Kinderjahre
Tag 1 (daheim usw.)
Ich – ein Nichts, oder?
Hallo, ich möchte alle Wissbegierigen (und Voyeure) auf das Herzlichste begrüßen, obwohl ich die Zweitangesprochenen noch um etwas Geduld bitten muss, wenn Sie das folgende Geschehen in ´imaginärer Echtzeit´ erleben möchten: Sie haben dieses Buch keineswegs umsonst gekauft; nein, nein, aber stellen Sie es dann bitte noch für ca. die nächsten 12 bis 13 Jahre in die hintersten Reihen Ihres Bücherregals. denn momentan gibt es von mir noch nichts zu sehen, aber auch rein gar nichts! Vielleicht werden Sie mir später für diesen heißen Tipp einmal sehr dankbar sein, da das Buch dann sicher doppelt so teuer sein wird, weil man sich an mir vergriffen … nein, weil das Buch vielleicht sogar vergriffen ist, was mich (und meinen Verleger erst recht) natürlich sehr freuen würden. Wie gesagt, bin ich z. Zt. gänzlich unsichtbar, d. h. ich schlafe – etwas verzögert – noch seelenruhig, da ich vor gut einer Woche gerade erst ´geboren´ wurde. Meine ´Wirtin´ oder ´Trägerin´ – übrigens ein sehr hübsches Mädchen, so hoffe ich doch – wurde natürlich vom ersten Tag an von hinten und vorn – dort, wo ich später einmal zum Beispiel staunen sein werde – äußerst liebevoll umsorgt, aber um mich schert sich im Moment niemand, geschweige denn, spricht jemand von mir oder erwähnt mich wenigstens nur einmal kurz. Aber alles eben zu seiner Zeit. Warten Sie nur ab! Auch ich komm‘ noch einmal ganz groß heraus.
Wenn ich mich so – verständlicherweise noch etwas schüchtern – umschaue, sehe ich mich nur von lauter Schlafmützen umgeben und frage mich unweigerlich, wofür WIR überhaupt da sind und was aus UNS einmal in ferner Zukunft werden wird. Vielleicht sind WIR ja genauso überflüssig wie der Blinddarm schräg rechts neben mir? Aber ihn hat es deutlich schlimmer erwischt: er ist, im Gegensatz zu mir, blind und wird nie etwas sehen können, nicht einmal mich. Doch mir steht die Welt noch offen, und ich hoffe, dass ich einmal Großes zu sehen bekommen werde. Dicht an dicht stehen WIR hier gut geschützt und noch völlig jungfräulich, also unberührt, unter der dünnen Deckschicht auf unseren späteren Einsatz wartend, und niemand wagt, ein erstes Wort zu erheben. Aber bei solch einem Massenandrang wie auf einem abgeernteten Stoppelfeld bleibt das natürlich über kurz oder lang nicht aus. Und selbstverständlich wird – wie sollte es auch anders sein auf der ganzen Welt! – natürlich erst einmal herum genörgelt und gelästert, selbst hier im Verborgenen.
„Mensch, ist das dunkel hier“, stöhnt eine Nachbarin.
„Stimmt, ich wäre auch lieber im Freien wie zum Beispiel das Haupthaar auf dem Kopf der Kleinen. Ist ja noch ein bisschen dünn, aber zumindest kann man dort etwas sehen und bekommt ausreichend frische Luft!“, stimmt eine andere ihr zu.
Eine Dritte daneben, unsere spätere Lehrerin, empört sich ´altklug´: „Blödsinn, was ihr hier redet! Das Kopfhaar wächst zwar bei unserer Kleinen auf dem Haupt, aber glaubt mit, das Haupthaar ist es deswegen noch lange nicht – und wird es auch nie werden! Selbst, wenn es sich noch so sehr anstrengt. Das sind WIR nämlich! Man traut es UNS nicht zu, aber WIR werden noch viel, ja, eigentlich alles auf der Welt bewegen. Die Kleine wird sich noch ganz schön wundern, und ihre Eltern erst recht, wo sie sich momentan doch gar nicht über die zweieinhalb Kopfhaare in sechs Reihen einkriegen können.“
„Das verstehe ich jetzt nicht mit dem Kopf- und dem Haupthaar“, bemerke ich traurig und etwas wissbegierig.
„Egal, das macht nichts, Süße, das erfährst du später noch früh genug. Sei du erst einmal froh, dass WIR hier unterhalb des Bauchnabels einen relativ schönen warmen Platz im Trockenen erwischt haben! Leider wird man nicht nur auf dem Kopf bei Regen nass, sondern auch weiter südlicher von UNS bilden sich in den nächsten vier bis fünf Jahren ständig tropische Unwetterfronten mit Starkregen und Überschwemmungen, deren Ausläufer auch WIR hier oben im Norden zu spüren bekommen werden. Wenn unsere Eigentümerin älter wird, flaut es langsam ganz ab. Später wirst du dann höchstens noch etwas feucht, glaube mir!“, klärt sie mich liebevoll auf.
„Das begreife ich auch nicht gleich, so kurz nach meiner Geburt“, protestiere ich wiederholt und merke schon, dass ich noch sehr viel lernen muss.
