte durch sein. Und wieder spürt sie diese Eifersucht, jetzt weinseliger und larmoyanter. In dem Augenblick betritt Stefan Sieberg die Küche und setzt sich an den Küchentisch auf den am weitesten von Janina entferntesten Stuhl.

Möchtest du auch?“ Sie hält die fast leere Weinflasche hoch und schwenkt sie ein wenig.

Stefan Sieberg winkt ab, sagt aber nichts.

Was ist? Bist du sauer?“ Janina Sieberg nuschelt.

Ich bin nicht sauer. Musst du so viel trinken?“

Doch bevor sie zu einer Antwort ansetzen kann, natürlich einer scharfen Entgegnung, sagt er: „Ach, ist egal. Das wollt ich gar nicht sagen. Der Kleine war heute hier. Er hat schon wieder so viele blaue Flecken.“

Ist er wieder gefallen, der Arme? Guck nicht so! Julia hat es doch erklärt. Meinst du, die machen sich keine Sorgen?“

Ich weiß nicht, ich finde, er fällt ein bisschen zu oft in der letzten Zeit. Und so apathisch, wie er immer dahockt?“

Stefan, der Junge hat eine Blut, Blut, ach du weißt schon, das mit den roten Blutsdingern.“

Blut…ge…rin…nungs…krank…heit.“ Stefan spricht das Wort Silbe für Silbe aus und es ist ihm anzumerken, wie angespannt er ist. „Und die ewigen Schreiereien? Meinst du nicht auch, der Kleine leidet darunter?“

Mensch Stefan, spinn nicht rum. Die zanken sich. Ja, und? Zanken wir uns etwa nicht? Was hat das mit Philipp zu tun?“

Okay, lass gut sein. Ich bin müde. Ich guck noch ein bisschen fern.“

Ist er müde, weil er müde ist, oder tut er müde, weil er keine Lust hat, mit mir zu sprechen? Janina Sieberg hasst dieses verbale Abwinken. Soll er doch sagen, dass ihn das nervt, dass ich ihn nerve. Ihre Ehe, die Mühsal der Ebene, fällt ihr ein. Irgendwo hat sie das mal aufgeschnappt und sich darin wiedergefunden. Sind sie schon so weit voneinander entfernt, dass die meisten Gespräche im Sande stecken bleiben, der wüstengleich den Teppich zu bilden scheint, auf dem sie inzwischen gelandet sind? Sie spürt ihre Frustration wie galligen Geschmack und ihr Mund verzieht sich zu einem schmalen Strich. Dann eben nicht.

Beim Aufstehen wendet Stefan Sieberg sich noch einmal um: „Und übrigens, Paul weigert sich inzwischen, mit ihm zu spielen. Ich musste ihn mit einem Eis bestechen.“

Paul soll sich nicht so anstellen. Mein Gott, das ist doch nicht zu viel verlangt. Ich rede morgen mit ihm.“

Janina, Paul ist acht und Philipp drei. Zum Kindermädchen ist er zu jung und für gemeinsames Spielen ist er zu alt. Ich versteh ihn.“ Damit wendet er sich endgültig ab und verlässt die Küche.

Versteh ihn, versteh ihn, ja du … du Versteher, du … Nur mich verstehst du leider nicht.“

Sie bleibt noch ein paar Minuten sitzen, dann erhebt sie sich schwerfällig und folgt ihrem Mann auf nicht mehr ganz sicheren Beinen ins Wohnzimmer. Als Stefan Sieberg sie sieht, rückt er zur Seite und sie lässt sich neben ihm nieder. Der Film interessiert sie nicht, die Nähe zu ihrem Mann schon wieder und nach einer Weile lehnt sie ihren Kopf an seine Schulter und ergreift seine Hand. Und so lassen sie, schweigend, unverstanden, aber, wie es scheint, nicht mehr so feindselig, den Abend ausklingen.

Paul nervt. Paul nervt jeden Morgen. Ein mit Brüllen und Drohungen ausgefochtener Kampf zwischen Janina Sieberg und ihrem Sohn um, um … um einfach alles. Der Pullover, den er am Abend noch unbedingt anziehen wollte, ist doof, der Kakao zu heiß, das Müsli schmeckt äh bäh plus Löffel hinschmeißen und Zähneputzen wird zur ultimativen Kampfansage. Janina gewinnt, aber der Preis ist hoch: Immer mehr Nerven bleiben auf der Strecke und ein guter Teil ihrer Unzufriedenheit und ihrer Aggressionen speisen sich aus diesen Morgen. Denn mein Göttergatte läuft. Er braucht das. Und ich, brauch ich das hier?

Er wird erst wieder auftauchen, wenn die beiden sich anschicken, zur Schule zu gehen, Janina Sieberg ihren Sprössling hinter sich herziehend. Partnerschaftliche Arbeitsteilung, an und für sich ein Fortschritt. Wir wollen gerecht sein. Dafür holt er Paul aus dem Hort ab, der den Nachmittag dort mit Hausaufgaben verbringt, kocht abends und spielt mit ihm. Oder oft genug, beaufsichtigt er ihn so gut es geht, wenn er, mit Akten beladen, aus dem Steuerbüro heimkehrt. Gleitzeit heißt das vermaledeite Zauberwort, das ihre Anwesenheit im Stadthaus erst gegen neun Uhr erfordert, und ihr so quasi mit der natürlichen Logik des Sachzwangs den morgendlichen Part zuschustert.

Janina Sieberg, ausgestattet mit dem Verwaltungslehrgang I, mittlerer Dienst, ist zuständig für Liegenschaftsanfragen. Mit zwei Kolleginnen und einem Praktikanten teilt sie Büro und Arbeit. Kein Publikumsverkehr, dementsprechend sieht auch das Büro aus, mit der pflanzlichen und dinglichen Ausstattung aus privaten Vorlieben. Bei der jüngeren, die sie nicht mag, sind es Plüschschweine, bei der älteren, die sie mag, dominieren Familienbilder und Topfpflanzen. Sie selbst liebt es neutral, sachlich. Eine schöne Schreibtischlampe von Artemide und ein Foto in silbernem Rahmen von Paul und Stefan am Strand reichen ihr vollkommen aus. Viel fachliche Kommunikation gibt es nicht, alle Arbeitsabläufe organisieren sich hierarchisch. Was noch? Der übliche Büroklatsch, noch nicht einmal besonders bösartig. Die privaten Kalamitäten bleiben zu Hause. Die Blicke des Praktikanten bemerkt und übersieht sie. So ein Jüngelchen sabbert ja jeder hinterher, die nicht bei drei auf dem Baum ist.

Janina Sieberg fühlt sich im Großen und Ganzen gut aufgehoben und von ihren Kollegen akzeptiert. Sie schneidet bei den jährlichen PEK, der Personalentwicklung Klima, und LOB, der Leistungsorientierten Beurteilung, mit ihrem direkten Vorgesetzten gut ab, eine schnelle Auffassungsgabe wird ihr beschieden.

Sie weiß und kann es gut einordnen, dass sie nicht die aufregendste aller ihr offen stehenden Möglichkeiten gewählt hat. Sicherheit spielte immer eine große Rolle, und spielt sie immer noch. Außen pfui und innen hui, denkt sie, wenn sie ihr altes Partyleben, die schnellen Ficks auf den Toiletten, ihren Drogenkonsum und die Jahre der Clubs mal wieder hervorholt. Sie ist sich sehr darüber bewusst, dass die Huis wie Schulabschluss, Lehre und Festanstellung die Anker waren, die sie an Land hielten und nicht endgültig abdriften ließen.