Nach einer Weile rufe ich entsetzt: „Ich glaube, ich bekomme plötzlich aufsteigende Hitze! Mir ist auf einmal so heiß, und meine Stirn ist ganz feucht. Kann das Sumpffieber sein?“
„Beruhige dich, UNS wird Im Moment allen heiß und läuft das Wasser hinunter – oder besser gesagt, es steigt empor. UNS ereilt immer das gleiche Schicksal gemeinsam, und WIR müssen jetzt zusammenhalten. Das ist nur die ersten paar Jahre so, dann lässt es für viele Jahrzehnte nach und kann später im hohen Alter durchaus wieder auftreten. Das nennt sich später dann Inkompetenz … nein, ich meine natürlich Inkonsequenz … nein, ich glaube, es heißt doch eher Impertinenz … äh, aber so ähnlich jedenfalls. Für die jetzigen Unannehmlichkeiten wirst du aber gleich zum ersten Mal unsere Eltern – zumindest verschwommen – erblicken. Freu´ dich schon einmal darauf. Und fünf Minuten danach fühlst du dich nach so kurzer Lebenszeit schon wieder wie neugeboren, nachdem WIR trockengelegt wurden.“
„Da bin ich aber gespannt“, begeistere ich mich erwartungsvoll, doch zuvor bewegt sich unter UNS der Mutterboden noch sehr heftig, und es wird furchtbar laut, sodass ich mich wundere, dass aus solch einem kleinen Körper so ein schriller Laut hervordringen kann – schlimmer noch als ein Nebelhorn im November im Hamburger Hafen. Dann wird es endlich Licht, und ich erblicke durch die Bauchdecke verschwommen zwei Augenpaare, die mich liebevoll anlächeln. Sie scheinen sich schizophrenerweise über den angerichteten Wasserschaden auch noch zu freuen, sodass ich mich spontan zu der Frage genötigt sehe: „Warum grinsen die so blöde? Haben WIR etwa verrückte Eltern zugeteilt bekommen?“
„Nein, nein! Das ist völlig normal, da die Kleine die Blase noch nicht so kontrollieren kann wie ein Erwachsener, und darüber freuen die Eltern sich nun einmal riesig.“
„Was, darüber? Also sind sie doch leicht verrückt?“
„Nein, nein, sie freuen sich eben nur, dass alle Körperfunktionen richtig arbeiten.“
„Kann sie mit der Blase auch blasen?“
„Nein, nein, damit nicht, aber … das verstehst du später erst. Wie gesagt, manchmal haben auch Erwachsene im hohen Alter noch Schwierigkeiten mit ihrem … äh, ihren Blasen natürlich. Hier unten – musst du wissen – ist außerdem sozusagen der Brennpunkt allen Lebens – die weibliche Schalt- und Machtzentrale –, nicht nur heute, sondern auch später, wenn du älter bist und alles selbst sehen kannst. Das ist nicht nur für den Mann äußerst erregend … äh, aufregend, sondern wird auch dir Spaß machen!“
„Aber Regierungszentren sind doch meistens in großen Gebäuden untergebracht“, wende ich ein.
„Das schon, WIR arbeiten aber aus Sicherheitsgründen meistens verdeckt und unauffällig.“
„Gibt es in unserem Schaltzentrum auch Hebel?“
„Ja, manchmal viele und manchmal nur wenige sehr große, aber mit denen kommst du erst später in Berührung.“
„Spaß werde ich hier aber niemals haben“, entgegnete ich enttäuscht. „Was soll es hier unten – sozusagen am Auspuff und nahe der Kläranlage der Kleinen, also am schmutzigsten Körperbereich – schon Interessantes zu sehen geben und zugleich auch noch Freude bereiten?“
„Vertrau´ mir einfach, Süße. Dafür, dass WIR tagelang eingeschlossen hier im Dunkeln auf unseren großen Auftritt warten, sind WIR äußerst nacktaktiv … äh, ich meine natürlich nachtaktiv und werden oft nicht nur zu dieser Zeit fürstlich für unsere ewige Warterei und sonstigen Nachteile entlohnt.“
„Das kann ich mir gar nicht vorstellen.“
Nach einer Weile entfährt es mir: „Mhm, das tut gut!“ Ich fühle sanfte zarte Frauenhände, die mich mit warmem Wasser abwaschen, dann einfetten und zum Schluss pudern (inkl. parfümieren). „Das riecht aber gut“, komme ich nicht umhin, zu loben – und im nächsten Moment ist es auch schon wieder dunkel.
„Du musst dich ein bisschen mit deinen Ausdrücken von vorhin zügeln, Kleines, und auch etwas geduldiger in deiner Jugend werden und die Ruhe bewahren; denn ungeduldig werden später vor allen Dingen deine männlichen großen Freunde werden, wenn sie dir von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen …“
„Noch mehr Freunde?“, frage ich, „ihr seid doch schon so viele.“
„Ja, etwas andere – auch so große, aber du wirst sie an dem etwas anderen, herberen Geruch in ihrem Umfeld sofort erkennen.“
„Die will ich nicht haben“, antworte ich trotzig, „mein jetziger Duft gefällt mir sehr, sehr gut.“
„Kleine, auch deine Umgebung wird später einmal – sogar ohne Parfüm – anders riechen, und ich kann dir versprechen, dass du den anderen Duft noch stärker lieben wirst. Außerdem kannst du dich noch so viel waschen, wie du willst, UNSER unwiderstehlicher Eigengeruch wird immer wieder durchkommen und die Oberhand gewinnen.“
„Trotzdem, werden die anderen mich – schlecht gewaschen – auch noch mögen?“
„Genau, gerade deswegen, warte es einfach ab! Du wirst später noch an mich dankbar zurückdenken.“
Besinnlich ziehe ich mich zurück. So viel Neues schon am ersten Tag ist fast etwas zu viel für mich.